Werbeplakat der Grameen-Bank des Friedensnobelpreisträgers Muhammad Yunus in Bangladesch; Foto: Gerhard Klas

»Verschuldung verhindert politische Aktivierung«

Mikrokredite gehören zu den wichtigsten Instrumenten der Entwicklungshilfe im globalen Süden. Im Interview erklären der Kölner Journalist Gerhard Klas und der Politikwissenschaftler Philip Mader, wie die Mikrofinanzindus­trie mit Armut spekuliert und warum Mikrokredite demnächst auch in Europa eine größere Rolle spielen könnten

 

Herr Klas, Herr Mader, in der Theorie sollen Mikrokredite einkommensschwachen Menschen den sozialen Aufstieg ermöglichen. Sie kritisieren die Mikrofinanzbranche heftig — warum?

 

Gerhard Klas: Die Idee bei Mikrokrediten ist, dass Frauen — denn vor allem um sie geht es — aus der Armut befreit werden, indem man ihnen Kredite gewährt. Wenn man »Kredite« aber durch »Schulden« ersetzt, denn um nichts anderes handelt es sich, dann wird das Ganze absurd. Wie soll es gelingen, sich mit Schulden aus der Armut zu befreien?

 

Das heißt, die Mikrokredite sorgen vor allem für eine hohe Verschuldung der Menschen?

 

Klas: Der weltweite durchschnittliche Zinssatz für Mikrokredite lag 2008 bei 35 Prozent, die Rückzahlung muss zumeist wöchentlich passieren. Die Menschen können ihre Schulden in den meisten Fällen nicht begleichen. Sie müssen dann noch mehr Kredite bei konkurrierenden Mikrofinanzbanken aufnehmen, um die anderen zurückzahlen zu können, oder ihr Hab und Gut verkaufen. In den Ländern des globalen Südens gibt es keine gesetzliche Pfändungsgrenze. Die Gläubiger haben Zugriff auf alles, bis hin zu den Kindern, den Ländereien, dem Vieh.

 

Philip Mader: Viele Schuldner in Bangladesch und Indien haben mittlerweile vier bis fünf Kredite von unterschiedlichen Instituten. Die nehmen immer mehr Kredite auf, um die Raten zurückzahlen zu können. Das führt zu einer riesigen Spirale von Schulden. In Indien gab es vor zwei Jahren eine regelrechte Selbstmordwelle von Menschen, die hoffnungslos mit Mikrokrediten verschuldet waren.

 

Helfen die Mikrokredite denn wenigstens einem Teil der Menschen aus der Armut?

 

Klas: Tatsächlich profitieren schätzungsweise fünf bis zehn Prozent der Kreditnehmerinnen. Aber das sind in der Regel Menschen, die entweder schon über andere Einkommensquellen verfügen oder — das ist eine der jüngsten Entwicklungen — das Geld selber wieder zu einem höheren Zinssatz weiter verleihen.

 

Mader: Trotzdem wird aus den relativ wenigen Erfolgsfällen das Bild eines funktionierenden Entwicklungskonzepts gemacht. Das ist, als würde man vor einem Casino die paar Leute interviewen, die mit einem Gewinn herausgehen, und daraus die Forderung ableiten: Wir sollten mehr Glücksspiel fördern!

 

Gibt es vor der Vergabe eine Kontrolle, ob sich die geplante Investition auch lohnt?

 

Mader: Was der Mikrokredit leistet, wenn er denn überhaupt für ein Geschäft eingesetzt wird und nicht zum schlichten Überleben dient, ist zumeist noch weitere Unternehmen in schon gesättigten Märkten anzusiedeln. Das ist so, wie in Köln jedem Arbeitslosen zu sagen: Werde Kleinunternehmer, du hast keine Rechte auf soziale Unterstützung, mach stattdessen ein Büdchen auf!

 

Trotzdem spielen Mikrokredite eine wichtige Rolle in der Entwicklungshilfe. Warum?

 

Klas: In den Strategiepapieren der Weltbank von 2007 steht, dass der private Sektor nicht die Ressourcen der Armen ignorieren solle. Die Ressourcen hat man beziffert auf 5000 Milliarden Euro. Die sollen in Wert gesetzt werden. Das geht nur, wenn man die Armen  in den Markt einbindet. Und da kommt die Mikrofinanz ins Spiel.

 

Mader: Dahinter steht das Prinzip der »Financial Inclusion.« Die Mikrofinanzindustrie erweitert die internationalen Finanzmärkte unter dem Vorwand der Armutsreduktion um die bisher nicht kreditwürdigen Menschen, die Armen in den Slums und Dörfern des globalen Südens. Die werden nicht in Sozialsysteme inkludiert, oder in das Bildungssystem oder ein öffentliches Gesundheitssystem, sondern nur in den Finanzmarkt.

 

Das klingt, als stünde dahinter tatsächlich ein Plan.

 

Mader: Das ist keine Verschwörung, aber eine Überschneidung gewisser Logiken. Es ist frappierend, dass in vielen Ländern die Mikrofinanzprogramme gestartet wurden, als die staatliche Versorgung zurückgeschraubt wurde. In den 70ern und 80ern sind viele soziale Sicherungssysteme abgebaut und Finanzmärkte liberalisiert und dereguliert worden. Der Kredit ist als Kompensations-mechanismus genutzt worden, um die Ansprüche, die in einem weniger umverteilenden Staat nicht mehr realisiert werden konnten, aufzufangen. Der Mikrokredit ist die Ausprägung dessen in den Ländern des Südens.

 

Klas: Die Mikrofinanz ist eine konsequente Fortsetzung der neoliberalen Politik in den 1980er und 90er Jahren. Im Zuge der internationalen Handelspolitik und der Öffnung der Märkte kam es auch zur Enteignung kleinbäuerlicher Selbstversorger. In den Agrargesellschaften Asiens, Afrikas und Lateinamerikas zerstörte das Millionen von Existenzen, die nicht mehr in der Lage waren, sich von den eigenen Feldfrüchten zu ernähren. Das bedeutet: Die Menschen brauchen Bargeld — zum Beispiel Mikrokredite —, um ihr tägliches Überleben zu organisieren.

 

Was ist denn Ihre Forderung: ein Ende des Mikrokreditsystems oder eine stärkere Regulierung der Branche?

 

Mader: Im Prinzip müsste man eine aufs mindeste reduzierte Mikrofinanzindustrie fordern. Aber das wäre an sich keine Lösung. Fakt ist: Probleme der wirtschaftlichen Entwicklung kann man nicht durch Schulden lösen. Man braucht stärkere öffentliche Versorgung.

 

Klas: Die Mikrofinanz erweckt den Eindruck, als könne man ohne Umverteilung die Armut bekämpfen. Der Zusammenhang zwischen Armut und Reichtum wird vollständig ausgeblendet.

 

Auch in Deutschland gibt es seit 2010 einen staatlich geförderten Mikrofinanzfond. Ist zu erwarten, dass die Bedeutung von Mikrokrediten auch in Europa zunimmt?

 

Klas: Mittlerweile werden mit Unterstützung der EU-Kommission und der europäischen Investitionsbank in vielen europäischen Ländern Mikrofinanzprogramme aufgelegt. In Griechenland, in Spanien, in Frankreich. Und der Mikrokreditfonds Deutschland wurde Anfang 2010 zeitgleich mit der Senkung des Gründungszuschusses für Erwerbslose um eine Milliarde Euro beworben. Ein Erwerbsloser, der sich selbständig machen will, soll heute also einen Mikrokredit aufnehmen. Mit dem Unterschied: Der Gründungszuschuss musste nicht zurückgezahlt werden. Beim Mikrokreditfonds werden für Kredite bis 20.000 Euro 8,9 Prozent Zinsen fällig.

 

Mader: Mikrokredite sind immer dort eingeführt worden, wo Länder in Zahlungsnöte geraten sind, wo riesige Austeritätsprogramme durchgeführt wurden, auch, um soziale Proteste zu beschwichtigen und Leute mehr in Konkurrenz zueinander zu bringen. In Bangladesch ist es heute schwierig, Menschen gegen soziale Missstände zu mobilisieren, weil fast jeder bei mindestens einer Mikrofinanzinstitution verschuldet ist. Diese Verschuldung verhindert die politische Aktivierung. Wir sollten da unbedingt ein Auge auf Südeuropa haben. Da werden, wenn es so weitergeht, auch verstärkt Mikrokredite vergeben.

 

 

 

Mikrokredite sind Kleinstkredite von einem Euro bis zu 1000 Euro, die an einkommensschwache Menschen im globalen Süden vergeben werden, die normalerweise keinen Zugang zu regulären Bankkrediten haben. Die Idee wird dem Ökonomen Muhammad Yunus aus Bangladesch zugeschrieben, der 2006 dafür mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet wurde. Der Mikrofinanzsektor wird in Milliardenhöhe unterstützt, unter anderem von der Weltbank und der deutschen Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW).

 

Philip Mader, 28 Jahre alt, ist -Forscher am Kölner Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung. 2012 reichte er an der Uni Köln seine Doktorarbeit mit dem Titel »Financialising poverty. The transnational political -economy of microfinance’s rise and crises«ein. 

 

Gerhard Klas, 45 Jahre alt. Der Kölner Hörfunk-Journalist arbeitet seit 2007 zu Mikrokrediten und ist Autor des Buchs »Die Mikrofinanz-Industrie. Die große Illusion oder das Geschäft mit der Armut«.