Nettigkeit und Aufbegehren

Antifolk – ein verschrobener Begriff, auf den sich aber immer mehr gelangweilte Musikjournalisten und Pophörer einigen können.

Was für Musik, welche Bands und welches sozio-kulturelle Umfeld verbirgt sich dahinter?

Als die Moldy Peaches im Frühjahr auf Europatour kamen, war das Publikum noch gar nicht richtig vorbereitet. Die wenigsten wussten zu diesem Zeitpunkt, dass sich hinter der Bezeichnung Antifolk, mit der die Band ihre Musik charakterisiert, eine vor allem in New York weit verzweigte Szene verbirgt, die noch einmal alle Tugenden des alten Independent- und Do-It-Yourself-Gedankens wiederbelebt hat. Es geht dabei um nicht weniger als die Rückkehr des Songs oder anders gesagt: um die Überwindung der über die letzten Jahre zumindest rhetorisch gepflegten »Krise des Songs«.
Im Vorfeld ihrer Tour wurden die Moldy Peaches immer wieder mit den Strokes in Verbindung gebracht, mit denen sie in den USA schon häufig aufgetreten sind. Tatsächlich gibt es einen gegenseitigen Respekt, doch Antifolk hat nichts mit der Rückkehr zu »ehrlicher« Rockmusik zu tun. Vergleichbar mit der Poetry-Slam-Szene geht es hier vielmehr um Selbstaneignung, um das offene Mikrophon für alle. Um einen demokratischen Ansatz mit allen damit verbundenen Peinlichkeiten und Patzern, die aber nicht notgedrungen unsympathisch und schon gar nicht immer peinlich sein müssen. Schließlich wirkt der ernste Gestus oft viel peinlicher als der, bei dem jemand auf der Bühne seinen Text vergisst und darüber zu lachen anfängt. »Antifolk«, erzählt Adam Green von den Moldy Peaches, ein Meister im Text-Vergessen, »meint erst einmal, dass alle daran teilhaben können. Es gibt keine Ausgrenzung. Aber natürlich gibt es dadurch auch schlechte Künstler.« Das wiederum – und nicht nur das – hat Antifolk mit dem Punk von einst gemeinsam. Austragungsort und Talentschuppen sind vor allem das »Sidewalk Cafe« und »The Raven« in New York, jeden Sommer findet außerdem im Thompkins Square Park ein Antifolk-Festival statt.
Vertraut man der linearen Geschichtsschreibung, dann ist Antifolk schon ziemlich alt, geht auf einen Begriff zurück, den der Songwriter Lach zu Beginn der 80er Jahre geprägt hat, als seine zwar akustische, aber von Punk inspirierte Musik aus dem Programm der gängigen Festivals ausgeschlossen wurde. »Falls das Folk ist«, rief er wütend auf dem New York Folk Festival aus, »dann bin ich Antifolk!« Mit Lach und seiner Idee einer losen, sich selbst organisierenden Szene wurden Musiker wie Cindy Lee Berryhill,
Roger Manning und Michelle Shocked assoziiert.
Aber reichen diese Namen wirklich aus, von einer eigenen Bewegung reden zu können, die sich gravierend gegenüber herkömmlichem Folk unterscheidet? Wohl kaum. Auch wenn sie aus dem Ur-Antifolk, den »Open-Stage-Sessions« (auf denen übrigens auch Beck seine ersten musikalischen Gehversuche machte), hervorgegangen sind, ist vieles aus der ersten Generation musikalisch wie textlich eher konventionell. Erst in den letzten drei Jahren hat sich in der Szene eine neue Gruppierung eingenistet. Ihre Frechheit, ihre musikalische Unbekümmertheit, verbunden mit Witz, Provokation und dem sensiblen Händchen für – oft inszenierten – Dilettantismus, aber auch für eine neue Sensibilität im Umgang mit private polictics haben dafür
gesorgt, dass Antifolk heute mit seinem beinahe manifesthaften Auftreten als tatsächliche neue
Bewegung in der ansonsten eher zersplittert Independent-Szene gelten darf. Seth Herbert, Sänger von Dufus, schränkt deshalb ein: »Die eigentliche Bewegung ist noch relativ jung und hat wenig mit dem zu tun, was Lach vor über zehn Jahren ins Leben rief. So komisch es sich anhören mag, aber es scheint geradewegs so, als ob hier zwei völlig unterschiedliche Szenen unter ein- und demselben Namen nebeneinander existieren würden.«
Das Mody-Peaches-Duo Adam Green und Kimya
Dawson hat nun für Rough Trade den Sampler »Antifolk Vol. 1« zusammengestellt, eine Chance, die weit verzweigte Szene in Europa erstmals kennen zu lernen. Auf dem Sampler ist auch ein Stück von Lach vertreten, doch es handelt sich – sorry – um die langweiligste, weil musikalisch konventionellste Nummer und fällt mit Abstand aus dem Gesamtkonzept heraus. Also doch – zwei Szenen? Sprechen wir von der Zweiten.
Wie in jeder lebendigen Subkultur sind alle mit allen verstrickt, spielen miteinander, treten in den verschiedensten Formationen gemeinsam auf. So lässt sich fast die komplette Szene anhand der aktuellen, sechsköpfigen Besetzung der Moldy Peaches über ein bis zwei Ecken rekonstruieren, ohne dass die Moldy Peaches deshalb ihr Mittelpunkt wären. Schlagzeuger Strictly Beats trommelt unter anderem auch bei den bereits erwähnten Dufus, eine aus der experimentellen Theaterszene hervorgegangene Band. Ihre durchweg quere, opulent instrumentierte Musik mit Songtiteln wie »Fun Wearing Underwear« klingt wie ein Mix aus The Fugs, dem Sun Ra Orchestra, den Mothers of Invention und Bobby Conn, vorangetrieben von einem Sänger mit der stimmlichen Präsenz von Freddy Mercury. Moldy-Peaches-Gitarrist Toby Goodshank hat bereits sieben (!) Solo-CDs veröffentlicht, die den klassischen Indie-Pop der Pixies und Violent Femmes aufs Wohnzimmer-Format reduziert haben und ihn in dieser Intimität davor bewahren, nach Dinosaurier-Musik zu klingen. Seine CDs werden von Olive Juice Records vertrieben, dem Label des in New York ansässigen Major Matt Mason USA, der die Szene historisch folgendermaßen charakterisiert: »Wir alle sind im Schatten der idealistischen 60er und der Hardcore-Rebellion der 70er Jahre aufgewachsen. Wir haben die apathischen, geldgierigen 80er und 90er überdauert. Jetzt ist unsere Zeit gekommen!«
Diese Einschätzung haut zwar zeitlich nicht hin – Musiker wie Adam Green und Jeffrey Lewis sind gerade mal Anfang bis Mitte 20 –, sehr wohl aber inhaltlich: Einerseits vom Punk und von Veteranen der »Schräg«-Musik wie Jad Fair und Daniel Johnston her kommend, belebt Antifolk zugleich auch all das aus den Sixties wieder, was den Musikern erhaltenswert erscheint: Bob Dylan beispielsweise, Leonard Cohen und Allen Ginsberg, aber auch die von Adam Green und Jeffrey Lewis heiß geliebten Grateful Dead. Diese Generation hat ein unbekümmertes Verhältnis zur Vergangenheit und überwindet damit den alten, längst obsoleten Punk/Hippie-Zwist. Ihr geht es nicht mehr – wie einst dem Punk – darum, die Kaputtheit der Welt rauszuschreien, sondern auf sie als ein neuer Typ von Musiker und Künstler zu reagieren, also mit einer Form von fast schon irrealer, provozierender Nettigkeit. »Ich kann an gar nichts mehr glauben«, fasst Kimya Dawson diese Haltung zusammen, »nur noch daran, nett zu sein.«
Nach ihren Konzerten umarmen die Moldy Peaches regelmäßig ihre Gäste mit stoischer Ruhe. All das bedeutet mehr – und vor allem anderes – als einfach nur die Rückkehr des Hippietums. Hier geht es um nichts geringeres als die Rückkehr von Love & Peace aus der Erfahrung von Punk, um eine reflektierte Inszenierung, in der die Melancholie gescheiterter und unverwirklichter Utopien als historisches Wissen transportiert wird.
Der Trick liegt also darin, dass die aufgebaute Authentizität und Intimität alles andere als »rein« sind: »My Mouth Is a Liar«, singt Adam Green auf seiner
Solo-CD. Das Erzählerische gibt sich als bloßes Konstrukt zu erkennen, überall lauern Brüche. Selbst »Monte Carlo« von Diane Cluck, der musikalisch vielleicht altmodischste Song auf dem Antifolk-Sampler, wartet mit Textzeilen auf, wie sie Joni Mitchell niemals gesungen hätte. Nachts besetzt die Erzählerin einen Leuchtturm und berichtet von dem Spaß, sämtliche Schiffe kentern zu lassen. Boshaftigkeit und Liebreiz liegen bei dieser Generation dicht beieinander. Die
daraus resultierende Verwirrung geht über alte, auf Leid und Wut abonnierte Subkulturen wie Grunge weit hinaus. Doch gerade das Uneigentliche, Fiktive und Augenzwinkernde sorgt hier für das Gefühl von Befreiung.
»Antifolk Vol. 1« ist auf Rough Trade (Sanctuary/
Zomba) erschienen.