Die Tudor-Dynastie

Man muss nicht wissen, was das ist, um zu wissen, wie das klingt: Thymolphthalein

Kann jemand diesen Namen aussprechen? Thymolphthalein. Oder schreiben? Selbst in der Ankündigung des Stadtgartens, wo eines der seltenen Konzerte dieses außer-gewöhnlichen Quintetts stattfindet, hat sich das Fehlerteufelchen eingeschlichen. Wer so heißt, schielt auf keinerlei kommerzielle Bestätigung, und tatsächlich ist diese Gruppe vielmehr ein Projekt, eine Fantasie des australischen Pianisten und Elektronikers Anthony Pateras, der vor drei Jahren eine internationale Combo Elektroakustiker zusammentrommelte und mit ihnen einen ziemlich wilden Auftritt beim New Jazz Meeting des SWR absolvierte. So wild, dass ihn das Wiener Label Mego, die unumschränkten Herrscher auf dem Feld des Elektro-Drone-Glich-Krachs, auf LP bannte.

 

Pateras und mit ihm Clayon Thomas (Kontrabass), Will Guthrie (Percussion), Natasha Anderson (Kontrabassflöte, Elektronik) und Jérôme Noetinger (Bandmaschinen, Elektronik) spielen eine Musik, die vordergründig alle Standards der modernen Improvisation des Post-Free-Jazz-Kontinuums erfüllt: Es raschelt und rumpelt, knistert, pfeift und raunt, mal prescht einer vor (Warum?), dann bricht die Dynamik komplett weg, aber am Ende ergibt doch alles einen Sinn, fügt sich zu einem kohärenten Gesamtbild. Nur: Thymolphthalein agieren radikal doppelbödig, es ist nämlich gar nicht klar, ob die Geräusche resp. die Interaktionen »echt« sind, also in Echtzeit gespielt, oder ob es sich um Tape-Einspielungen handelt. Es ist in der Tat eine spannende Frage, ob die Musiker untereinander agieren oder primär auf die Einspielungen, die »fremde« Elektronik reagieren. Man kann gar nicht anders, als beim Hören sich auf diese Doppelbödigkeit einzulassen, immer wieder wird einem die Dekonstruktion einer Improvisation vorgeführt — die sich freilich ihrerseits als Improvisation entpuppt. Ein verblüffendes Spiegelbild.

 

Das sollte Anlass genug sein für einen Exkurs, denn Thymolphthalein stellen sich strenggenommen abseits der Improvisierten Musik, paradoxerweise ohne sie hinter sich zu lassen, und wildern im Feld der elektronischen Neuen Musik. Dort tut man sich noch immer schwer mit der Improvi-sation, was aber einer Selbstverleugnung gleichkommt. Steigen wir kurz in die Geschichte ein. 

 

Schon landen wir bei David Tudor, dem  Pianisten der New Yorker Schule, der in den 50er Jahren die heute kanonisierten und damals zutiefst verstörenden Werke von John Cage oder Morton Feldman zur Aufführung brachte. Es kursiert die Anekdote, wonach einem der Komponisten das Ungeschick unterläuft, eine Geschenkpackung mit edlen Gewürzen fallen zu lassen, worauf die Döschen zerspringen und sich die Gewürze vermischen. Tudor soll ohne großes Aufheben sich an die unmögliche Sisyphosarbeit gemacht haben, die Körnchen zu sortieren. Erfolgreich. Kann ich sonst noch was für dich tun? Tudor, ein unprätentiöser Meister des Unmöglichen und ein Genie der Hingabe — und des Sinnlosen. Diese Anekdote will natürlich etwas über den Musiker aus-sagen, der prinzipiell unspielbare Stücke doch durchdrungen habe. Aber offensichtlich wird diese Anekdote nicht auf das gesamte Schaffen des 1996 viel zu früh verstorbenen Klangforschers bezogen. Denn die ihm völlig zu recht zugeschriebenen Eigenschaften — Lust am Unmöglichen, Präzisionswut in den Gefilden des Ungefähren — tref-fen auch auf den Improvisatoren zu. Tudor, der Interpret Neuer Mu-sik, hatte viel von einem Improvisatoren, und das will was heißen in einer Szene, in der sich die Komponisten Neuer Musik vor der Improvisation fürchten wie der Teufel vor der Steuererklärung. Um es offen zu sagen: Tudor war ein Improvisator! Aber das sagte natürlich keiner offen, Tudor übrigens auch nicht. Zu Beginn der 60er Jahre wandte er sich vom Piano ab und konzentrierte sich auf die Live-Elektronik, er half bei der Konstruktion von Analogsynthesizern, die ganz seinen Spielbedürfnissen entsprachen. Seine Stücke tragen zwar Titel, de facto sind es aber Improvisationen, wenn auch rückgebunden an gewisse Parameter.

 

Das Tabu, dass Neue Musik improvisiert sein kann (und es in weiten Teil auch ist), ist längst angekratzt — aber die Abgrenzungen funktionieren noch immer. Tudor gilt als Pionier elektronischer Musik, als Klangforscher, und das war es dann. Umgekehrt werden Improvisatoren für ihren Wagemut, ihr Gespür fürs Kollektive gelobt, aber den Pionier- oder Forscherstatus gestehen ihnen Musikwissenschaft und Fördergremien viel zu selten zu.

 

Man kann sagen, dass Thymolphthalein ein äußerst überzeugendes Versöhnungsangebot vorlegen. Die Behauptung sei gewagt: Tudor, der mit den legendären Combos MEV und AMM immer mal wieder kollektiv zu improvisieren wagte, wäre bei ihnen eingestiegen. Thymolphthaleins Musik ist konstruiert und ungezügelt, spielt mit den Klischees der Improvisation, um sie an den Klischees der Neuen Musik zu brechen, und umgekehrt. Das eine wird durch das andere ge-pusht, regeneriert, nach vorne getrieben. Ihre Musik klingt zugleich alt (nach den 70ern) und neu (nach einer dieser Mego-Veröffentlichungen, natürlich). Einziger Wermutstropfen ist, dass sie kaum kontinuierlich zusammenarbeiten können. Sie sollten ein Stipendium bekommen.

 

Ach so, Thymolphthalein. Was ist das? Darauf möchte ich mit der allerdings überzeugenden Floskel eines Piraten-Politikers antworten: Ich muss nicht alles wissen, ich muss den Begriff nur in die Google-Suchmaschine eingeben.