Foto: Manfred Wegener

Der lange Marsch ins Kochstudio

1968 und die Folgen: Der Kölner Autor Joachim Geil fragt in »Tischlers Auftritt« nach dem richtigen Leben im Falschen

Dieser Autor hat Mut. Joachim Geil schreibt über neuralgische Themen der deutschen Vergangenheit, die allgemein schon als abgehandelt gelten. Sein Debüt »Heimaturlaub« von 2010 handelte von einem jungen Wehrmachtssoldaten, der an der Ostfront ungewollt zum Kriegsverbrecher wird. Zweiter Weltkrieg, Hitler, deutscher Endkampf und deutsche Schuld: eigentlich kannte man das alles ja schon zur Genüge – angefangen bei Günter Grass bis hin zur History-Show von Guido Knopp. Und doch las sich »Heimaturlaub« dann noch einmal ganz anders, weil dieser Roman aus der Täterperspektive erzählt, wie schnell im Krieg aus einem gutmütigen Mitläufer ein Mörder wird, was angesichts aktueller Kampfeinsätze in Afghanistan plötzlich beunruhigend zeitlos wirkte.

 

Auch in seinem neuen Roman »Tischlers Auftritt« packt der 1970 geborene Autor wieder ein heißes Eisen der jüngeren Geschichte an: die 68er-Revolte. Ein Thema, über das bisher vor allem Achtundsechziger selbst geschrieben haben, etwa Uwe Timm, Peter Schneider oder Erasmus Schöfer. 1968 ist Generations-besetztes Terrain. Doch gerade das fand Geil interessant: »Abgesehen von Uwe Timm sind die meisten Titel, die ich über diese Zeit kenne, Bekenntnisromane nach dem Motto: ‚Ich war dabei, und das war schon ganz toll!’«, sagt er, und glaubt: »Viele Achtundsechziger sind heute oft geradezu militant damit beschäftigt, den eigenen Mythos zu verwalten. Die können sich anscheinend nicht aus ihrem emotionalen Korsett von damals befreien.«

 

Um herauszufinden, was wirklich »echt« am Mythos ist, präsentiert Geil mit seinem neuen Helden Ernst Ewald Tischler eine gebrochene Figur. Einerseits nämlich ist »Ernesto«, wie er von Freunden genannt wird, ein typischer APO-Veteran, der ständig seine eigenen (mitunter frei erfundenen) Heldentaten beschwört. Andererseits aber beurteilt er die einstige Studentenrevolte durchaus skeptisch und ahnt früh, dass deren Wortführer in Wahrheit oft weniger an der kollektiven Befreiung als am privaten »Schwanzvergleich« interessiert waren. Oder, wie Tischler seinem besten Freund Ulf erklärt: »Weißt du, ich habe all diese Kackärsche satt, die sich in Grüppchen organisieren, irgendwelche bürokratischen Regeln aufstellen, sich zu Kadern erklären und dann die anderen abkanzeln. Dieses ganze maoistische Pack. Alles autoritäre Strukturen, und ich bin gegen autoritäre Strukturen.«

 

Genauso wie sein Vorläufer in »Heimaturlaub«, der Wehrmachtsleutnant Dieter Thomas, ist auch Tischler zunächst ein naiver Junge aus der pfälzischen Provinz, der zufällig in den Sog der Geschichte hineingerät. Doch anders als jener wird aus dem Revoluzzer kein willfähriger Ideologe. Nachdem er sich an der Uni in die linksradikale Uschi verguckt hat, läuft er zwar ihr zuliebe auf Demos mit, kifft und tritt einer agitatorischen Theatergruppe bei. Doch trotz aller Begeisterung für Uschi, Adorno und den Klassenkampf bleibt Tischler stets Gewalt- und Autoritätsverächter. Auch deshalb, weil er schnell erkennt, dass die Empörung oft nur Pose ist. »Für mich ist 68 weniger eine politische, sondern vielmehr eine ästhetische Bewegung«, meint Geil dazu. »Viele fanden den Style damals einfach cool. Die haben sich an Rollenbildern aus der Popmusik oder dem französischen oder amerikanischen Kino orientiert. Man denke etwa an Andreas Baader, der sich aufführte wie ‚Django’ aus dem Italowestern.«

 

Während Uschi bald sogar in den bewaffneten Untergrund abtaucht, wahrt Tischler durchgehend kritische Distanz. So ist er von Anfang an mehr Nonkonformist als Aktivist. Und wird auf dem Marsch durch die Institutionen – zuerst als Radioredakteur, später als intellektueller Kochbuchautor – zunehmend desillusionierter, schließlich krebskrank. Die ehemaligen Barrikadenkämpfer machen im System Karriere, und die turbokapitalistische Gegenwart steckt voller »Konsumtierchen«, resümiert der gealterte Tischler als 61-Jährige enttäuscht. Und probt kurz vor seinem Tod dann ausgerechnet in einer Fernsehkochshow noch einmal den großen Aufstand, indem er für einen Eklat sorgt.

 

Überhaupt spielen Essen und Verdauung auch in diesem Roman von Joachim Geil wieder eine wichtige Rolle. »Die Vorstellung von einem körperlosen Erkennen halte ich für absurd«, so der Autor im Gespräch. »Meiner Meinung nach reagieren Magen und Darm fast untrüglicher auf Erlebnisse als Herz und Hirn. Sie sind nicht so leicht manipulierbar.« Schon der traumatisierte Wehrmachtssoldat Dieter musste sich deshalb ausgerechnet beim Treffen mit der Geliebten übergeben, weil ihn die Schreckensbilder des Krieges im Titelspendenden Heimaturlaub nicht losließen. Dem »Naschrebellen« Tischler schlagen die 68er-Wirren nun ebenfalls oft auf den Magen, und sein Sinnbild fürs Glück ist bezeichnen-derweise der mütterliche Zwetschgenkuchen. Nach diesem Geschmackserlebnis der Kindheit sehnt sich der grantige »Apo-Opa« zurück. Die Stunden vor seinem Fernsehauftritt nutzt er entsprechend, um sein Leben auch in lukullischer Hinsicht noch einmal zu rekapitulieren.

 

Es ist ein Erinnerungstrip, der dem Leser tatsächlich einiges abverlangt. Denn Geils unkonventioneller Held erzählt nicht immer stringent und chronologisch. Während sich die Rahmenhandlung im Kochstudio zum spannenden Showdown entwickelt, springt Tischler in seinen Gedanken gern hin und her – und schweift stellenweise schon mal ab. Nicht nur die Proben des Studententheaters (natürlich Peter Weiss’ Revolutionsstück »Marat/Sade«) werden da detailliert beschrieben. Der ehemalige Adorno-Student führt auch ein surrealistisch anmutendes Traumtagebuch, ganz nach dem Vorbild seines berühmten Doktorvaters von einst. Zudem kann er sich erstaunlich genau an die Bilder früherer Drogenräusche erinnern. Kurzum: Es gibt mehrere Bewusstseinsebenen in diesem Roman, und es ist für den Leser nicht immer ganz einfach zu merken, auf welcher er sich gerade befindet – und worauf alle Episoden hinauslaufen sollen. Andererseits aber wirkt der gelegentlich assoziative Stil samt Vermischung von Fiktion und Realität natürlich auch typisch für einen nach »Selbstbefreiung« strebenden Achtundsechziger.

 

Acht Jahre lang hat der studierte Kunsthistoriker Joachim Geil an diesem Buch gearbeitet. Es war eigentlich sein erstes Romanprojekt, aber dann kam ihm der Stoff zu »Heimaturlaub« dazwischen. Und wie bei vielen Erstlingen spürt man das Herzblut, aber auch die Ambitioniertheit, die darin steckt. Was »Tischlers Auftritt« zur spannenden Lektüre macht, ist der leidenschaftliche Grundton, mit dem hier ein Nachgeborener versucht, die Verdienste der 68er ohne falsches Pathos zu würdigen. Während die Alt-Revoluzzer bei jüngeren Autoren sonst in der Regel schlecht wegkommen und etwa bei Michel Houellebecq, Florian Illies oder David Wagner als besserwisserisch-verantwortungslose Hippieeltern auftreten, spürt Geil in Gestalt von Tischler deren Gretchenfrage, ob ein richtiges Leben im Falschen möglich ist, nun noch einmal neu nach.

 

»Man hat das Nachdenken über gesellschaftspolitische Alternativen heute leider längst aufgegeben und ist in ein schick durchgestyltes, hoch technologisiertes Biedermeier eingetreten«, bedauert der Kölner Autor. Nach dem Zusammenbruch des Kommunismus habe sich die Öffentlichkeit bekanntermaßen mit dem Sieg des Kapitalismus abgefunden. So ist die Aufbruchstimmung von 68 heute lange verflogen, der Glaube an jede Gesellschaftsutopie diskreditiert. »Wenn eines der Unworte der letzten Jahre ‚Alternativlosigkeit’ ist, scheint mir der Weg raus aus einem demokratischen Verständnis sehr nah und virulent zu sein«, warnt er. »Schon deshalb wollte ich auch eine Lanze für die Achtundsechziger brechen. Denn das Nachdenken über Alternativen ist etwas, was wir von denen lernen können.«