Der schlechte Ruf als Wahrzeichen

Christian Steigels und Bernd Wilberg auf einem Streifzug durch das Viertel,

dass seit Jahren auf dem Sprung ist

Mülheim empfängt den Besucher mit einem Wimmelbild. Der Wiener Platz ist der größte Verkehrsknotenpunkt im Rechtsrheinischen, ein Neumarkt auf der Schäl Sick. Seit 1997 gibt es die U-Bahn-Anbindung, drei KVB-Linien führen hier entlang. Darüber windet sich ein endloses Band von Autos um den Wiener Platz, die Nord-Süd-Verbindung Clevischer Ring zerschneidet das Viertel. Es herrscht hektisches Treiben, eine Vorstadt als Großstadt. Bloß manche stehen daneben und gucken zu, es sind diejenigen, die morgens schon Bierdurst haben und von dem oft beschworenen Aufbruch nichts spüren.  Der bevölkerungsreichste Bezirk der Stadt gehört zu den prekärsten: 16,7 Prozent der Haushalte bezogen Ende letzten Jahres Hartz IV.

 

Bezirksbürgermeister Norbert Fuchs hat sein Büro auf der Südseite des Platzes. Der SPD-Mann ist seit 23 Jahren im Amt, manche behaupten, er sei amtsmüde. Doch wenn man Fuchs spricht, wirkt er hellwach: Ihn ärgert es, wenn der Stadtteil schlechtgeredet wird. Zum Beispiel, weil Bürger ihm sagen, es gebe ein Müllproblem. Fuchs sagt, wenn er am Wiener Platz mal wieder darauf angesprochen werde, dass es dort reckig sei, antworte er, dass die AWB zweimal täglich dort saubermache und dass man selbst auch aufpassen müsse, damit hier keiner seinen Müll hinwerfe. Fuchs mag deutliche Worte, und das müssen eben nicht immer viele sein. Die Sitzungen in der Bezirksvertretung hält er kurz. Manche behaupten, zu kurz. Weil sie finden, dass die Politik ohnehin zu wenig mit den Bürgern spreche. So wie bei »Mülheim 2020«, dem Strukturförderprogramm (siehe Seite 22).  40 Millionen Euro für mehr Arbeit und mehr Bildung soll es geben. Doch die Kölner Verwaltung wird es nicht schaffen, die gesamten Fördergelder abzurufen. Und Fuchs ärgert es, dass wegen der Startschwierigkeiten auch die positiven Projekte schlechtgeredet würden .

 

Der Bürgermeister beschwört gern die städtebaulichen Verbesserungen, die kommen werden. Etwa die Umgestaltung des Wiener Platzes, jener funktionalen Betonf-Freifläche, umstellt von Shopping-Angeboten, wie man sie überall findet. Junge Mütter schieben ihre Kinderwagen vor den Eingang der »Wiener Platz Galerie« und nehmen an der »Hähnchen-Farm« einen Imbiss. Ein Trupp KVB-Kontrolleure, Zigarette oder eine Capri-Sonne mit Strohhalm im Gesicht, steht nebenan in der Unterführung  und bestellt Kaffee im Stehen. Die schwach befunzelte Passage ist der Durchgang, der allmählich rausführt aus diesem Wimmelbild, hinein in den alten, dörflichen Teil des Stadtteils. 

 

Im Cafè Jakubowski gibt es Bio-Eier zum Frühstück und Kaffee mit Sojamilch zum selbstgebackenen Kuchen. An den Wänden hängen großformatige Fotografien, im Sommer kann man draußen inmitten von Altbauten sitzen. Ein Laden, den man am Baudriplatz in Nippes vermuten würde, oder an der Brüsseler Straße im Belgischen Viertel. Seit sechs Jahren gibt es das Jakubowski. »Bis dahin hatten wir hier außer dem Café Vreiheit an der Wallstraße eigentlich nichts«, sagt Inhaberin Silvia Beuchert. Ihr Café liegt an der Mülheimer Freiheit, im alten Ortskern, ein paar Meter vom Rhein entfernt, mit seinem idyllischen Panorama und dem Mülheimer Mäuerchen, wo man sich im Sommer zum Biertrinken trifft.

 

Wenn es ein junges, ein szeniges Mülheim gibt, dann hier. Es gibt einen Frozen-Yoghurt-Shop, den »Luxury-Faircraft-Showroom« für gut situierte Lohas  auf der Suche nach Accessoires, ein Designer verkauft Coffee-Tables, in deren Platte der FAZ-Börsenteil eingearbeitet ist. Ein Plakat wirbt für Hans Nieswandt, der demnächst hier in einer Galerie liest. Und das Limes ein paar Ecken weiter versorgt junge Linksalternative mit Punkrock und Tischkicker.

 

Beuchert ist auch die Initiatorin der Mülheimer Nacht, die im März zum vierten Mal stattfinden wird. Im Stile des Ehrenfeld-Hoppings oder der Tour Belgique gibt es Lesungen, Konzerte, Ausstellungen. »Die Leute sollen sehen, wo sie wohnen, und was es da gibt.« Nicht nur Kneipen und Cafés sind dabei, auch beim Friseur gab es eine Lesung und später elektronische Musik.  Für die 40-Jährige ist die Veränderung im Stadtteil spürbar. »Die Leute haben früher hier nur gewohnt, nicht gelebt. Das hat sich geändert. Aber es dürfte ruhig ein paar Cafés mehr geben.«

 

Der Niedergang der einst reichen Stadt Mülheim, die 1914 eingemeindet wurde, kam mit dem Strukturwandel.  1982 wurde Mülheim-Nord zu einem riesigen Sanierungsgebiet. Große Industriebetriebe wie Felten & Guillaume brachen weg. Noch heute ist das Veedel geprägt davon.  Das Gelände des Alten Güterbahnhofs ist seit Jahren größtenteils ungenutzt, ebenso Brachen von Klöckner-Humboldt-Deutz (KHD) entlang der Deutz-Mülheimer Straße. Immerhin ist am Auenweg am alten Hafen ein Grünzug geplant, der an einen ebenfalls neu gestalteten Rheinboulevard anschließen soll. 

 

Besser ist es entlang der Schanzenstraße gelaufen, wo die großen Veranstaltungshallen E-Werk und Palladium stehen. Doch sie bringen dem Viertel nichts: Die Fans von Söhne Mannheims und Matze Knop sind genauso schnell wieder weg aus Mülheim  wie die Gäste der Oper, die während der Sanierung auf das Palladium ausweicht. Auf dem ehemaligen Carlswerk-Gelände werden die Hallen jetzt zu »hochwertigen Office-Lofts mit historischem Ambiente« umgebaut. Der Verlag Bastei-Lübbe ist seit 2011 dort. Doch ob die Medienbranche hier tatsächlich Arbeitsplätze für Menschen aus Mülheim schafft, darf man bezweifeln. Und viele fürchten, dass durch die Medienangestellten, die sich im Viertel niederlassen, die Mieten steigen werden.

 

»Wenn Mülheim seinen schlechten Ruf verliert, ist es verloren«, sagt Peter Bach nur leicht ironisch. Der 65-Jährige von der Geschichtswerkstatt Mülheim ist Chronist der Entwicklung. Er kennt das Veedel bis in die entlegensten Ecken. Ständig trifft er jemanden auf der Straße, hält einen Plausch. Auf der Berliner Straße, auf der Hacketäuer Straße. Und auch auf der Keupstraße, dem Aushängeschild, wenn es darum geht, den multikulturellen Charakter des Veedels zu belegen. Doch seit dem Nagelbomben-Anschlag 2004 taugt die Straße kaum noch für folkloristisches Marketing, zumal das Attentat, bei dem 22 Menschen verletzt wurden, viel zu spät als rechtsextremistischer Terror erkannt wurde. Doch die Forderung nach einem Mahnmal wegen des Anschlags ist umstritten. Die »IG Keupstraße« fürchtet ein schlechtes Marketing. Noch schlechter wurde die Stimmung aufgrund der »Vermisst«-Kampagne des Innenministeriums, bei der hier massiv die umstrittenen Postkarten verteilt wurden, sagt Peter Bach beim Rundgang. 

 

Auch Linda Rennings kennt Mülheim seit etlichen Jahren. Wir treffen sie im Café der Mütze, dem Bürgerhaus an der Berliner Straße. Aufgewachsen ist sie bei ihrer Großmutter in Dünnwald, in der Mau-Mau-Siedlung, wie man die Elendssiedlungen an der Peripherie kriegszerstörter deutscher Städte nannte. Die 48-Jährige hat zwei Gewalt-Ehen hinter sich, war jahrelang obdachlos. Ein Jahr Frauenhaus, ein Jahr Psychiatrie. »Ich habe alles durch außer Knast«, sagt sie. Heute lebt Rennings wieder in einer eigenen Wohnung. Sie verkauft die Straßenzeitung Draussenseiter. »Ich komme gern hier auf einen Kaffee vorbei. Und wenn ich ein Problem habe, gehe ich zum Hans«, sagt sie. Hans Leiseifer ist Bereichsleiter Soziales in der Mütze. An seiner Tür hängt ein Schild: »Die ganze Welt ist ein Irrenhaus, und hier ist die Zentrale.« Der 50-Jährige ist ein gemütlicher Typ, mit lautem Lachen und ebensolcher Stimme. »Nimm dir erst mal einen Kaffee«, begrüßt er Besucher seines Büros im ersten Stock.

 

1974 besetzten Mülheimer Bürger eine Tankstelle an der Berliner Straße, um ein Nachbarschaftszentrum zu eröffnen, für Obdachlose, Behinderte, Prekäre. So entstand die  Mütze. Träger ist der Verein »Mülheimer Selbsthilfe Teestube e.V.«, der sich mit dem Café,  Raumvermietung und einem Möbellager finanziert. Es gibt eine Lebensmittelausgabe, Migrantinnen-Beratung, Umsonstladen, günstige Kultur. Für mehr als 200 Menschen ohne festen Wohnsitz führt man die postalische Adresse. Leiseifer arbeitet seit fünf Jahren hier. Er hilft bei Problemen mit Aufenthaltsgenehmigungen,  bei Bewerbungen, betreut die Menschen, die hier Sozialstunden ableisten, kümmert sich um Wohnungslose. »Wir geben uns Mühe hier«, sagt Leiseifer. »Aber wir bräuchten drei bis vier
Mitarbeiter, die meinen Job machen.«

 

Er selbst hat keine feste Stelle, er erhält eine Aufwandsentschädigung und wird bezuschusst vom Jobcenter. Das Geld ist knapp: Die Zuschüsse der Stadt haben sich binnen drei Jahren halbiert. Zudem werfen Menschen aus dem Umfeld der Sozialistischen Selbsthilfe Mülheim (SSM) Teilen des Vorstands vor, mit den Geldern des Vereins großzügig umzugehen und den sozialen Gedanken nicht mehr zu berücksichtigen. 

 

Eine Stimme, die laut aus Mülheim schallt, ist die von Rainer Kippe. Mit seinen Mitstreitern hat er Ende 1979 ein altes Fabrikgelände an der Düsseldorfer Straße besetzt und später die SSM gegründet. Obdachlose, Erwerbslose und Behinderte leben in dem Wohnprojekt, das »menschenwürdiges Leben ohne Fremdbestimmung und Ausbeutung« garantiert. Finanziert wird das Ganze unter anderem durch einen eigenen Betrieb für Wohnungsauflösungen. 

 

In den 80er Jahren hat Kippe die damalige Sanierung von Mülheim kritisiert. Weil die wahren Probleme, das Elend der Armen und Benachteiligten, nicht gelöst würden. Heute kritisiert Kippe die Umsetzung von Mülheim 2020. Ohne ihn wäre das Prozedere wohl nie derart skandalisiert worden. Der Stadtverwaltung, dem Oberbürgermeister, aber auch Bezirksbürgermeister Fuchs und der SPD wirft er vor, dass Projekt zu verschleppen.

 

Auch Gabi Schönau von der »Nachbarschaft Köln-Mülheim Nord« ist von Mülheim 2020 enttäuscht. Aber bei ihr ist kein Furor zu spüren, wie beim SSM. »Es ist bedauerlich, dass nur wenig so umgesetzt wird, wie geplant«, sagt sie. »Aber es sind durchaus positive Akzente gesetzt worden.« Soeben wird der Bürgerpark neben dem Bürgerhaus Mütze fertiggestellt. Hier hatte Schönau sich aber auch eine soziale Betreuung gewünscht, doch es bleibt beim Städtebaulichen. »Ein Park allein bringt noch nicht die Menschen zusammen«, sagt sie. Zuletzt hat Gabi Schönau einen Workshop und eine Ausstellung mitorganisiert, um Ideen für Verbesserungen zu sammeln. Sie wolle lieber nach vorne schauen, sagt sie. 

 

In Mülheim prallt Veedelsmentalität mit der Beschleunigung und Anonymität einer dicht besiedelten Vorstadt zusammen, wie man sie an der Frankfurter Straße erlebt. Hier bekommt man alles, was man braucht. Und vieles mehr: eine »Spieloase« und einen »Play Point«, ein »Nail-Tatoo-Piercing-Studio« und sehr oft »Bargeld sofort« gegen Zahngold, Altgold, Goldmünzen... Gleich nebenan ein Bio-Laden, der Büffel-Mozzarella bewirbt. Dann wieder ein Ein-Euro-Shop, der alte Glühbirnen verramscht. »Ihr Einkaufsziel« steht auf der Lichterkette, die quer über die Straße gespannt ist und sehr alt aussieht.

 

Der Sound dazu ist Arabeske. »Ich habe direkt vor meinen Fenster die Ampelanlage und dadurch das Vergnügen, im Sommer die neuesten türkischen Popsongs zu hören«, sagt Markus Yutani. Der 30-Jährige sitzt in seiner Altbau-Küche unweit vom Bahnhof Mülheim. An der Wand ein Johnny-Cash-Poster, auf dem Tisch eine Flasche Rotwein, aus dem Rechner House. 

 

Neben orientalischem Pop spielt auch Electro eine Rolle im Veedel. Yutani ist Mitbegründer des Internet-Radiosenders »Mülgrime«, den es seit anderthalb Jahren gibt. »Elektronisch, ein bisschen Drum ‘n‘ Bass, ein bisschen Dubstep«, beschreibt er das Programm. Jeden Abend ab 21 Uhr läuft eine einstündige Live-Sendung, den Rest der Zeit eine Rotation.  Die sieben Gründer kommen alle aus der Kreativszene, sind Labelbetreiber, Programmierer oder Visual-Artists – und wohnen alle in Mülheim. Sie senden aus ihren Wohnungen. »Jeder hat sein Bedroom-Studio, mit PC und Mikro«, so Yutani. Die Sendungen heißen entsprechend »Studio Von-Sparr-Straße«, »Studio Berliner Straße« oder »Studio Wiener Platz«. 

 

Der Name Mülgrime spielt mit den Bedeutungen des englischen Begriffs grime: Auf der einen Seite die Musikrichtung, auf der anderen das immer noch Dreckige in Mülheim. »An der Frankfurter oder Von-Sparr-Straße ist alles noch ein bisschen atziger«, sagt Yutani. »Auch die Partylage ist immer noch finster. Man kann mal ins Jakubowski gehen oder ins Limes. Aber es gibt keine Off-Locations.« So schaffen sie sich via Radio ihren eigenen Sound und bleiben einfach daheim: »Die Zuhausekultur ist hier größer als anderswo. Wir zechen häufiger in der Küche, auch mal bis sechs Uhr morgens.«

 

Mittlerweile werden die meisten der zwanzig Sendungen anderswo in Köln produziert, auch in Berlin, in Zürich. Trotzdem stehe Mülheim im Mittelpunkt, sagt Yutani. »Ich weiß nicht, ob dieses Zusammengehörigkeitsgefühl so stark wäre, wenn wir alle in Höhenberg wohnen würden. Dieser Stadt-Gedanke ist hier nie ganz verschwunden. Wir fühlen uns eher als eigenständiges Veedel denn als zugehörig zu Köln.«

 


»Mülheim, mon amour»
Lesen Sie auch die anderen Texte unseres Stadtteilporträts:

→ Desaster in Zeitlupe
→ Mülheim rules

→ Vom Mühlendorf zum Problemviertel

 


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→ Kalk (2011)
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→ Ehrenfeld (2017)