»… eine Ahnung davon, wie es ist, Chilly Gonzales zu sein«

Chilly Gonzales spielt vor Silvester in der Phil­har­monie — schon wieder. Im Interview erläutert der inzwischen nach Nippes gezogene Entertainer-Exzentriker seinen souveränen Zugriff auf Klassik und Pop

Ihr aktuelles Album »Solo Piano II« ist, ein wenig überraschend, eine Fortsetzung Ihrer Platte aus dem Jahr 2004. Wie würden Sie seine Stimmung im Vergleich zum Vorgänger beschreiben? Das Album ist definitiv mehr Pop. Der erste Teil von »Solo Piano« war stark von meinem damaligen Umzug nach Paris geprägt. Ich war einsam, ich kannte dort kaum jemanden, und das führte dazu, dass ich mich wieder ans Klavier setzte. Ich habe das Piano in dieser Zeit neu kennengelernt und mir überlegt, was ich auf dem Instrument ausdrücken könnte. Ich hatte viele Fans im Underground und überlegte, wie das für sie funktionieren könnte. Ich war mir unsicher, und doch wurde die Platte zu einem Überraschungshit und öffnete die Welt von Jazz und Klassik für mich. Seitdem ist das Piano das zentrale Element meiner Musik. Die Auseinandersetzung mit dem Instrument hat dazu geführt, dass »Solo Piano II« nicht dieselbe naive Qualität hat wie der Vorgänger. Ich weiß jetzt, was das Piano für mich bedeutet. Ich versuche seitdem immer, mich als Pianist einzubringen, egal ob ich mit Feist arbeite, mit Drake oder mit Daft Punk. Diese Ko­­operationen machten es für mich zu einer Herausforderung, zum »Solo Piano« zurück zu gehen. Ich wusste, dass viele Leute schon eine große emotionale Verbindung zu diesem Album haben, aber ich wollte den Ansatz unbedingt vertiefen.

 

Ich habe mich in der Tat gefragt, warum Sie dieses Album gemacht haben. Jedes Album davor schien mir ein Schritt vorwärts zu sein, dieser aber eher ein Schritt in die Vergangenheit?…  Aber tatsächlich ist es ein Schritt nach vorne! Für mich ist es die größtmögliche Herausforderung gewesen, mich an meinem größten Erfolg messen zu lassen. Ich hätte das Album anders nennen können, ich habe es aber »Solo Piano II« genannt. Ich wollte, dass die Leute die Platte in dem Bewusstsein hören, dass es die logische Ergänzung zum ersten Teil ist. Viele der Songs hätten so nicht auf »Solo Piano« sein können. ­Diesen minimalistischen, hypnotischen Stil habe ich damals nicht gespielt. Es ist eine neue Technik, die ich durch die Arbeit mit Boys Noize und anderen entwickelt habe. Solche Songs sind viel mehr eine Reflektion meiner Arbeit und meines Lifestyles im Pop als die Folge meiner Einsamkeit in Paris. Die Platte ist einfach viel offener. Ich denke buchstäblich an die Menschen, die in meine Konzerte gehen, an die hübschen Mädchen in der ersten Reihe oder an den HipHop-Typen, dessen einziges Piano-Konzert im ganzen Jahr das von Chilly Gonzales sein wird. Vorher habe ich mir nie Gedanken darüber gemacht, wer in meine Konzerte kommt. Deshalb ist es ein größeres Risiko für mich, scheinbar erst einen Schritt zurückzugehen, aber dann nach vorne und das Alte mitzunehmen.

 

Sehen Sie sich denn in der Welt der klassischen Musik zuhause? Ja, sehr sogar. Ich bin als klassischer Komponist ausgebildet. Ich liebe es, klassische Stücke zu hören und zu analysieren. Während ich übe, spiele ich immer wieder Klassik, um mich inspirieren zu lassen. Die direkteste Art, mit sich einem Komponisten auseinanderzusetzen, ist sowieso, seine Musik selbst zu spielen. Deshalb haben wir auch die Noten zu »Solo Piano« als Buch veröffentlicht. Erst wenn du meine Stücke spielst, bekommst du eine Ahnung davon, wie es ist, Chilly Gonzales zu sein. Die einzige Musik neben Klassik, die ich wirklich liebe, ist übrigens Rap. Allerdings höre ich diese Musik viel flüchtiger — im Prinzip immer das, was gerade neu ist. Auf der Festplatte meines Computers befinden sich 75 Prozent klassische Musik und 25 Prozent Rap.

 

Vielleicht können Sie eine kurze Einführung in die Welt der klassischen Musik aus ihrer Sicht geben. Gibt es Komponisten, die Sie bewundern? Viele! In Kanada ist eine der wenigen wirklichen Ikonen Glenn Gould. Ähnlich wie etwa Leonard Cohen, Joni Mitchell oder David Cronenberg. Gould ist ein Exzentriker gewesen, so eine Art John McEnroe des Pianos. In der Komposition gibt es grundsätzlich drei wichtige Schulen: Die deutsche, die französische und die italienische. Die Italiener starteten mit ihren Opern in dem Glauben, dass Gesang verbunden mit Musik die höchste musikalische Form sei. Beethoven hat die Musik danach in die Richtung reiner Instrumentalität getrieben. Ich persönlich glaube mehr an die deutsche Idee, weil Musik dann am emotionalsten ist, wenn sie instrumental ist. Deshalb ist »Solo Piano« für mich sehr berührend. Es geht um den Ausdruck einer einzelnen Person, die im Persönlichen etwas Universelles sucht. Worte können Emotionen nie so gut ausdrücken.

 

Irgendwo habe ich gelesen, dass Sie Ihre Stücke immer und immer wieder üben, bis Sie zu ihrer Essenz vorgedrungen sind. Ja, das ist richtig. Du musst deine Stücke gut kennen, um die Chance zu haben, ihnen einen emo­tionalen Schliff zu verpassen. Du musst sie so oft üben, dass du nicht mehr über die Noten nachdenkst. Das dauert. Du musst erst alle technischen Herausforderungen meistern, um die Stücke komplett zu verinnerlichen. Fast kann man sagen, dass du den Aufbau der Stücke wieder vergessen musst. Wie schon Miles Davis sagte: »Du musst alles lernen, um dann wieder alles zu ver­gessen.«

 

Vielleicht ist das eine dumme Frage, ich stelle sie aber trotzdem: Wie kommen Sie auf die Titel der rein instrumentalen Stücke? Ich würde sagen, dass die Hälfte der Stücke den Titel kriegt, der mir als erstes einfällt, wenn ich es schreibe. Ich denke relativ schnell an Titel, um zu verhindern, dass ich etwas vergesse. Der nächste Schritt folgt dann viel später, wenn ich die Tracklist des Albums fertig mache. Es kann dann vorkommen, dass einzelne von ihnen einfach nicht funktionieren. Das ist der Ar­beits­schritt, bei dem ich dem Schreiben von Song­texten am nächsten bin. Da benutze ich quasi mein ­»Rap-Gehirn«. Manchmal geben die Titel dann auch einen Hinweis da­rauf, wie sie anzuhören sind. Einen Song wie »White Keys« hört man anders, wenn man weiß, dass ich dafür nur die weißen Tasten zu gespielt habe.

 

Solche Titel stehen dafür, dass in Ihren Songs immer auch Humor eine große Rolle spielt. Stimmt. Es ist schwierig, vorne und hinten in einem Klavierstück humorvoll zu sein, wie etwa auf einem Rap-Album. Humor ist ein wichtiger Teil von Musik: Er ist eine Ver­teidigungsstrategie gegen Melancholie. Es ist schön für mich, wenn ich für ein solch pures und intimes Album wie »Solo Piano« die richtige Dosis Humor finde. Ich glaube nicht, dass die Leute bei diesem Album laut auf­lachen, aber sie werden es als ein Gegengewicht zur Trauer wahrnehmen. Meine Eltern kamen aus Ungarn, sie sind Juden, und in jüdischer Musik gibt es eine starke Tradition von Humor im Angesicht der Trauer. Ich habe jüdischen Humor immer geliebt, Groucho Marx, Woody Allen oder auch Felix Mendelsohn. Er ist die andere Seite der Medaille der Melancholie.