Der breitestmögliche Sound

Das französische Duo Air nutzt die Stilmittel des Progressive Rock um ihre Vorstellungen vom gut gemachten Popsong umzusetzen

Eigentlich dachte man, dieses Kapitel sei abgeschlossen: Progressive Rock, jene Musik, die in den späten 60ern aus Barfußlaufen und der Begeisterung über die Mondlandung entstand. Aber die Vergangenheit ist nie vergessen, und im Falle von Progressive Rock auch nicht vergangen. Das ist die schlechte Nachricht. Die gute Nachricht ist: Wenn das französische Duo Air die Ideale des Progressive Rock wieder ausgräbt, sind Zutaten und Gestus zwar ähnlich, die Ökonomie der Mittel ist jedoch eine andere. Es hört sich nur bedingt so an. Auch wenn es so aussieht.

Retro-Futurismus galore

Man hält das Cover in den Händen und sieht ein retro-futuristisches Betonstudio mit Panoramafenster auf einem Felsen irgendwo in der Wüste von Arizona, auf dem Dach steht eine Satellitenschüssel, die wahrscheinlich Signale aus dem All empfängt. Im Innenraum befinden sich riesige Mischpulte, in der einen Ecke steht ein Flügel, in der anderen eine akustische Gitarre, und über all dem schwebt der Schriftzug der Band, hervorstrahlend aus blutroten herzförmigen Wolken – Air: »10.000 Hz Legend«.
Doch Air geht es um den Klang, und vielleicht kann man ein Bild des perfekten Sounds nur in den Tönen der 70er malen. Hier werden keine endlosen Gitarren-, Orgel- oder Schlagzeug-Soli in Szene gesetzt, Airs Bezug auf Progressive Rock beschränkt sich auf die Vorstellung, den breitestmöglichen Sound zu produzieren. Diese Platte ruft: Hier wird am Klang gearbeitet. Nichts Ungewöhnliches, sollte man meinen, ist doch das Studio spätestens mit dem Siegeszug der elektronischen Musik zum eigenständigen Instrument aufgestiegen. Doch während sich in der elektronischen Musik kaum ein Künstler noch als Musiker begreift und man sich stattdessen lieber Produzent nennt, verhelfen Jean-Benoît Dunckel und Nicolas Godin der Virtuosität wieder zu ihrem Recht. Wo andere Künstler ein produced by in ihr Booklet schreiben, heißt es hier: Recorded and performed by Air.
Drei Jahre sind vergangen, seit Dunckel und Godin »Moon Safari« herausbrachten, jene Platte, die mit ihrer Mischung aus Easy Listening und Zitatfreude, Vocoderstimmen und Frauenvocals Frankreich 30 Jahre nach Serge Gainsbourg und 20 Jahre nach Jean-Michel Jarre wieder auf der Landkarte der Popmusik eintrug. Es hatte den Anschein, als wollte eine neue Generation französischer Musiker den sorgsam erworbenen Ruf Frankreichs als Erbfeind guter Popmusik ein für allemal zerschlagen. Doch obwohl Air voreilig dem French House zugeschlagen wurden – schon »Moon Safari« stand ästhetisch für etwas völlig anderes. Es war nicht nur keine Musik für die Tanzfläche, es war im Grunde gar keine elektronische Musik. Endlose Listen, welcher Moog-Synthesizer und welches Rhodes-Piano in welchem Stück benutzt worden waren, sollten schon damals vor allem eines demonstrieren: Wir lassen nicht irgendwelche Maschinen ein Sample loopen, wir spielen selbst.

Das ozeanische Gefühl

Diesen Willen zur Kunst fahren Air nun zu voller Breitwandgröße aus. Mit einer Ernsthaftigkeit und Freude, wie es wahrscheinlich nur zwei Bürgersöhne aus Versailles können, die in der Tiefe ihres Herzens nur das für gute Musik halten, was man auch auf dem heimischen Flügel spielen kann, schwelgen Dunckel und Godin in Streichern, Pauken, Flöten, Flügelläufen, akustischen Gitarren, endlos nachklingenden Beckenschlägen – all das vor dem Hintergrund düster dräuender Synthesizersounds. Musik wie ein Update von Barclay James Harvest oder der frühen Pink Floyd.
Jedes Stück ist eine kleine Sinfonie, mitunter von herzerfrischender Heterogenität: Man nehme etwa »Don’t Be Light«. Der Song beginnt mit etwas Elektronischem, blendet dann zu einem Chor über, woraufhin kurz Streicher erklingen, bis sich das Ganze dann zu einem flotten Krautrock-Stück hochjazzt, bevor der Groove unter einer Gitarre kollabiert, die dann einen Spoken-word-Teil einleitet. Hier hätten Air einen Punkt machen können, doch es geht noch weiter mit diesem und jenem und endet schließlich mit Gepfeife.
Als hätte es Punk niemals gegeben, umreißen Air einen neuen Geschmackskanon, wo Musiker wieder Instrumente spielen können, wo größtmöglicher Aufwand und modernste Technik wieder Wohlklang erzeugen. Weit entfernt vom Do-it-yourself-Ethos der weißen Popmusik dieser Tage, orientieren sich Air an Vorstellungen von musikalischer Perfektion. Es geht um das große Ganze, das ozeanische Gefühl.
Einen kleinen Unterschied zu den 70ern gibt es allerdings: Air kommen ohne Einsatz ihrer Körper aus. Das Künstler-Ich, das Subjekt scheint sich in der Vorstellung zu genügen, die Kontrolle über all dieses Fließen und Strömen zu behalten. Für die meisten Stücke haben sie Sänger eingeladen. Nur ein einzige Mal erhebt Nicolas Godin seine Stimme – ausgerechnet, wenn er in »Wonder Milky Bitch« davon singt, einen Blow Job von einem matschverschmierten Countrygirl zu bekommen.
Wie werden Air ihre Musik live umsetzen? Pink Floyd bildeten auf dem Cover von »Ummagumma« immerhin ihr gesamtes Live-Equipment ab, und andere Progressive-Rock-Bands prahlten mit Filmaufnahmen der zahllosen Trucks, die sie benötigten, um ihre Instrumente von Stadt zu Stadt zu transportieren: Eigentlich erfordert die In-Szene-Setzung von Progressive Rock vollen Körpereinsatz. Aber was tun, wenn man eigentlich am liebsten im Studio hockt oder in den umliegenden Cafés sitzt und über Philosophie redet, wie es konsternierte Sessionmusiker über Jean-Benoît Dunckel und Nicolas Godin berichten?

Air spielen am 22.9. im Palladium. Ihr aktuelles Album »10.000 Hz Legend« ist bereits bei Virgin erschienen.