Nils Frahm

Es gibt in England eine auch schon über ein Jahrhundert währende Tradition des Positivismus. Sie sorgt für diese sportive, naiv-freundliche, dem (vermeintlich) Neuen notorisch aufgeschlossene Lebenshaltung. Zumindest in der Pop-Kritik. Denn es sind englische Medien, die seit zwei, drei Jahren völlig Kopf stehen, wenn der Name Nils Frahm fällt.

 

Die Musik des 30-jährigen Berliners ist tatsächlich entwaffnend — im Wortsinne: So zurückgenommen, in sich gekehrt und eine Friedlichkeit ausstrahlend hat man Solostücke fürs Klavier schon lange nicht mehr gehört, sehr sanft, geradezu ich-auflösend beschwipst lassen sie Dich in den Sessel sinken. Undramatischer und — das ist gewollt! — spannungsärmer kann man sich derzeit keinen Klaviersound vorstellen. Das Instrument klingt nicht nach Bildungsbürgertum, vielmehr nach einem Fund, der gerade noch  aus einem verwaisten Salon geborgen werden konnte, ehe der Sperrmüll abgeholt wird.

 

Liefert man sich dieser — zugegeben: sehr suggestiven — Musik nicht 1:1 aus, darf man sich gerne fragen, wieso jemand mit diesem Klanggespür so wenig aus bestimmten Errungenschaften der 70er Jahre, wie sie für das Piano etwa der Minimalismus Michael Nymans, die Post-Romantik Gavin Bryars oder auch die Balladen Dollar Brands erspielt hatten, macht. Es ist ja nicht abwegig, ihn mit -Bryars oder Nyman zu assoziieren. Frahm verzichtet auf jeden Schnickschnack, geht auch sonst ein hohes künstlerisches Risiko ein — das jüngst erschienene, zuvor frei herunterladbare Album »Screws« hat er mit neun Fingern eingespielt, Frahms linker Daumen ist nach einem Unfall buchstäblich verschraubt —, aber sein Fluchtpunkt ist die reine Schönheit. Nur ein Klingelschild weiter wohnt Frau Kitsch. Und die rührt ihrem Nachbarn Frahm gerne mal Zucker in den Weißwein.

 

Ja, das ist Gemäkel! Das kennen die glücklichen Positivisten natürlich nicht. Jede Pop-Generation hat das Recht, ihren Sound zu entdecken, ohne dass Opa-Kritiker was von den 70ern oder 80ern mault, heißt es. Jede Generation hat allerdings auch die Pflicht, die einmal gesetzten Standards zu kennen und was daraus zu machen. Aber wenn Nils Frahm bald wieder nach Köln kommen wird, wird die Entwaffnung siegen. Dieses Versinken ist derzeit einfach zu verführerisch.

 

Tonträger: Nils Frahm, »Screws« (Erased Tapes/ Indigo), bereits erschienen