Zu viel Kotze

Materialien zur Meinungsbildung # 134

Der Drang, etwas mitzuteilen, steht oft im Gegensatz zur Bedeutung der Information für andere. So verkündet Gesine Stabroths »beste Freundin Tine« unentwegt, sie habe »wieder total interessante Leute kennengelernt« und ergeht sich in ermüdenden Nacherzählungen (»sag ich... sagt der... sag ich: Nee, ne?!«). Es folgen halsbrecherische psychologische Analysen (»Voll verknallt in mich, wetten?«).

 

Es ist peinlich. Bei der nächsten Begegnung wollte ich mein Martyrium abkürzen und sprach: »Erzähl, welche tollen Typen, die sich sofort in dich verliebt haben, hast du wieder getroffen? Ich bin flitzebogenmäßig gespannt! Du hast drei Minuten, die Zeit läuft...« Tine war außer sich. Es ist widersinnig: Ich werde ungefragt mit Geschwätz belästigt, aber wenn ich mein Einverständnis erteile, empört man sich. 

 

Ähnliches ist im sozialen Netzwerk Facebook geschehen. Der Konzern fragt die Kunden neuerdings, wie sie sich fühlen. Die Nutzer empört das. Ich glaube, weil sie sich ertappt vorkommen, so wie Gesine Stabroths »beste Freundin Tine« von mir. Das Internet ist doch voll mit Menschen, die erzählen, wie sie sich fühlen — bloß ohne, dass jemand gefragt hätte. 

 

Von dieser Empfindelei sind weite Teile des Internet kontaminiert, es ist ein globaler Groschenroman. Ja, es ist schwierig, Gefühle in Worte zu fassen. Bedeutende Dichter sind daran gescheitert. Für weniger Talentierte ist es deshalb ratsam, in einem Zustand, der von Schwärmerei, Enttäuschung oder Wut geprägt ist, keinesfalls darüber schreiben. Besser wär's, sie schlügen im Überschwang einen Purzelbaum oder stampften vor Wut mit den Füßen auf. 

 

Trotzdem wird geschrieben. Immerhin lässt sich dadurch ein interessantes Phänomen beobachten: Anders als im Gespräch, bei dem sowohl Freude als auch Wut den Menschen zur Geschwätzigkeit verleiten, trifft dies in der geschriebenen Sprache bloß auf die Wut zu. Seine Begeisterung formuliert der Internetkommentator prägnant (»Ich flipp aus, wie geil ist das! Uriah Heep bei uns in Troisdorf!«), seine Verärgerung dagegen weitschweifig und konfus. Der Wut-Kommentar zeichnet sich durch zu viele und zu lange Sätze aus. Auffällig ist dabei, dass einleitend oder abschließend stets erbrochen wird: »Ich muss kotzen«, »Ich krieg Brechreiz«, »Ich hab gerade auf die Tastatur gereihert...« Das Erbrechen ist im Internet ein Topos der Empörung. Es dient als Beglaubigung des Gesagten. In der Epoche der Empfindsamkeit heuchelten die Menschen in Gesellschaft Weinkrämpfe oder Ohnmachtsanfälle vor. Das erscheint mir kultivierter, als mit seinem Brechreiz hausieren zu gehen.

 

Wer behauptet, kotzen zu müssen, will uns weismachen, sehr feinfühlig und von hoher Moral zu sein. Seine psychosomatische Selbstdiagnose soll den Kommentator adeln und ihn jeglicher Kritik entheben. Dabei ist es doch Lüge! Die selben Menschen, denen jede andere Meinung sofort auf den Magen schlägt, entspannen bei Ballerspielen und lassen sich im Kino mit ästhetisierten Kapitalverbrechen unterhalten, derweil sie voller Appetit Chips und Popcorn knabbern. 

 

Wenn also jemand im Internet wieder mit Brechreiz argumentiert, sollte man das tun, was man auch jenseits des Internets mit Heuchlern und Kotzenden tut: sich abwenden, bevor man besudelt wird. 

 

Und wenn ein soziales Netzwerk indiskrete Frage stellt, ist es am besten, wie ein Gentleman zu handeln. Man schweigt vornehm und lässt den Fauxpas unkommentiert. Keinesfalls darf man sich hinreißen lassen, in der Weise von Gesine Stabroths »beste Freundin Tine« banausisch zu wüten: »Igitt, Facebook hat mich gefragt, wie ich mich fühle! Was geht die das an? Das macht mich total fertig! Ich muss kotzen!!!«