Genauer Blick ins Ungewisse: Anna Viebrock, Foto: Manfred Wegener

»Das Vorgefundene erfinden«

Anna Viebrock und Christoph Marthaler inszenieren Räume, die es gar nicht gibt

Ein Mann schiebt fortwährend seine Brille hoch und versteckt sich zuweilen im Schrank. Eine Frau absorbiert die Außenwelt, indem sie sich mit dem Gesicht an der Wand entlang schiebt. Eine andere steht unter eine Hängelampe mit regelmäßig durchbrennender Glühbirne oder setzt sich in einen Kaminschacht wie unter die Trockenhaube beim Friseur. Die Dritte trägt ein leeres Puppenhaus umher - eine Miniatur des Raumes, in dem sich die vier Schauspieler bewegen.

 

Ein sachliches und dabei irgendwie unheilvolles Ambiente aus Holzschrankwand und fleißigen braunen Fliesen dominiert die Bühne. In der Uraufführung von "Oh it's like home" scheint alles abwaschbar, vielleicht sogar die Vergangenheit. Was genau mit den driftenden Protagonisten passiert, lässt Sasha Raus kurzer, lyrisch rätselhafter Text in der Schwebe. Mehr, als man es von einem typischen Marthaler-Abend kennt. Der Schweizer Regisseur, der bei seinem späten Kölner Debüt das Stück seiner Stammschauspielerin und Ehefrau inszeniert, polarisiert. Treue Theaterfans reisen ihm regelrecht hinterher, andere meiden mit lautem Tamtam prinzipiell jede seiner Aufführungen.Die wiederkehrenden Module, die das Theater Marthalers zu einem Kultlabel geformt haben, kommen auch in dieser schwächeren Premiere zum Einsatz: der untertourige, melancholische Humor, die skurrile Verschlepptheit des Geschehens, die Musikalität, beständige Ensemblemitglieder wie Bettina Stucky und Josef Ostendorf.

 

Und obwohl auch die Bühne vertraut wirkt, fehlt bei diesem Treffen der Marthaler-Familie ein entscheidendes Mitglied: Bühnenbildnerin und Regisseurin Anna Viebrock, die seit Ende der 80er Jahre mit ihren detailgenauen, subversiven und gezielt gestrigen Bauten und Ausstattungen den visuellen Stil der Marke Marthaler entscheidend bestimmt. Die gebürtige Kölnerin steht vor kurz vor ihrer eigenen Premiere. Nach Musiker Clemens Sienknecht, der Werner Schlaffhorst eine Gedenkveranstaltung ausrichtete, "ein Leben, zu wahr, um schön zu sein" und dem Meister selbst ist Vie­brock das dritte Familienmitglied, das diese Spielzeit am Schauspiel inszeniert. Nach "Der letzte Riesenalk" (2009) und "Wozuwozuwozu" (2010) bringt die Regisseurin "Gabe/Gift", ein Text des Österreichers Händl Klaus, zur Uraufführung. "Eine Familie entrümpelt und renoviert im Keller einen Erfrischungsraum, der sich letztlich an den Menschen erfrischt", erklärt Viebrock die unheimliche Rolle des Hauses im Stück. Der Ort wird zum Resonanzraum, aufgeladen mit verdrängten und vielleicht noch nicht passierten Verbrechen. Das Thema des Vergangenen, das in der Wirklichkeit präsent bleibt, zieht sich wie ein roter Faden durch ihre Arbeiten. "Ich bin eine Spaziergängerin und Forscherin, die das Vorgefundene erfindet", umschreibt sie ihren Ansatz. Ihr gefällt der Gedanke, die Wahrnehmung von Menschen so zu erweitern, dass sie plötzlich Dinge sehen, die sie sonst missachten.Den genauen Blick für das Alltägliche und das Vergnügen an Fundstücken teilt Anna Viebrock mit Familienoberhaupt Marthaler. Als Team sind die beiden über die Jahre viel gereist. Sie unternahmen regelrechte Expeditionen, um Anregungen für ihre Arbeit zu sammeln. Bei der Vorbereitung des Stückes "+-0 Ein subpolares Basislager" vor zwei Jahren habe "die ganze Familie" sieben eindrucksvolle Wochen in Grönland verbracht.

 

Die Familie. Eigentlich mag Anna Viebrock so eine Schubladeneinteilung nicht. Doch sie fühlt sich wohl mit ihren Wahlverwandten: "Die Konstellation ist ideal." Vor allem Marthaler und sie tickten gleich. "Von ihm habe ich gelernt, Leute zu coachen. Zu sehen, was in ihnen steckt und nicht etwas aufzuzwängen, das nicht da ist." Und was hat sie ihn gelehrt? Die Künstlerin lacht. "Vielleicht den Spaß an großen Räumen. Ich habe eine Proportionsverschiebung, einen Hyperrealismus reingebracht." Fast fünfzig gemeinsame Theaterarbeiten haben Anna Viebrock und Christoph Marthaler realisiert, die nächsten Verträge sind unterschrieben.

 

Wenn sie mal nicht zusammenarbeiten, liegt das an Zeitproblemen oder Themenpräferenzen. "Es wäre ja schrecklich, wenn man gar nicht ohne den anderen könnte", findet die Regisseurin. "Das muss man locker sehen." Doch sie sieht durchaus auch die Gefahr, in die Routine zu geraten oder einen Status Quo zu pflegen, weil man sich einfach zu gut kennt. Die Assoziation mit der "Marke Marthaler" bringe zudem starke Vereinfachungen mit sich. "Wenn ich immer auf dieselben wenigen Elemente wie Holzvertäfelungen oder Wartesäle reduziert werde, ärgert mich das."

 

Ein gutes Korrektiv bilden ihre eigenen, bislang fünfzehn Inszenierungen an Häusern von Basel bis Köln. "Wenn ich Regie mache, lote ich Genres aus, die zwischen den Genres stecken", erklärt Viebrock. "Gabe/Gift", ein hintergründiger musikalischer Krimi, habe sie wegen der eigentümlich verzahnten Sprache gereizt, aber auch wegen der gestalterischen Möglichkeiten, die jener ambivalente Erfrischungsraum im Keller bietet. Zu welcher Theaterfamilie die Bühnenbildnerin und Regisseurin gehört, wird man bei der Premiere auch daran sehen, dass Josef Ostendorf eine Hauptrolle spielt. Nur die Bühne, die ist garantiert nicht typisch Marthaler, sondern original Viebrock.