Freundschaft und Tauschhandel

Summa cum laude: Das Museum Ludwig zeigt das Man-Ray-Archiv von L. Fritz Gruber

Die Spiele der Surrealisten amüsierten nicht unbedingt jeden. "Notation scolaire" hieß eines, bei dem man seinen Mitmenschen gnadenlos Schulnoten ausstellt. Als Man Ray 1963 dem großen Photophilen und Ausstellungsmacher L. Fritz Gruber kleine Archivprints seiner fünfzig liebsten Porträtfotografien schickte, fanden sich auf den Rückseiten Bewertungen von 1 bis 20.

 

Henry Miller, den Man Ray stilvoll vor einem maskierten Akt ablichtete, wäre mit einer Punktzahl von neun von zwanzig wohl gar nicht in die nächste Klasse versetzt worden. Nicht einmal ein Picasso ist da in den Augen des Fotografen und Künstlerkollegen vollkommen: Eine 18/20-Bewertung wurde noch einmal auf 17 heruntergestuft. Immerhin noch eine "Eins Minus". Entscheidender Wertmaßstab der Surrealisten: Was versteht die betreffende Person eigentlich von meiner Kunst?

 

Bei L. Fritz Gruber musste sich Man Ray in diesem Punkt wohl keine Sorgen machen. Der Gründer und langjährige künstlerische Leiter der Kölner Photokina-Ausstellungen gehörte zu den wichtigsten Vermittlern der Fotografie im Nachkriegs-Deutschland. Jetzt kann man die spezielle Mischung aus Freundschaft, Kuratorendienst und Tauschhandel, die Man Ray mit dem 18 Jahre jüngeren, 2005 verstorbenen Gruber verband, nacherleben. Die Ausstellung "Man Ray - L. Fritz Gruber Archiv" verbindet die 2012 vom Museum Ludwig angekaufte Sammlung aus Korrespondenzen, Objekten, Büchern, kleineren Gemälden und Arbeitsmaterialien, wie den sich als heimliches Kartenspiel präsentierenden Mini-Porträts, mit den fotografischen Meisterwerken, die sich schon lange im Haus befinden. 1977 wurden mit der "Sammlung Gruber" auch viele ikonische Man-Ray-Fotos angekauft.

 

Der interessanteste Neuzugang sind 37 Kontaktkopien von Rayographien: An ihnen lässt sich der Herstellungsprozess jener Fotos ohne Kamera studieren, die Ray in der Dunkelkammer gelangen, indem er Objekte direkt auf das Fotopapier legte. Dass es das Archiv überhaupt noch gibt, ist trotz der Ordnungsliebe von L. Fritz Gruber und seiner Witwe Renate ein kleines Wunder. Der Großteil ihrer Korrespondenz mit den Großmeistern der Fotografie des 20. Jahrhunderts versank beim Einsturz des Kölner Stadt-Archivs im U-Bahn-Tunnel. Als Entrée der Ausstellung dient eine weitere Neuerwerbung, Herbert Molderings Fotoserie des zentralen Spielorts dieser Freundschaft, dem von Man Ray selbst ausgestalteten Pariser Atelier. Auch nach seinem Tod 1976 zeigte es sich als surreale Wohn- und Arbeitswelt, voller Fundobjekte und Kisten-Möbel.

 

"Die Fotografie ist keine Kunst" heißt eine frühe Publikation Man Rays von 1937, die sich einer Musealisierung des Mediums entgegen stellt, die vier Jahrzehnte später beginnen sollte. Und doch in ihrer kunstvollen Gestaltung vom Gegenteil zeugt: Denn tatsächlich war Man Ray, dessen frühe Filme für die Geschichte der zeitbasierten Kunst nicht weniger bedeutend sind als seine Lichtbilder für die Fotografiegeschichte, einer der ersten Multimediakünstler. Erst die Totalität seines Ausdruckswillens erklärt sein Selbstbewusstsein innerhalb der Avantgarde - und die Schulnoten, die er seinen Zeitgenossen verpasste.

 

"Für ihn war Picasso keine Berühmtheit", erinnert sich  Renate Gruber, die ihren Mann L. Fritz Gruber bei den Begegnungen mit Man Ray begleitete. "Er fühlte sich ebenso bedeutend wie Picasso. Er sagte nur, der habe viel Glück mit besseren Galeristen gehabt. Genauso verhielt es sich mit Dalí und Max Ernst. Man Ray fühlte sich immer ebenbürtig." Mit charmantem Trotz stimmt sie dem gemeinsamen Freund auch posthum noch zu: "Er kannte seine eigene Bedeutung." Dem Spanier gehört im Museum Ludwig längst eine ganze Etage. Das heißt - nicht ganz: Den Ausstellungsraum am Eingangsbereich bewohnt zur Zeit Man Ray.

 

Bodo von Dewitz: Das Fotogedächtnis nimmt Abschied

 

Mit der Man Ray-Ausstellung verabschiedet sich der langjährige Leiter der Fotografischen Sammlung Bodo von Dewitz vom Museum Ludwig. "Das waren 28 bewegte Jahre!", bilanziert der 63-jährige Kurator angesichts mancher Wirren vor allem in den frühen Jahren. Damals galten Dokumentar- und Reportage-Fotografie längst noch nicht als "museumstauglich". Was Dewitz selber alles bewegt hat, schreibt er bescheiden, "glücklichen Fügungen" zu: mit enormer Fachkenntnis, Enthusiasmus und stiller Hartnäckigkeit hat er die Sammlung zu 150 Jahren Fotogeschichte ausgebaut, zeichnet verantwortlich für entscheidende Ankäufe und Schenkungen (1994 Robert Lebeck, 2005 Agfa-Archiv, Russische Avantgarde, ­Gruber), sorgte mit unzähligen Ausstellungen für die Vermittlung. Ein Spezialist im besten Sinne, der der klassischen Fotografie ihren Platz im Museum sicherte. Und alles dürfte gut werden, zählten bei der Neubesetzung der Stelle zuallererst und wie bisher: Kompetenz und Eigensinn.