Der Wille zur Musik

Studiobühne: c.t. 201 sucht den Sinn der Melodien

Einer der surrealistischen Filme Luis Buñuels zeigt die vergeblichen Bemühungen einer Abendgesellschaft, nach der dinner party den Raum zu verlassen. Auf unerklärliche Weise zögert jeder der Gäste, bevor er die Schwelle überschreitet, findet eine Ausrede und lässt dem Nächsten den Vortritt. Im Verlauf des Films kann man dann verfolgen, wie sich die Persönlichkeiten der auf solche Weise Eingeschlossenen verändern, wenn mit der Zeit die Benimmregeln in Vergessenheit geraten.
Das neue Stück von c.t. 201, der freien Gruppe von Regisseur Dietmar Kobboldt, eröffnet mit einer ähnlichen Situation. Zwei Frauen und zwei Männer folgen der Einladung zu einem Abendessen, dessen Gastgeber jedoch nie auftaucht. Da sie die Tür verschlossen finden, sehen sie sich den weiteren Geschehnissen ausgesetzt.
Und was dann geschieht, ist in erster Linie Musik: Alle vier Sinfonien von Johannes Brahms sind ausgiebig, in sattem Klang und ohne Unterbrechung zu hören, bisweilen scheinen sie sogar die Hauptrolle zu übernehmen. Mysteriöse Lichtzeichen an den Wänden, wirkungsvoll realisiert von Boris Gerrit Knoblach, deuten darauf hin, welche Macht der Musik hier zukommt. Sie ist die zentrale Instanz im Hintergrund, bei der man die Lösung für die seltsamen und fatalen Schicksale suchen muss, in die die vier Akteure auf der Bühne verstrickt sind. Mit dem Auf- und Abschwellen der Melodien werden die entscheidenden Episoden und Wendepunkte aus dem Leben der vier fragmentarisch und unvermittelt auf die Szene gespült. Die SchauspielerInnen allerdings sprechen und agieren dafür, dass sie Marionetten der instrumentalen Klänge sind, ein wenig zu energisch.
Was Regisseur Dietmar Kobboldt mit seiner mutigen und ausgefeilten Konzeption versucht, ist nicht weniger als die Geburt eines dramatischen Textes aus den Sinfonien. Ausgehend von der Musik, die nach Brahms absolut sein und nichts erzählen soll, entwickelt das Ensemble die szenischen Bilder und Dialoge, die in die Vergangenheit und ins Unbewusste der Figuren führen. Eine der Urfragen des Theaters, von den Chorstücken der Antike bis zur modernen Oper, wird hier erneut gestellt: In welchem Verhältnis stehen Sprache und Musik?
Die Antwort sieht sehr nach Schopenhauers Idee eines allgemeinen Willens aus, der sich unserer Kontrolle entzieht und dessen Bewegungen in der Musik am besten zu erfahren sind. Kobboldt und seinem Team gelingt es mit ihrem ambitionierten und spannenden Versuch, diese Idee des 19. Jahrhunderts in offener, moderner Form umzusetzen.
Michael Eggers

»Die Sinfonien des Johannes Brahms. Ein abenteuerliches Stück Musik-Theater«, R: Dietmar Kobboldt, eine Produktion von c.t. 201, mit Heidrun Grothe, Christina Vaihinger u.a., Studiobühne, 24.-26.10., 20 Uhr.