Das Gesicht des Anderen

Es scheint, bemerkte die amerikanische Philosophin Judith Butler unlängst, dass das Gesicht des sogenannten »Anderen« eine ethische Forderung an uns stellt, und dennoch wissen wir nicht, welche Forderung es eigentlich stellt. Das Gesicht des Anderen könne, so Butler, nicht auf einen geheimen Sinn hin entziffert werden. Es ist wohl diese grundlegende Unentzifferbarkeit, die zur Faszination der Porträtfotografie beiträgt.

 

Die Ausstellung »Ages — Porträts vom Älterwerden« betrachtet die Gesichter der Anderen vor allem unter dem Aspekt der Zeitlichkeit. Sie versammelt Videos und Installationen, insbesondere aber fotografische Bilderpaare und Serien von 15 internationalen Künstlerinnen und Künstlern, die zum vergleichenden Sehen herausfordern. Dabei richtet sich der Blick auch auf das eigene Selbst, etwa in dem konzeptuellen Langzeitprojekt von Roman Opalka, der sich am Ende jedes Tages im Atelier nach einem strengen Schema fotografierte. Der Prozess des Alterns beginnt mit der Geburt, und so fertigte Friedl Kubelka an jedem Montag eine Aufnahme ihrer Tochter Louise an und stellte die Bilder jedes Jahres als chronologisches Tableau zusammen.

 

Nur selten wirken die Dargestellten dem Kamerablick ausgeliefert, wie in Rineke Dijkstras Serie »Almerisa«, benannt nach dem bosnischen Mädchen, das die Künstlerin 1994 in einem Flüchtlingsheim kennenlernte und bis 2008 mehrfach porträtierte. Ganz anders dagegen Nicholas Nixons lange Serie der »Brown Sisters«: Seit 1975 fotografiert er alljährlich seine Frau und ihre drei Schwestern in der gleichen Aufstellung. So lässt er die Betrachter an ihrer ebenso engen wie dynamischen Beziehung teilhaben.

 

Roni Horn stellt in ihrer Installation »a. k. a.« (2008) — Abkürzung für »also known as« — Bildpaare von Porträts zusammen, die sie in unterschiedlichen Lebensphasen zeigen: Bilder, die es unmöglich machen, ihre Person auf einen Nenner zu bringen. »Die Wahrheit beziehungsweise die Möglichkeit einer eindeutigen Identität ist utopisch, nicht real«, bemerkte Horn 2010 in einem Interview. Was die Ausstellung in 15 Variationen eindrucksvoll vor Augen führt.