Späte Verblüffung

Auf den Spuren der Irokesen gibt einen einmaligen Einblick in eine bis heute lebendige Kultur

Sie reisten nach England, unterwegs in diplomatischer Mission. Man nannte sie die »Vier Könige aus Kanada«, drei Mohawks und ein Mahican, alle dem Stammesbund der Irokesen zugehörig. Man führte sie herum, zeigte ihnen die Sehenswürdigkeiten Londons anno 1710 und ließ John Verelst vier elegante Portraits anfertigen: stolze Herrscher, begleitet von einem Tier als Symbol ihres Klans. Sie kamen nicht, um die Überlegenheit der Kolonialherren staunend anzuerkennen, sondern um Queen Anne zur Eroberung des französisch besetzen Teils Kanadas zu animieren und um die Entsendung anglikanischer Missionare zu erbitten. Den Krieg gegen Frankreich in der neuen Welt hatte das Königreich eh geplant, doch nun bezogen die zuvor eher unparteiischen Irokesen Stellung.

 

Ja, es ist leicht, uns zu verblüffen. Die Kulturen Nordamerikas sind weit weniger präsent als jene Süd- und Mittelamerikas. Nicht mangels Interesse, doch ist es vollkommen überwuchert von einer Legendenbildung, die Fakten verdrängte, Schurken oder Wunderwesen schuf und nicht zuletzt auch diese Ausstellung zu einem Besuchererfolg werden lässt. Dabei hat das augenfällig Spektakuläre der Bonner Schau »Auf den Spuren der Irokesen« hautsächlich vor der Ausstellungshalle seinen Platz: Ein enormes Langhaus, sorgsam nachgebaut, lässt sich in seiner komplexen, filigranen Konstruktion begehen, eine Gotik aus Baumstämmen und Zweigen.

 

Auch drinnen finden wir wenig über Skalps oder Marterpfähle, dafür mannigfaltige Ausstellungsstücke einer enorm umfangreichen Schau. Gegenstände des Alltags und religiöse Objekte werden kombiniert mit jüngerer Kunst. Ihr Blick ist oftmals retrospektiv und darin dem Besucher weit zugänglicher als andere Manifestationen jener Kultur. Hier gibt es viel Erklärungsbedarf: über den Zusammenschluss der fünf, später sechs Stämme, welche ab dem 15. Jahrhundert unserer Zeitrechnung einen guten Teil des östlichen Nordamerikas beherrschten. Der perfektionierte Mais-Anbau ließ die Macht der Irokesen wachsen, die Ausstellung führt uns, nach einem Einblick in den Schöpfungsmythos, gleich zu den agrikulturellen Techniken und der vielfältigen Verwendung der Pflanze. Dabei geleitet eine Bild-Wand, in Anlehnung an die Geschichte überliefernden »Wampumgürtel« (gewebte Bänder aus weißen oder violetten Muschelschalenperlen), den Weg. Jedes neue Thema, jede Erklärung auf dem Band lädt zu einer Exkursion in die Tiefe des Raums ein. Langsam addieren sich die Einblicke dieses didaktischen Aufbaus. Wer sich Zeit nimmt, erfährt viel zwischen reich geschmückten Wiegenbrettern und Pfeifen mit Tiersymbolik für rituelle Anlässe. Man lernt von der selbstbestimmten Rolle der Frauen, von Adoptionen gefangener Krieger oder Kinder. Man begegnet Kunstwerken aus vielen Materialien: Pflanzenfasern, Tierhaar, Holz, Stein und Metall. Und erst mit dem zweiten Blick begreift man, dass die metallenen Objekte bereits von der Ankunft der Fremden künden.

 

Während sich der Rundweg schließlich zu einer Spirale krümmt, verfolgt man jenen Teil der Geschichte, den die USA und Kanada gern verbergen. Mehr und mehr ist es keine historische Ausstellung mehr, sondern eine über den Fortbestand einer Kultur, die auch ihre Sprachen nie gänzlich aufgab. Im letzten Raum kulminieren diese Bilder des Aktuellen und verweisen auf offene Fragen und Wunden. Wer hat das Recht über das Land? Wer zieht Grenzen? Wer entscheidet über tausende Schicksale? Es sei hier jedem Interessierten der enorm vertiefende Katalog ans Herz gelegt.

 

Doch auch er lässt Fragen offen. Etwa jene nach der Rolle heutiger Kunst. So wie der Anschein erfreut, dass die Auswahl der Werke aktuelle Strömungen lediglich frei variiert, prägt sie auch wieder ein Bild. Carla Hemlocks Plastik »Herabkunft der Himmelsfrau«, die, an barocke Miniaturen erinnernd, den Schöpfungsmythos darstellt. Shelley Niros Triptychen aus alten Fotografien und Selbstinszenierungen von Rollenklischees, nicht fern der Arbeiten Cindy Shermans. Oder Tom Huffs Skulptur »Mutterschiff«, die die demokratischen Traditionen des Irokesenbundes würdigt. Doch wo sind Arbeiten, die sich nicht der eigenen Kultur adressieren? Gibt es sie? Welche Rolle spielen sie?

 

Auch dies wird in der Ausstellung klar: Wir finden nur neue Konstrukte und Geschichten. Hier gibt es keinen Ausweg, aber die Chance auf enorme Einsicht. So behauptet sich in der Bundeskunsthalle eine verkannte, lebendige Kultur. Könnte man mehr verlangen?