"Wer in unsere Kita geht, macht das gesamte katholische Programm mit." Silke Schleimer, Erzieherin. Foto: Manfred Wegener

Mein Boss ist Gott

Die Zahl der Kirchenaustritte steigt. Dennoch nimmt der Einfluss der ­Kirchen im Alltag zu, weil sie als Arbeitgeber wachsen. Das merken viele, die einen Job im Sozial­bereich oder eine Betreuung für ihr Kind suchen. Anne Meyer und Bernd Wilberg haben sich in Köln auf Spurensuche begeben.

Das katholische Köln zeigt sich in vielen Formen. Da sind die Klerikerwohnungen rund um den Dom, und die Dominikaner in ihrem weißen Habit, die man häufig in ­St. Andreas antrifft, gleich nebenan. Die Unbeschuhten Karmelitinnen sieht man eher selten in der Südstadt, denn sie pflegen eine einsiedlerische Lebensweise. Die Franziskaner wiederum wohnen wie ganz normale ­Mieter in einem 50er-Jahre-Haus in Vingst.

 

Aber was hat diese Kirche noch mit dem Alltag aufgeklärter Großstädter zu tun? Im Jahr 2011 waren nur noch 38,1 Prozent aller Kölner katholisch, Tendenz sinkend. Sollte damit nicht auch der Einfluss der Institution Kirche schwinden? Obwohl immer neue Austritts-Rekorde verzeichnet werden, steigt gleichzeitig die Zahl der Konfessionsschulen, der Krankenhäuser und Kitas in kirchlicher Trägerschaft — nicht nur in Köln, sondern in ganz Deutschland. Seit 1950 haben die Kirchen ihr Personal verfünffacht und sind mit 1,3 Millionen Beschäftigten bundesweit der zweitgrößte Arbeitgeber nach dem Staat. In Köln arbeiten rund 15.000 Menschen allein für katho­lische Träger. Für sie gelten ein spezielles kirchliches Arbeitsrecht und ein christlicher Moralkodex mit ganz konkreten und manchmal existenziellen Folgen. Nicht nur für die Mitarbeiter selbst.

 

Eine extreme Erfahrung mit katholischen Sozialeinrichtungen musste im Dezember 2012 eine junge Kölnerin machen, nachdem sie vergewaltigt worden war. Sie suchte eine Notärztin auf, die ihr ein Rezept für die Pille danach ausstellte und sie anschließend ins Nippeser St.-Vinzenz-Hospital schickte. Dort nahm man sie jedoch nicht auf: Zu einer gynäkologischen Untersuchung, die Beweise einer Vergewaltigung sichert, gehöre auch ein Beratungsgespräch über eine mögliche Schwangerschaft und deren Abbruch, und in einem katholischen Krankenhaus sei das nun einmal nicht möglich. Die junge Frau wandte sich an das Heilig-Geist-Krankenhaus in Longerich, wo man sie ebenfalls abwies.

 

Ist es Zufall, dass diese Geschichte in Köln spielt? Wie später bekannt wurde, hatten christliche Fundamenta­listen rund um die Internetplattform kreuz.net katholische Krankenhäuser bespitzeln lassen, um Ärzte zu denunzieren, die die Pille danach verschrieben. Das Bistum Köln versandte daraufhin ein Rundschreiben mit sehr eng gefassten Verhaltensregeln an das Personal der Krankenhäuser und sorgte dort offenkundig für Verunsicherung. Joachim Kardinal Meisner, der das Rundschreiben zu verantworten hat, hat sich inzwischen entschuldigt und in einem geradezu spektakulär progressiven Schritt die Pille danach unter Umständen erlaubt.

 

Meisner, der für Ende dieses Jahres seinen Rücktritt angekündigt hat, ist seit 1989 Erzbischof in Köln und damit zugleich Chef der Rheinischen Kirchenprovinz, die sich über mehrere Diözesen von Trier bis nach Münster erstreckt. Das Kölner Erzbistum ist eines der reichsten und einflussreichsten in der gesamten katholischen Welt, angeblich reicher als der Vatikan. Meisner ist in Köln je­doch nie heimisch geworden. Seine Ausfälle gegen das angeblich gottlose Domfenster von Gerhard Richter, den Bau der Zentralmoschee in Ehrenfeld oder multireligiöse Schulgottesdienste laufen allem zuwider, was man dem toleranten rheinischen Katholizismus nachsagt. Auch Vertreter der Amtskirche gehen innerlich auf Distanz. Meis­ner bekundet öffentlich seine Sympathien für das reak­tionäre Weltbild des Opus Dei, der gruseligsten katholischen Bewegung gleich nach den Pius-Brüdern, die ihren deutschen Hauptsitz übrigens — wo sonst? — in Köln hat.

 

Als die Ärzte die hilfesuchende Frau abwiesen, hatten sie Angst vor der Kündigung, und diese Angst geht in katholischen Kliniken offenbar noch heute um. Von mehreren angefragten Ärzten wollte niemand mit der Stadt­Revue über seine Arbeitsbedingungen sprechen. »Lieber nicht, ich bin auf die katholischen Arbeitgeber in dieser Stadt angewiesen«, sagt eine Ärztin. Dabei gäbe es einiges zu sagen über die besonderen Arbeitsbedingungen in katholischen Kliniken, Schulen oder Kitas. Wer für die Kirche arbeitet, verpflichtet sich auf Loyalität — und die kann bis hinein ins Privatleben reichen. In der katholischen »Grundordnung des kirchlichen Dienstes« heißt es in Artikel vier, dass die Mitarbeiter die »Grundsätze der katholischen Glaubens- und Sittenlehre anerkennen und beachten« müssen. Dabei geht es nicht nur um Ideale wie Nächstenliebe. Mitarbeitern, die homosexuell sind oder sich nach einer Scheidung auf eine neue Beziehung einlassen, droht im schlimmsten Fall die Entlassung, zumindest wenn dieser Lebenswandel öffentlich wird und sie in ­leitender Position oder in der Erziehung tätig sind.

 

Wie beharrlich der katholische Arbeitgeber an diesem Dogma festhält, hat die Erzieherin Bernadette Knecht aus Königswinter kürzlich erfahren, die dort eine katholische Kita leitet. Nachdem sie ihren Mann verlassen hatte und zu einem neuen Partner gezogen war, bekam sie vom Pfarrer die Kündigung geschickt — wegen Ehebruchs. Die Eltern der Kindergartenkinder wollten dies nicht hinnehmen und beantragten beim Stadtrat, der katholischen Kirche die Trägerschaft zu entziehen — mit Erfolg. Knecht konnte bleiben und arbeitet jetzt für einen evangelischen Träger, der sich nicht dafür interessiert, was im Schlafzimmer seiner Mitarbeiterin vor sich geht.

 

Dieser Fall war Anlass für die Journalistin Eva Müller, sich den Arbeitgeber Kirche einmal genauer anzusehen. In ihrem Buch »Gott hat hohe Nebenkosten — Wer für die Kirche wirklich zahlt« schildert sie, wie die Kirchen den Sozialsektor dominieren, was das für die Arbeitnehmer bedeutet — und wer für all die Dienste im Namen Gottes wirklich zahlt.

 

Die Arbeit von Diakonie und Caritas als Träger von Krankenhäusern, Altenheimen oder Kitas wird nämlich nur zu einem äußerst geringen Teil aus den Einnahmen der Kirchensteuer finanziert. Im Haushalt des Kölner Caritasverbands sind es nur etwa drei Prozent. »Die Kosten von kirchlichen Altenheimen und Krankenhäusern, von Schulen und Kindergärten übernimmt zum allergrößten Teil die öffentliche Hand«, sagt Eva Müller. Dass der Staat die Caritas und die anderen Wohlfahrtsverbände dennoch mit diesen Aufgaben betraut, liegt am Subsidiaritätsprinzip. Das besagt in diesem Fall, dass der Staat nicht die Fürsorge umsetzen soll, wenn diese auf den unteren Ebenen, also in Städten und Gemeinden, bereits bestehende nicht-staatliche Organisationen leisten können. Der Staat bezahlt die Arbeit dieser Organisationen, zieht sich ansonsten aber aus der Wohlfahrt weitgehend zurück. »Die Kirchen haben in ihren Kindergärten lange auch einen Großteil der Kosten selbst übernommen; in Nordrhein-Westfalen lag der Eigenanteil bis 1990 noch bei 36 Prozent«, so Müller. Doch dann argumentierten die Kirchen mit dem Rückgang der Kirchensteuereinnahmen und zahlten 2008 nur noch zwölf Prozent. Auch diesen Anteil übernehmen viele Kommunen inzwischen freiwillig, weil sie dann keine Verwaltung aufbauen müssen und die Kirchen mehr Zuschüsse etwa vom Land erhalten.»Vor diesem Hintergrund erscheint noch unverständlicher, dass die Kirchen ihren Mitarbeitern einen Lebenswandel abverlangen dürfen, der ursprünglich vor allem für geweihtes Personal gedacht war«, sagt Müller. Dass sich kirchliche Träger ins Privatleben ihrer Mitarbeiter einmischen und gegen das Diskriminierungsverbot der europäischen Menschenrechtskonvention verstoßen ­dürfen, liegt am Selbstbestimmungsrecht der Kirchen, das im deutschen Grundgesetz verankert ist. Es ermöglicht den kirchlichen Trägern außerdem, den sogenannten Dritten Weg einzuschlagen, eine besondere Form des Arbeitsrechts. Nach dieser Auffassung stehen sich Arbeitnehmer und Arbeitgeber nicht konfrontativ gegenüber, sondern befinden sich in einer »Dienstgemeinschaft«. Es gibt keinen Betriebsrat, sondern eine Mitarbeitervertretung. Die ist zwar paritätisch besetzt, doch die Mitarbeiter vertreten sich selbst, ohne das gewerkschaftliche Know-how dafür zu haben, und sie werden auch nicht in Vollzeit dafür abgestellt wie Betriebsräte. Streiks sind in der Regel nicht zulässig.

 

Rolf Winterboer von der Dienstleistungsgewerkschaft verdi, blickt mit Sorge auf die Situation der Menschen, die bei den kirchlichen Trägern arbeiten. »Die Kirchen werden hier ihrem moralischen Anspruch keinesfalls gerecht.« Die Arbeitsvertragsrichtlinie (AVR) der Kirchen lasse zu, dass Gering- und Nichtqualifizierte unter dem Tarif des Öffentlichen Dienstes lägen, erklärt Winterboer: »Die Schwachen werden so nicht gefördert, sondern, weil es der Wettbewerb zulässt, noch unterdurchschnittlich vergütet.« Dabei sind die Caritas-Löhne im Vergleich zur Diakonie, dem Wohlfahrtsverband der evangelischen Kirche, grundsätzlich noch stärker am Tarifvertrag im Öffentlichen Dienst orientiert, sagt Peter Krücker von der Caritas. Tatsächlich hat die Diakonie mehr Ausgliederungen vorgenommen, und in diesen Firmen wird dann nicht mal nach AVR gezahlt. Zugespitzt könnte man sagen: Die Ca­ritas zahlt oft besser, ist aber in ihren Loya­litätsforderungen strikter als die Diakonie. Peter Krücker ist Leiter und Vorstandssprecher der Kölner Caritas und protestiert gegen die Behauptung, Mitarbeiter in den Kirchen hätten nichts zu sagen. »Über die Dienstgemeinschaft gibt es eine paritätische Mitbestimmung und damit ein viel weiteres Arbeitnehmermitwirkungsrecht als es sonst üblich ist in Deutschland.« Dass Winterboer behauptet, gerade die unteren Lohngruppen würden schlechter bezahlt, hält er für eine »rein optische Wahrnehmung«, die sich aus einer Umstellung der Systematik ergebe. Die katholische Kirche sei immerhin gerade dabei, im kirchlichen Tarifrecht die geringfügige Beschäftigung abzuschaffen. »Ab nächstem Jahr werden 450-Euro-Jobs bei katholischen Trägern nicht mehr möglich sein«, so der Caritas-Leiter. »Auch wenn mancher katholische Arbeitgeber das für einen riesigen Wettbewerbsnachteil hält.«

 

Und was ist mit der Kontrolle des Privatlebens durch den Arbeitgeber Kirche? »Es gibt in der Kirche mittlerweile ein Bewusstsein, dass sie mit einigen Umständen des Lebens gnädiger umgehen muss«, sagt Krücker. »Der Anspruch auf Barmherzigkeit muss auch auf die eigenen Mitarbeitenden angewandt werden.«

 

Barmherzig kann der jeweilige Träger theoretisch schon jetzt sein. Es gibt keinen Automatismus, der besagt: Scheidung gleich Kündigung. Laut Grundordnung hat der jeweilige Träger den Einzelfall zu beurteilen und die Entscheidung zu treffen, er kann also besonders streng sein oder beide Augen zudrücken. Aber geht es hier wirklich um Barmherzigkeit? Führt es nicht zu noch größerer Unsicherheit, wenn die Arbeitnehmer von der im Zweifel völlig willkürlichen Entscheidung ihrer Vorgesetzten abhängig sind? Wenn sich an den Arbeitsbedingungen bei kirchlichen Trägern etwas ändern sollte, dann nicht aus Barmherzigkeit, sondern aus der Not heraus — der Personalnot nämlich.

 

Silke Schleimer ist 38 Jahre alt und braungebrannt. Ihre Ohren schmücken zwei weiße Perlen und den Hals ein kleines Kreuz. »Ich war schon immer in der Kirche engagiert, da fühlte ich mich aufgehoben. Deshalb war es für mich ganz klar, dass ich bei einem katholischen Träger arbeite.« Schleimer leitet die Kita St. Theodor in Vingst, einem sozialen Brennpunkt also. Die Einrichtung genießt einen hervorragenden Ruf. Auch muslimische Eltern melden ihre Kinder gerne hier an, auch wenn diese an Gottesdiensten teilnehmen und vor dem Essen beten müssen: »Wer in unsere Kita geht, macht das gesamte Programm mit. Das sage ich den Eltern klipp und klar bei der Anmeldung«, so Schleimer. Bisher habe damit niemand ein Problem gehabt. Sie hat mit anderen Dingen zu kämpfen: Es gibt mehr Kandidaten als Plätze; katholische Kinder bekommen im Zweifel den Vorzug. Ob das nun gerecht ist oder nicht, danach fragt Schleimer nicht. »Wir müssen nun mal eine Quote erfüllen.« Eine Quote gibt es auch für katholische Erzieher — nur, dass die nicht bei vierzig, ­sondern bei hundert Prozent liegt. Für Schleimer ist es schwierig, geeignetes Personal zu finden. »Mich hat neulich eine Bewerberin angerufen, gut qualifiziert, aber ich musste ihr sagen: Tut mir leid, Sie haben keine Chance —Sie sind evangelisch.«

 

Dass sie für den gewünschten Arbeitsplatz die falsche Konfession haben, müssen auch Lehrer in Nordrhein-Westfalen häufig erfahren. Es ist das einzige Bundesland, mit Ausnahme von Teilen Niedersachsens, in dem es noch sogenannte Bekenntnisschulen in öffentlicher ­Trägerschaft gibt. Sie machen mehr als ein Drittel aller öffentlichen Grundschulen in NRW aus. Wer an diesen Schulen unterrichtet, muss der jeweiligen Konfession angehören, Ausnahmen gibt es höchstens für Vertretungslehrer oder Referendare. »Bei uns haben viele richtig gute Referendare unterrichtet, die nach ihrer Ausbildung jedoch die Schule verlassen mussten, weil sie nicht katholisch sind«, sagt Bernhard Thoma. Seine beiden Kinder gehen in die 3. Klasse der Grundschule an der Overbeckstraße in Neuehrenfeld, er selbst ist Vorsitzender der Elternpflegschaft. Nicht nur ihm als zugezogenem Protestanten war die rigide Personalpolitik der Schule vollkommen fremd.

 

Als sich dann auch noch abzeichnete, dass die Rektorin in Ruhestand gehen würde und kein Nachfolger in Sicht war, gingen die Eltern in die Offensive: Nach einer Abstimmung im Mai 2012 beantragten sie die Umwandlung der katholischen Schule in eine Gemeinschaftsgrundschule. Von 158 Eltern stimmten 154 für die Umwandlung. Seit dem Schuljahr 2012/2013 ist die Overbeckschule nun nicht mehr katholisch, doch bis auf den Namen sei eigentlich alles wie vorher, sagt Thoma. In Köln war das kein Einzelfall: Neben der Overbeckschule wurden im vergangenen Jahr zwei weitere katholische Grundschulen von Eltern in Gemeinschaftsgrundschulen umgewandelt, weil andernfalls die Schulleiterstellen nicht hätten besetzt werden können.

 

Personalmangel sei ein Argument, dass auch Bischöfe zum Nachdenken bringe, offenbart auch Peter Krücker von der Caritas: »Sie wissen, dass es schwierig wird, noch genügend Personal zu finden, das allen kirchlichen Anforderungen gerecht wird. Sie sind auch dabei, an einer Novellierung der Grundordnung zu arbeiten.