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Schuld und Wirklichkeit

In »Ein deutscher Sommer« verarbeitet der Kölner Schriftsteller

Peter Henning das Geiseldrama von Gladbeck

Die ersten Absätze klingen nach beschwingter Sommerlektüre, fast erbaulich. Die beiden Freunde Hanusch und Dieter rattern mit einer hellblauen Honda CX 500 eine Straße in Gladbeck entlang. Es ist heiß, der Fahrtwind bläst ihnen ins Gesicht, wirbelt ihnen die Haare in die Stirn. Es sind die letzten Momente, bevor sich die Idylle zum Drama wandelt. Minuten später überfallen Hans-Jürgen, genannt Hanusch Rösner, und Dieter Degowski die Filiale der Deutschen Bank in Gladbeck.

 

»Seit ich schreibe, habe ich gedacht: Wenn ich die geeignete Form dafür finde, würde ich gerne über das Geiseldrama von Gladbeck schreiben. Das hat mich nie verlassen«, sagt Peter Henning. Die geeignete Form hat er nun gefunden — pünktlich zum 25. Jahrestag erscheint »Ein deutscher ­Sommer«. Auf 600 Seiten erzählt der 54-jährige Kölner von jenen drei Tagen vom 16. bis 18. August 1988, als zwei Kleinkriminelle die Republik 54 schlaflose Stunden lang in Atem hielten.

 

Die Geschichte im Schnelldurchlauf: Nach dem Banküberfall flüchten die Täter mit zwei Geiseln und Rösners Verlobter nach Bremen. Dort kapern sie einen Bus und fahren mit 27 Geiseln weiter in Richtung Niederlande. Auf dem Weg dorthin wird kurzzeitig Rösners Verlobte festgesetzt, woraufhin Degowski den 15-jährigen Emanuele de Giorgi erschießt. In den Niederlanden wechseln sie wieder in einen PKW und fahren mit zwei Geiseln nach Köln. Nach einem einstündigen Aufenthalt fahren sie auf der A3 in Richtung Süden, wo Rösner und Degowski kurz vor der Grenze zu Rheinland-Pfalz durch ein Sonderkommando überwältigt werden. Bei der Befreiung stirbt die 18-jährige Silke Bischoff, eine der beiden Geiseln.
Der Banküberfall nebst anschließender Geiselnahme bildet in »Ein deutscher Sommer« jedoch nur das Gerüst. »Das Bühnenbild«, wie ­Henning sagt. »Das Ereignis ist ja durch Youtube hinlänglich dokumentiert, das wollte ich nicht noch mal erzählerisch aufbereiten.« Die Protagonisten sind andere: Sieben Menschen, die ganz unterschiedlich mit der Tat in Verbindung stehen. »Ich will erzählen, wie die große Geschichte die kleinen tangiert. Ich zeige Menschen, deren Leben sich dadurch teilweise drastisch verändern.«

 

Der SEK-Beamte Rolf Kirchner darf die Geiselnahme nicht beenden, der Fotograf Peter Ahrens wird vom Beobachter zum Vermittler zwischen Polizei und Verbrechern. Der RTL-Journalist Thomas Bertram hält sich für einen integren Reporter, und ist doch nur Teil der Meute, auf der Suche nach dem große Scoop. Eine Taxifahrerin findet sich durch ihren Gast, einen dpa-Journalisten, in vorderster Front bei der Verbrecherjagd, ein Busfahrer aus Bremen wird zum Chauffeur der Geiselnehmer.

 

Filmschnittartig springt Henning zwischen Figuren und Orten hin und  her, erzeugt ein Gefühl der Gleichzeitigkeit, das auch schon seinen ersten großen Erfolg »Die Ängstlichen« von 2009 auszeichnete. Auch in »Ein deutscher Sommer« ist alles sehr verdichtet, sehr greifbar. Die flimmernde Hitze des Sommers 1988 meint man spüren zu können, ebenso das latente Unbehagen der Charaktere. Die Protagonisten sind Drahtseiltänzer, immer mit der Option, abzustürzen. Rösner und Degowski haben diesen Absturz bereits hinter sich und befinden sich im freien Fall. Das Potenzial dazu aber tragen alle Charaktere in sich. Auch das eine Konstante: »Seit ich schreibe, interessiere ich mich für gebrochene Figuren. Für Charaktere auf der Suche nach Heil, nach Wiederher­stellung«, sagt Henning.

 

Es geht um Wirklichkeit, und um Schuld in »Ein deutscher Sommer«. Wie vermitteln wir Wirklichkeit, und was bedeutet das für die Frage nach unserer Schuld? Klug zeigt Henning auf, wie die Medien die Echtzeit-Ikonisierung des Hans-Jürgen Rösner vorantreiben und dafür sorgen, dass die Täter sich zunehmend an sich selbst berauschen. Als ein Journalist ihn mit »Herr Rösner« anspricht, ist der perplex. »›Haste dat gehört, Marion‹, rief er, ›Herr Rösner. Ich lach mich tot.‹« Auf einmal ist er nicht mehr nur der einstige Sonderschüler, der elf seiner 31 Lebensjahre im Knast verbracht hat. »Der muss ein irres Gefühl gehabt haben, als er durch Bremen lief, die Schlagzeilen sah und merkte: Ich überstrahle alles. Ab da hat er geglaubt, dass er der King sei, und dass er das Ding auch durchziehen kann«, sagt Henning. Textilgewordener Ausdruck seines Selbstbewusstseins im Roman wie in der Realität ist Rösners T-Shirt: ›Commander‹, steht in großen Buchstaben auf der Brust.

 

Die Beklemmung wird verstärkt durch die Verschränkung von Fiktion und Dokumentation. Die O-Töne von Rösner und Degowski sind allesamt transkribierte Fernseh- und Radioaufnahmen. Jedem Kapitel ist eine Pressemeldung oder ein Artikelauszug vorangestellt. Minutiös gelingt Henning die Beschreibung der atemlosen Hatz der Medienvertreter, die mit zuneh­mender Dauer jegliche Distanz verlieren und die in jener Szene in Köln kulminiert, als Rösner und Degowski mit ihren Geiseln im Auto ­mitten auf der Breite Straße stehen, umringt von einer Menschentraube. »Wir verändern uns gerade für immer. Wir alle. Jetzt in diesen Sekunden, das ganze Land«, lässt Henning den Fotografen Peter Ahrens den medialen Sündenfall einen Tick zu pathetisch in Worte fassen.

 

Für Henning, damals Ende 20 und angehender Journalist, sind die drei Tage von Gladbeck ein »Lehrstück über die Korrumpierbarkeit von uns Menschen. Ich glaube, dass uns das in unserem Grundglauben an die Medien tief erschüttert hat.« Dass die Verantwortlichen ihr Vorgehen von damals noch längst nicht aufgearbeitet haben, erfuhr Henning bei der Recherche: »Der Kölner Express hat die Tage vom 16. bis zum 18. August 1988 in seinem Archiv gesperrt«, sagt er. Auch die polizeilichen Akten sind beim SEK Köln unter Verschluss. Informationen erhielt er vor allem durch den früheren SEK-Beamten Rainer Kesting, der im vergangenen Jahr verstarb. Kesting ist Vorbild für die Figur des Rolf Kirchner.

 

Die interessanteste Nebenfigur des Buches ist die Heranwachsende Rachael. Sie vereinnahmt die Geiselnahme für ihre Politisierung und hebt die Schuldfrage auf eine höhere Ebene. »Die wahren Opfer dieser Geschichte sind die beiden Knackis«, sagt sie. »Weil sie zu denen gehören, die für die Ausbeutung, die sie erleiden, keine Entschädigung bekommen durch Lebensstandard, Konsum, Bausparvertrag, Kleinkredite, Mittelklassewagen. [...] Weil sie die Versprechungen ihrer Eltern und Lehrer, Fürsorger, Vorarbeiter und Meister, Gewerkschaftsfunktionäre, Sozialarbeiter, Bewährungshelfer und Gefängnisdirektoren als Lügen entlarvt haben. Weil sie und nicht kleinbürgerliche Intellektuelle der Welt sagen, dass jetzt Schluss ist, dass es jetzt losgeht!«

 

Mit Rachael habe er eine Figur kreieren wollen, die eine andere Sicht aufzeigt, sagt Henning. »Sie würde gerne die gesellschaftliche Nagelprobe machen. Und Rösner und Degowski haben in ihrer Unbewusstheit ja auch die Nagelprobe gemacht. Vor allem Rösner ist ja eine Art Revoluzzer in seiner Beklopptheit und Begrenztheit. Der sagt: ›Ich mache die Scheiße nicht mehr mit. Ich nehme einen Colt und mach was anderes.‹«

 

Darf man diesen Verbrecher faszinierend finden, gar zum Revoluzzer stilisieren? »Ich wollte ihn nicht nur schwarz zeichnen.  Ich habe mir vorgestellt, wie seine Biografie hätte aussehen können, wenn er nicht als kleiner Junge mit dem Gartenschlauch ausgepeitscht worden wäre«, sagt Henning. Gerne hätte er auch den heute 56-Jährigen getroffen. »Nicht, um ihn zu bestaunen. Aber ich habe mich vier Jahre mit diesem Mann auseinandergesetzt. Ich hätte ihm gerne von dem Buch erzählt.« Das wurde Henning bislang verwehrt. Der Gefängnispsychologe erklärte ihm im Gespräch: »Ich werde alles tun, damit sie Rösner nicht treffen. Der denkt immer noch, es wäre 1988. Ich will nicht, dass der wieder glaubt,
er sei ein Star, jetzt schreibt man sogar ein Buch über ihn.«

 

Das Medienrad dreht sich unterdessen weiter, auch 25 Jahre nach dem Geiseldrama. Im vergangenen Jahr berichtete die Boulevardpresse über Rösners Heiratspläne im Knast, die Gnadengesuche Degowskis. Dass die Geiselnahme heute anders verlaufen würde, glaubt Peter Henning nicht. Im Gegenteil: »Man hat zwar anschließend die Pressegesetze verschärft. Aber wenn morgen wieder dasselbe passiert, steht die doppelte Zahl von Journalisten am Auto.«

 

Peter Henning: »Ein deutscher Sommer«. Aufbau Verlag. Berlin 2013, 608 S., 22,99 €.