Kinderknochen im Garten

Der Rechtsvorgänger des Landschaftsverbandes Rheinland (LVR) unterhielt in Waldniel bei Mönchengladbach eine »Euthanasie«-Anstalt. Dort wurden fast 100 Kinder ermordet

 

»Nein, das sind keine Soldaten«, sagt der Security-Mann und muss grinsen. »Die spielen nur Paintball. Schauen Sie, da liegen überall diese weißen Kugeln herum, 6-Millimeter-Munition, aber Plastik, kein Metall.« Mehrere junge Männer in kruden Flecktarn-Uniformen eilen über das Gelände, ziehen sich in eins der verfallenden Gebäude zurück. »Die sind immer wieder mal hier«, fährt der Mann fort, »das sind Bekannte von uns. Manchmal gibt es auch Führungen durch die Häuser. Einige glauben, dass es darin spukt, weil hier ja so viele Kinder umgebracht worden sind; sie wollen unbedingt nachts hier rein, wegen des Grusel-Faktors.«  Auch das ermöglichen die Security-Männer ihren Gästen. Wer will, kann sich bei einer nächtlichen Führung von ihnen erschrecken lassen, »das gibt einen zusätzlichen Kick.« Der Mann grinst wieder durch das mit Stacheldraht gesicherte Metalltor. »Machen Sie’s gut, ich muss weiter, einen Kontrollgang machen.«

 

Das ehemalige St. Josefsheim der Franziskaner in Waldniel-Hostert, das heute als Kulisse für Kriegsspiele dient, ist in den frühen 1940er Jahren ein Schauplatz der NS-Euthanasie-Morde gewesen. Die Franziskaner hatten die gewaltige, zu Beginn des 20. Jahrhunderts errichtete Anlage als Heim für bis zu 600 lernschwache, geistig oder körperlich beeinträchtigte Jungen und Männer genutzt, bis sie sie im Mai 1937 auf Druck der NS-Behörden räumen mussten. Noch im selben Jahr übernahm die rheinische Provinzialverwaltung die Anlage. Sie führte die »Heil- und Pflegeanstalt« weiter — und stellte einen Trakt zur Verfügung, als im Mai 1941 die Berliner Führer-Kanzlei die Einrichtung einer sogenannten Kinderfachabteilung in der Rheinprovinz verlangte.

 

»Kinderfachabteilung« — das war ein verschleiernder Name für einen Teil der Mordmaschinerie, mit der die Nazis ihre Vorstellungen von einem »gesunden Volkskörper« zu verwirklichen trachteten. »Die Schwäche» müsse »vernichtet« werden, »um der Stärke den Platz zu schenken«, hatte Hitler bereits in »Mein Kampf« verlangt. Ein erster praktischer Schritt war das »Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses« vom 14. Juli 1933, das die Sterilisierung von Menschen mit physischen oder psychischen Beeinträchtigungen vorsah. Es sollte die Fortpflanzung derjenigen, die die Nazis für »lebensunwert« erklärten, verhindern. An die »Reinigung« des »Volkskörpers« vom bereits vorhandenen »lebensunwerten Leben« durch den Massenmord an Behinderten und Kranken wagte sich die NS-Führung, da sie Widerstände befürchtete, erst im Windschatten des Krieges. Ein Führer-Erlass vom 1. September 1939 gestattete die »Euthanasie«-Morde (»Aktion T4«). Nun ging es darum, Zugriff auf all diejenigen zu erhalten, die umgebracht werden sollten. Um an Kinder heranzukommen, die von ihren Eltern zuhause gepflegt wurden, richteten die Nazis »Kinderfachabteilungen« ein — Heime, in denen, so behaupteten die Behörden, die moderne Medizin Hoffnung auf Heilung von allen Beeinträchtigungen bot.

 

Eine solche »Kinderfachabteilung« entstand Ende 1941 in Waldniel. Mit 200 Betten ist sie womöglich die größte im Reich gewesen; auf einer Landkarte in der Berliner Ausstellung »Topographie des Terrors« ist sie eigens verzeichnet. Was aber ist dort geschehen? Das wollte der Betriebswirt Andreas Kinast genauer wissen, als er eine Arbeitsstelle in der Sparkasse in Waldniel annahm und täglich an dem gewaltigen Gebäudekomplex vorbeifuhr. Kinast stellte fest: Die Geschichtswissenschaft hat die rheinische »Kinderfachabteilung« bislang weitgehend ignoriert. Wer wissen will, was dort vor sich ging, muss selbst in den Archiven recherchieren. Kinast hat das, ob­gleich er selbst kein Historiker ist, getan. Seine Studie erschien 2010 unter dem Titel »Das Kind ist nicht abrichtfähig — ›Euthanasie‹ in der Kinderfachabteilung Waldniel 1941–1943« in einer Schriftenreihe des Landschaftsverbands Rheinland. Das Buch geht inzwischen in die dritte Auflage.

 

Bei Kinast kann man nachlesen, wie in der »Kinderfachabteilung« bis zu ihrer Räumung vor genau 70 Jahren — Anfang Juli 1943 — fast einhundert Kinder getötet wurden. Gertrud W. etwa wog, als sie Ende 1941 mit neuneinhalb Jahren eingeliefert wurde, 21 Kilogramm. Bis Juli 1942 hatten die Zuständigen in Waldniel sie per Mangel­ernährung auf elf Kilogramm heruntergehungert. Am 2.?Oktober 1942 verstarb sie. Einen potenziell todbringenden Gewichtsverlust stellte Kinast bei allen Kindern fest, deren Akten er finden konnte. Manchmal wurde zusätzlich Luminal benutzt, um Kinder umzubringen. Luminal ist ein Medikament zur Behandlung von Epilepsie; verabreicht man es Kindern einige Tage lang in Überdosis, dann sterben sie an Lungenentzündung. Auf diese Weise sind wohl 30 Kinder in Waldniel ermordet worden.

 

Die Täter waren Profis. Georg Renno etwa, der erste Leiter der Abteilung, hatte zuvor als stellvertretender ärztlicher Leiter der »Euthanasie«-Mordanstalt Hartheim gewirkt. Unter seine Verantwortung fällt damit der Gaskammer-Mord an mehr als 18.000 Menschen. Ihm folgten zuerst die Ärztin Hildegard Wesse und kurz darauf ihr Ehemann Hermann. In seiner Zeit wurden in Waldniel 91 Kinder zu Tode gebracht. Anschließend ging das Ehepaar Wesse an die Universitätsklinik Leipzig, das Zentrum der Kinder-»Euthanasie«. Beide waren auch danach noch in »Euthanasie«-Morde involviert.

 

An die ermordeten Kinder erinnern in Waldniel nur eine kleine Gedenktafel am Tor zum Anstaltsfriedhof und ein verblichener Gedenkstein. »Ist es nicht tragisch«, fragt Andreas Kinast, dass »in Waldniel, wo die Ruine der Kinderfachabteilung vor sich hin modert, kaum jemand etwas über diese Dinge weiß? Wäre es nicht tragisch, wenn wir alle uns irgendwann daran nicht mehr erinnern?« So sieht es auch der renommierte, international besetzte »Arbeitskreis zur Erforschung der nationalsozialistischen ›Euthanasie‹ und Zwangssterilisation«, der sich im Juni 2012 mit einem »Waldnieler Appell« zu Wort gemeldet hat. Er fordert, einen würdigen Gedenk- und Erinnerungsort auf dem Anstaltsgelände zu schaffen. Das wäre umso wichtiger, als eine große Gedenkstätte für die »Euthanasie«-Opfer in Nordrhein-Westfalen bis heute fehlt.

 

Im Oktober 2012 haben Mitglieder des Arbeitskreises, Vertreter der Gemeinde Waldniel und Arie Nabrings vom Landschaftsverband Rheinland (LVR) die Forderung bei einem Runden Tisch diskutiert. Der LVR kann sich ihr schlecht entziehen: Er ist unbestritten der Rechtsnachfolger der Provinzialverwaltung, in deren Waldnieler Anstalt die Kinder ermordet wurden. Nabrings bot bei dem Treffen an, der LVR könne künftig Schulen dabei unterstützen, Schülerinnen und Schüler über die »Euthanasie«-Morde der Nazis zu informieren. Das wiederum hält der Arbeitskreis für viel zu wenig. Ein Dreivierteljahr nach dem Runden Tisch sind die LVR-Gremien immer noch damit befasst, sich in der Sache eine Meinung zu bilden. Frühestens im Herbst sei mit einer Entscheidung zu rechnen, heißt es.

 

Die einstigen Anstaltsgebäude, in denen die Kinder zu Tode gebracht wurden, verfallen unterdessen weiter. Im letzten Herbst fand eine Anwohnerin beim Umgraben in ihrem Garten Knochen, mutmaßlich sterbliche Überreste eines Kindes. Der Garten grenzt an den alten Anstaltsfriedhof, der, wie Kinast vermutet, für die zahl­reichen »Euthanasie«-Opfer zu klein geworden war und inoffiziell wohl auf Nachbargrundstücke ausgedehnt wurde. Menschliche Knochen würden in den dortigen Gärten immer wieder gefunden, bestätigt die Viersener Polizei. Die Gerichtsmedizin habe bislang jedoch nie Spuren entdeckt, die auf ein aktuelles Verbrechen hindeuteten. Daher unternehme man nichts.

 

Ob der LVR sich dazu durchringen kann, den Aufbau eines Gedenk- und Erinnerungsortes auf dem ehemaligen Anstaltsgelände in die Hand zu nehmen? Die ermordeten Kinder hätten ein würdigeres Andenken verdient. Zumal die kleine Ortschaft kurz vor der niederländischen Grenze keinesfalls geschichtsvergessen ist. Ganz nahe bei den verfallenden Anstaltsgebäuden findet sich eine sorgsam gepflegte Gedenkanlage. Sie erinnert — fein herausgeputzt — an fünf Männer, die ebenfalls in der ersten Hälfte der 1940er Jahre ums Leben kamen. Es waren deutsche Soldaten, an den Fronten des NS-Reichs, wie man so sagt, »gefallen für Volk und Vaterland«.