Foto: Manfred Wegener

Spurensuche, unterwegs auf alten Bahntrassen im Bergischen

Von Köln-Mülheim fuhren einst die Dampflokomotiven durch den Königsforst bis ins 50 Kilometer entfernte Lindlar. Heute ist von ­diesem Wahrzeichen der Industrialisierung kaum noch etwas übrig geblieben. Manfred Wegener (Fotos) und Bernd Wilberg (Text) sind mit dem Autor und Eisenbahnexperten Bernd Franco Hoffmann auf die Suche nach überwucherten Gleisen, alten Bahndämmen und kuriosen Geschichten entlang der Strecke gegangen.

Hat es sie überhaupt gegeben? Oder ist die sagenum­wobene Sülztalbahn von Köln-Mülheim über Bergisch Gladbach und Rösrath nach Lindlar bloß ein Geisterzug? Ein industrie-mythologischer Totentanz, der durch die Köpfe von Eisenbahnromantikern spukt? »Ich habe mich das auch gefragt, ernsthaft«, sagt Bernd Franco Hoffmann. »Die Sülztalbahn wirkt heute wie ein Mythos. Aber es gab sie.«

 

Der Kölner Journalist hat für sein Buch »Stillgelegte Bahnstrecken im Bergischen Land« nicht nur Archive durchwühlt, er hat auch mit den Menschen gesprochen, die an und von der ab 1868 errichteten und 1966 endgültig stillgelegten Bahnstrecke lebten: Lokführern, Bahnhofsvorstehern und jenen, die entlang der Strecke lebten und arbeiteten. Und er ist gewandert. Viel gewandert. Hoffmann sieht sich als Detektiv, der die Spurensuche entlang überwucherter Trassen aufnimmt. Ein GPS-Gerät braucht er nicht, und die Strecken geht er zu Fuß ab. »Ich bin dann wie im Fieber, gehe immer weiter, kämpfe mich auch durchs Gebüsch, soweit es geht. Manchmal findet man dort einen Kilo­meterstein, manchmal eine alte Weiche. Und irgendwo hinter Büschen, in Wäldern, entdeckt man dann plötzlich die Reste der alten Bahntrasse.«

 

Nebenstrecken im Bergischen Land. Nichts, mit dem man Partys aufmischen kann. Ein Thema für heimatkundliche Autodidakten, die immer alles besser wissen? Da muss Hoffmann lachen. Die Beflissenheit mancher Hobby-Historiker habe ihn tatsächlich erstaunt. »Im Ber­gischen ist ja fast jeder Rentner zugleich Heimat­for­scher, da gibt es zu jedem Dorf mindestens ein Buch«, erzählt Hoffmann. »Mich löchern die dann bei Buch­vor­stellungen mit Fragen zu technischen Details!« Aber er sei kein Trainspotter, kein Nerd, der Kursbücher frisst. Die Technik interessiere ihn nicht so sehr, sondern die Geschichte und die Geschichten der Bahnstrecken. Ihm gehe es darum, das lebendig zu erzählen, journalistisch eben.
Die Geschichte der Sülztalbahn ist vor allem eine Erzählung vom rasanten wirtschaftlichen Aufschwung und vom schleichenden Niedergang. »Ein Tod auf Raten«, sagt Hoff­mann. Die Liebe zur Eisenbahn im Bergischen Land — sie wurde von der Politik und Wirtschaft zunächst er­widert, aber dann prallte sie am ökonomischen Kalkül ab. Das lohnt sich nicht mehr, hieß es schon in den 50er Jahren.

 

Dabei war die Eisenbahn in der zweiten Hälfte des 19.?Jahrhunderts noch der Motor des wirtschaftlichen Booms. Zuvor mussten Fabrikbesitzer und Bauern im Bergischen ihre Waren noch mit Pferdefuhrwerken Richtung Rhein karren lassen. Es war allerdings weniger Köln als die damals noch selbstständige Stadt Mülheim, die einen sensationellen Wirtschaftsaufschwung verbuchte. Von hier konnten die Waren am Hafen über den Rhein verschifft werden. Mülheim war Boomtown. Kein Wunder, dass die Politiker in Köln einen begehrlichen Blick auf die selbstständige Stadt warfen, die dann schließlich zum 1. April 1914 eingemeindet wurde.

 

1845 errichtete die Cöln-Mindener Eisenbahngesellschaft am Wiener Platz den ersten Bahnhof an der Strecke zwischen Deutz und Düsseldorf. Bereits 1875 führten fünf Bahnlinien durch Mülheim; so kamen Tuch aus Wuppertal und Stahl aus Solingen hier an. Am Wiener Platz hatten sich mehrere private Eisenbahngesellschaften eigene Bahnhöfe gebaut. »Da hat einer dem anderen die Gleise nicht gegönnt«, erklärt Hoffmann. »Erst durch die Verstaatlichung der Bahn in den 1880er Jahren wurde der Schienenverkehr bessert koordiniert und damit der Wildwuchs eingedämmt.« 1909 wurde dann der Bahnhof an die Montanusstraße verlegt, den alten riss man ab.

 

Unsere Detektivgeschichte zum Fall Sülztalbahn beginnt also in Mülheim, wo Bernd Franco Hoffmann auch geboren ist. Die meisten Pendler in der S-Bahn S 11 wissen gar nicht, dass sie sich zwischen Köln-Mülheim und Bergisch Gladbach auf der Trasse der einstigen Sülztalbahn befinden. Ende 1868 wurde dieser erste Teilabschnitt von der Ber­gisch-Märkischen Eisenbahngesellschaft eröffnet. Zwar wollten damals schon die Unternehmer im Bergischen Land über die Bahn an Köln angeschlossen werden, um etwa Kohle oder Grauwacke an den Rhein liefern zu können — doch zunächst verkehrten die Dampflokomotiven nur bis ins zehn Kilometer entfernte Bergisch Gladbach.

 

Gleich an der ersten Station Holweide geht es los mit den Geschichten. Hoffmann, der auch eine umfangreiche Enzyklopädie sämtlicher Bundesliga-Torhüter verfasst hat, erzählt die Geschichte vom Torwart Fritz Herkenrath, der 1950 mit dem SC Preußen Dellbrück in die Endrunde der Meisterschaft einzog. Nur deshalb gibt es heute diesen Haltepunkt. Die Bundesbahn gab zwar damals die Erlaubnis, hier zu halten, aber nur, wenn es einen provisorischen Bahnsteig gebe. Prompt baute Vereinsvorstand Willy Röhrig mit den Preußen-Anhängern den Bahnsteig. Und die Fans konnten von hier zur Endrunde fahren. »Preußen schied dann aber im Halbfinale gegen die Offenbacher Kickers aus«, weiß Hoffmann.
Auf Dellbrück folgt Duckterath. Der Haltepunkt, der 1950 als letzter an der Sülztalbahn errichtet worden war. Das Auf­regendste an Duckterath ist, dass sich hier im vergangenen Jahr wegen des klangvollen Namens die Donaldisten trafen, Forscher und Fans der berühmten Comic-Figur aus Enten­hausen. So brachten sie Duckterath immerhin vereinzelt in die Vermischtes-Spalten einiger Tageszeitungen.

 

In Bergisch Gladbach endet unsere S-Bahn. Ein spröder Empfang im Kopfbahnhof mit Bus-Terminal, Einkaufs­zentrum, Schnellstraße. Kaum noch etwas ist von der Sülztalbahn übrig geblieben. Mit dem Fahrrad in Fahrtrichtung zurück gelangen wir zum alten Bahndamm (siehe Wegbeschreibung Seite XXX). Schließich gelangt man nach Bensberg, wo 1870 der Weiterbau der Strecke für rund zwanzig Jahre stoppte.

 

Nun geht es weiter durch den Königsforst. Es muss Ende des 19.?Jahrhunderts eine wildromantische Fahrt gewesen sein. Heute begegnet man vor allem Radlern und Spaziergängern. Die alte Trasse ist zum Radweg umgebaut worden, er führt hinunter nach Rösrath. Die Gleise im Königsforst wurden Anfang der 1960er Jahre alle schnell entfernt. Den Bahnhof Forsbach ließ man verrotten, heute ist nichts mehr von ihm zu sehen, außer einem Gedenkstein. Warum eigentlich lag der Bahnhof im Wald versteckt? »Man sollte nicht allzu leicht zur Bahnstrecke nach Köln gelangen«, erklärt Hoffmann. »Die ansässigen Unternehmen befürchteten, die Forsbacher Arbeiter ­würden sonst allesamt nach Köln abwandern.«
Weiter geht‘s nach Rösrath — und plötzlich: Schienen! »Am Bahnhof Rösrath trifft die Regionalbahn aus Richtung Köln ein«, weiß Hoffmann. »Es ist nach der S?11 der einzige noch intakte Teil der Streckenführung«. Anderthalb Kilometer fährt die Aggertalbahn auf der Strecke der historischen Sülztalbahn bis nach Hoffnungsthal, dem ältesten — und schönsten — Stadtteil von Rösrath. Der heutige Bahnhof allerdings, da muss man Hoffmann recht geben, versprüht bloß »nüchterne Haltepunkt-Atmosphäre«. Früher aber, so Hoffmann, hätten fast alle Bahnhöfe entlang der Strecke ein halbwegs repräsentatives Ambiente gehabt, samt Gastronomie. Gerade die hätte auch dafür gesorgt, dass Kölner in ihrer Freizeit den Weg mit der Sülztalbahn ins Bergische genommen hätten.

 

Hinter der Abzweigung bei Hoffnungsthal — die Aggertalbahn fährt von hier weiter nach Lohmar-Honrath — verliert sich wieder die Spur der ehemaligen Sülztalbahn auf dem Weg nach Untereschbach. Dafür: Endlich die Sülz! So ein kleines Flüsschen, und doch gibt es der gesamten Region den Namen! Hin und wieder findet man entlang der Strecke noch Reste des alten Bahndamms. Von hier wurden im Güterverkehr auch Waggons mit Erz nach Immekeppel transportiert, erzählt Hoffmann. Es gab einen Anschluss zur Grube Lüderich, wo die belgische Gesellschaft Vieille Montagne bis 1978 sechs Gruben bis zu einer Tiefe von 450 Metern betrieb. Rund 2000 Bergleute arbeiteten hier. Das Bahnhofsgebäude in Imme­keppel war offiziell seit 1891 an die Strecke angeschlossen und zwanzig Jahre auch Endstation. Heute gibt es in Immekeppel zwar noch einen Bahndamm, aber keine Schienen mehr. Alles ist überwuchert.

 

Die Strecke zwischen Immekeppel und Obersteeg ist für Wanderer und Radfahrer reizvoll. Hoffmann, der bekennende Atheist, sagt, beim Wandern durch den Wald sei er regelrecht ergriffen gewesen. Dort entlang zu gehen, habe fast einen meditativen Charakter. »Dass hier mal Dampfloks durchgefahren sind — das kann man sich ja gar nicht mehr vorstellen...«
Die Alten, die den sogenannten Sülztal-Express noch erlebten, sagt Hoffmann, verfallen oft in Nostalgie. Bei Politik und Verwaltung hält sich die Eisenbahn-Romantik allerdings in Grenzen. Unter NRW-Verkehrsminister Oliver Wittke (CDU) wurden in den Nuller Jahren die Gleise zahlreicher Nebenstrecken endgültig demontiert. Auch die Wirtschaft hatte kein Interesse an Nostalgie, die Gleise störten nur. Heute sind viele ehemalige Bahnstrecken durch das Bergische Land mit Gewerbeflächen überbaut. Hoffmann ist ja nicht nur die Strecke der Sülztalbahn entlanggewandert, sondern auch andere Nebenstrecken. Etwa die Wippertalbahn zwischen Marienheide und Wipperfürth oder den »Balkan-Express« zwischen Op­laden und Remscheid-Lennep. Da ist also Hoffmanns Spürsinn gefragt, wenn er sich durch die Büsche schlägt oder auch mal über Zäune klettert, um die Streckenführung zu rekonstruieren.
Es gibt durchaus Stimmen, die eine Reaktivierung der Strecken auch verkehrspolitisch für sinnvoll erachten. »Doch wenn die Schienen erst einmal weg sind, ist eine Reaktivierung so gut wie ausgeschlossen«, sagt Hoffmann. Zu hoch wären die Investitionen, zumal auch Brücken und Bahnbauwerke errichtet werden müssten. So sind viele Orte im Bergischen Land nur noch mit dem Auto erreichbar. Zwar gibt es Buslinien, aber die zuckeln nur wenige Male täglich über die Dörfer.

 

Dass die Sülztalbahn tatsächlich hier entlangfuhr, wird hinter Immekeppel deutlich. Gut ein Dutzend Viadukte sind vollständig oder in Überresten zu erkennen. »Die Bahn fuhr damals übrigens bloß rund 50 Stundenkilometer«, sagt Hoffmann. »An den unbeschrankten Bahnübergängen nur dreißig.« Manchen Reisenden sei die Bahn sogar zu langsam gewesen. Zeitzeugen erzählen, dass sie zwischen nahe gelegenen Statio­nen oft zu Fuß gegangen seien. »Das war Bimmelbahn-Tempo, die Bahn ist gemütlich durchs Sülztal gezuckelt.« Dennoch war die Gemütlichkeit nicht ungefährlich. »Die Dampflokomotiven sprühten manchmal Funken«, erklärt Hoffmann. »Dann gerieten im Sommer schon mal die Böschungen in Brand und mussten gelöscht werden.«

 

Die nächste Station heißt Obersteeg, von 1912 bis zur Stillegung 1966 war der Bahnhof an die Sülztalstrecke angeschlossen. Heute befindet sich das Gebäude in Privat­besitz, samt Klohäuschen und Güterschuppen. Einerseits ein Blickfang für Bahn-Nostalgiker und Radwanderer, ande­rerseits sehen es die Besitzer nicht gern, wenn man vor dem altehrwürdigen Bau steht und Fotos macht. Also weiter.

 

Rund zwei Kilometer vor Hommerich geht es ab nach Georghausen, wo es nicht nur einen Golfplatz, sondern auch eine restaurierte Mühle und ein pittoreskes Wasserschloss gibt. Zwischen 1943 und 1960 machte die Sülztalbahn hier halt. Viele ausgebombte Kölner Honoratioren hätten den Haltepunkt durchgesetzt, sagt Hoffmann.

 

In Hommerich, wo einst eine Kunststofffabrik, ein Holzlager und eine Molkerei ansässig waren oder zum Teil sogar noch sind, führt ein neuer Radwanderweg bis zur Endstation Lindlar. Nach etwa drei KIlometern kommt man in Linde an. Die Bedeutung des Bahnhofs war äußerst gering, so Hoffmann, heute ist er einer der schönsten Orte entlang der Strecke. »Ein Schmuckstück«, sagt Hoffmann. »Und das liegt an Haeck.« Der Diplom-Kaufmann Hermann Haeck hatte große Pläne, als er den Bahnhof Linde Anfang der 1970er Jahre kaufte. Eine Museums­bahn sollte von hier über ein Viadukt zur eins­tigen Endstation Lindlar fahren, wo es ein Sülztalbahn-Museum geben sollte. Haeck ließ sogar eine Dampflok aus Duisburg ankarren — vom Bahnhof Engelskirchen wurde der Koloss über die Serpentinen bis zu Haecks Sülztal-Xanadu gehievt. So brachte Haeck etwas Fitzcarraldo-Flair ins vorweihnachtlich geschmückte Bergische Land. Die Schienen, die man am Bahnhof sieht, stammen auch von Haeck, sie sind keine Sülztalbahn-Relikte, sondern sollten der Start für seine Museumsbahn sein. Doch Haeck fand keine Unterstützer für seine Idee. »Damals hieß es: Wir wollen keinen Haeck-Meck«, berichtet Hoffmann. Bahnromantik stand nicht hoch im Kurs. »Das Bahnhofsgelände sollte sogar mal einer Müllverbrennungsanlage weichen«

 

Von Linde führt der Radwanderweg weiter zum Ziel unserer Spurensuche, nach Lindlar. Seit 1912 endete die Sülztalbahn hier. Zwölf Gleise, ein markanter Wasserturm und eine Drehscheibe, um die Dampflokomotiven wieder Richtung Köln auszurichten. Eigentlich sollte die Strecke um gut 15 Kilometer nach Wipperfürth verlängert werden, doch dazu kam es nie. Stattdessen wurde die Strecke ab den 1960er Jahren schrittweise stillgelegt, das Empfangsgebäude wechselte die Besitzer — Anfang der 70er Jahre gab es hier eine Discothek und etwas Rotlicht-Flair mit Striptease-Show. Heute residiert eine Spedition im historischen Bahnhofsgebäude. Noch ein paar hundert Meter weiter wird bis heute Grauwacke in den Steinbrüchen gewonnen. Abtransportiert wird sie über die Schnellstraße, hinter der ein Discounter liegt. Der alte Bahndamm endet vor Aldi.

 

Lese-Tipps
Unser Experte hat zwei Bücher zu Eisenbahn­strecken im Bergischen geschrieben:

 

Bernd Franco Hoffmann, Stillgelegte Bahnstrecken im Bergischen Land, 128 Seiten, Sutton Verlag 2013, 19,95?€

 

Bernd Franco Hoffmann, Die Sülztalbahn — Geschichte und Geschichten der Strecke, 192 Seiten, Verlag Rösrather Geschichtsverein 2012, 19,95?€