Foto: Gernot Huber

Auf dem Rücken des Tigers tanzen

Im August 1973 kam es zu einem wilden Streik bei Ford. Die Öffentlichkeit war erschüttert, das Ereignis hat sich (nicht nur) in das Kölner Bewusstsein gebrannt. Vierzig Jahre später stellt sich noch immer die Frage nach seiner eigentlichen Bedeutung

Fünf Tage, die Köln erschüttert haben? Schwer zu sagen. Irgendwie schon … natürlich, klar. Der Fordstreik vom August 1973 gehört zur Kölner Geschichte, zum Kölner Bewusstsein, wer sich linkspolitisch engagiert, wird eher früher als später auf dieses Ereignis gestoßen. Der Fordstreik — das war noch was!

 

»Zehn Tage, die die Welt erschütterten«, so heißt eine berühmte Reportage, die der amerikanische Journalist und Kommunist John Reed über die russische Oktober­revolution schrieb. Warren Beatty, der amerikanische Schauspieler und Kommunist, hat das Buch als Monumentalfilm für Hollywood inszeniert, er hat dafür den Oscar bekommen. Der Fordstreik — auch so etwas wie eine Revolution? Der Streik endete in einer Niederlage, mit der gewaltsamen Räumung des besetzten Werksgeländes, der fristlosen Entlassung der (vermeintlichen) Rädelsführer. Aber vielleicht ist das auch nur ein Pyrrhussieg der Gegenseite gewesen — der Werksleitung samt der konformistischen Gewerkschaft, die sich gegen den Streik stellte. Es kommt auf Zeitspanne an, einen anderen Maßstab. Aber welchen?

 

Man sollte das Verhältnis umdrehen: Der Streik löste keine Erschütterung aus (wie, um im Bild zu bleiben, die Oktoberrevolution), sondern verdankt sich einer Erschütterung. Die Niederlage markierte keinen Endpunkt — ist nicht das verspätete Ende und letzter Nachklapp des Revoltenjahres »1968« —, sondern einen Anfang. Die Erschütterung hat seitdem nicht nachgelassen. Klingt bizarr, oder? In ganz Europa verschärfen sich die sozialen Auseinandersetzungen und in Deutschland: nichts. Friedhofsruhe. Welche Erschütterung? Fangen wir also noch mal von vorne an.

 

1973 rollte durch die Bundesrepublik eine bis dato nie erlebte Streikwelle: 275.000 Arbeiterinnen und Arbeiter in mindestens 335 Betrieben beteiligten sich an ihr, und das sind nur die offiziellen, wie immer: mit Vorsicht zu genießenden Zahlen. Allein im August wurden 107 Betriebe bestreikt, 80.000 Arbeiter befanden sich im Ausstand. Mindestens 8000 davon aus Köln — das war der Fordstreik, vom 24. August, einem Freitag, bis zum darauf folgenden Donnerstag. Die Streiks waren größtenteils »wild«, also ohne gewerkschaftliche Absprachen, kein Anhängsel eines tarifpolitischen Rituals. Wo sich die Gewerkschaften unterstützend an den Streiks beteiligten, waren sie die Getriebenen ihrer Basis. Die Streiks gingen quer durch alle Branchen. Deutschland stand am Rand von ernsthaften Klassenkämpfen, wie man sie aus Italien kannte, oder Frankreich, oder Polen.

 

Vier Jahre zuvor war das schon mal so, 1969 erlebte die Republik die Septemberstreiks (vor allem in der Stahl- und Metall verarbeitenden Industrie), auch die waren »wild«, aber ganz anders: eine taktische Meisterleistung der Arbeiter, denn sie streikten kurz vor den Bundestagswahlen, so traute sich kein Unternehmer, kein Politiker, kein Richter diese Streikwelle zu kriminalisieren. Es ging um höhere Löhne, und die Streikenden waren vor allem weiß und männlich. Man kann davon ausgehen, dass die Streiks von sozialistischen Gewerkschaftszellen ausging, also stillschweigend von der IG Metall gebilligt wurden, ein Triumph der, wenn man so will, alten Arbeiterbewegung. Die es nicht mehr gibt und nie wieder geben wird. Schon kurze Zeit später nicht mehr.

 

1973 sieht die Streikfront schon ganz anders aus. Zum einen weil viele 68er in die Betriebe gegangen sind, um sich aktiv in die Klasse einzumischen. Das wird heute —

 

und wurde auch schon damals — eifrig belächelt, aber es bedeutete, dass eine größere Anzahl heftig antiautoritär sozialisierter Menschen in ein starres, streng hierarchisches Arbeits- und Betriebsgefüge einbrach. Zum ande­­ren — und vor allem! — sind es migrantische Arbeiterinnen und Arbeiter, die streiken. Zum ersten Mal erlebt eine erschrockene deutsche Öffentlichkeit so genannte Gastarbeiter als politisches Subjekt — als Herren ihres eigenen Geschicks, ab diesem Moment sind sie keine Gastarbeiter mehr. Erst über ein Vierteljahrhundert nach dem Fordstreik erkennt eine deutsche Regierung an, dass die Republik ein Einwanderungsland ist. Faktisch stand das bereits 1973 fest. Die streikenden Migranten fordern nicht nur höhere Löhne — die natürlich auch —, sie fordern mehr Urlaub, die Aufhebung diskriminierender Lohngruppen, langsamere Fließbandgeschwindigkeiten. Kurz: Es sind qualitative Forderungen, Forderungen, die sich gegen das Arbeitsregime richten.

 

Sie zeugen von einem neuen Selbstbewusstsein — der migrantischen Arbeiter. Das Anwerbeabkommen war gekündigt, die Arbeiter mussten sich entscheiden: Bleiben wir hier oder gehen wir zurück? Pendeln zwischen Heimat und Gastarbeit war nicht mehr möglich. Wer in Deutschland, der neuen Heimat, blieb, holte seine Familie nach — und beschloss, vernünftiger behandelt zu werden. Was zum Beispiel Ford praktizierte — vor allem in der berüchtigten Y-Halle, der Endmontage, ein Ort, den Günter Wallraff einst als Vorhof zur Hölle beschrieb und an dem 6.500 Arbeiter, fast ausschließlich aus der Türkei stammend, schufteten — war das, was schwarze Automobilarbeiter in den USA »Niggermation« nannten. Das Management verzichtete auf die kostspielige Investition in moderne Technologie — Automatisierung, »automation« im Englischen — und setzte auf den Verschleiß billiger und in Massen verfügbarer Arbeitskräfte. In Detroit waren das Schwarze, die als Arbeitsmigranten aus den Südstaaten kamen, in Köln waren es Türken. In der Niehler Y-Halle müssen viele bei brüllendem Lärm über Kopf arbeiten, wer das über einen längeren Zeitraum macht, ruiniert sich Nacken und Schultern. Aber es sind ja nur Gastarbeiter, Nachschub ist schnell zu haben.

 

In den Tagen und Wochen vor dem Kölner Streik ist die Lage aufgeheizt. Es sind mehrere Hundert türkischer Kollegen gekündigt worden, weil sie zu spät aus dem Urlaub zurückgekommen sind. Das kam bereits in früheren Jahren vor, dann wurde eben nachgearbeitet. Jetzt folgen aber Entlassungen — und keine Neueinstellungen. Der Druck auf die Verbliebenen erhöht sich, und am Nachmittag des 24. August platzt einigen der Kragen, sie treten in den Ausstand. Weil die hochgradig arbeitsteilig organisierte Fabrik ein System kommunizierender Röhren ist, also ein Ereignis an Stelle Y sich in Windeseile in alle anderen Werkshallen verbreitet, ist allen klar — der restlichen Belegschaft, den linken Betriebsgruppen, dem Management —, dass sich da was zusammenbraut. Am Wochenende wird nicht gestreikt, aber ab Montag früh, den 27. August, ist der Betrieb besetzt, um die sofort angedrohten Aussperrungen und den Einsatz von Streikbrechern zu verhindern. 8000 — andere sagen: 12.000 — Arbeiter haben Ford lahmgelegt, und viele bleiben auch, übernachten in den Hallen, debattieren in Permanenz. Eine Streikleitung wird gewählt — erst hier kommen die deutschen Linken ins Spiel, die mit dem Ausbruch des Streiks selbst nichts zu tun hatten —, Betriebsrat und Gewerkschaft gelten den Streikenden tendenziell als Parteien der Gegenseite. Kein Wunder: Die IG Metall war seit Anfang der 60er Jahre bemüht, bei Ford eine Massenbasis aufzubauen und stellte die rein numerische Stärke der Organisation über alles, dafür war man auch zur »vertrauensvollen Zusammenarbeit« mit der Betriebsleitung bereit. Der Betriebsrat überging die Bedürfnisse der türkischen Arbeiter fast völlig, ein türkischer Kollege, der mit überwältigendem Stimmerfolg in den Betriebsrat gewählt wurde, erhielt keine Freistellung, weil er angeblich zu wenig Deutsch könne.

 

Der Streik setzt Emotionen frei, wer die Fabrik bis dato als einen Ort der Erniedrigung und des Aussaugens erlebt hat, entdeckt, dass alles von ihm abhängt — wenn nicht gearbeitet wird, passiert auch nichts. So einfach ist das, so erhebend, noch heute sprechen alte Aktivisten davon, es sei ein Tanz auf dem Rücken des Tigers gewesen. Vielleicht erklärt sich daraus die überharte Repression, die den Streikenden angedroht wird: Der Profitausfall wird aufs gesamte Geschäftsjahr bezogen eher gering gewesen sein, aber der emotionale Effekt, diese Explosion der Befreiung, das Durchatmen — wenn das Schule machen würde, wenn der Funke überspränge! Nicht auszudenken.

 

Aber schon ab Dienstag zeichnet sich ab, dass der Kreis der aktiven Streikenden sich auf die türkischen Arbeiter und die linken Gruppen beschränkt, die Spaltung ist da, die Gewerkschaft kann ihren Einfluss auf die deutschen Kollegen geltend machen. Halbgare Kompromisse werden angeboten, auf die die Streikenden nicht eingehen können — nicht nach diesen Tagen des Zorns und der Euphorie, nicht nach dieser demütigenden Vorgeschichte. Die Presse schießt sich auf die Streikenden ein, die übliche, todsichere Kommunistenparanoia. Selbst Bundeskanzler Willy Brandt mischt sich ein und ruft zur Rückkehr zur Normalität auf, und ganz konkret ruft Ford via Lautsprecherdurchsagen in den KVB-Linien seine Arbeiter dazu auf, zu Hause zu bleiben, nicht zum Werk zu fahren. Dort sollen die Streikenden isoliert werden. Die Räumung steht bevor, der Streik darf nicht in die zweite Woche gehen, darf keine bundesweite — europaweite — Solidaritätswelle nach sich ziehen, es muss ein Exempel statuiert werden.

 

Am Donnerstag, den 30. August, ereignet sich das Schauspiel einer Gegendemonstration von Vorgesetzten, Meistern, höheren Angestellten, Werkschutzangehörigen und einigen eilig herbeigeschafften Streikbrechern, in vorderster Reihe marschiert der Betriebsrat. Es kommt zu Schlägereien, die den Vorwand für die Polizei zum Eingriff liefern, elf Aktivisten, als Rädelsführer angeblich identifiziert, werden festgenommen. Die Streikenden verzichten darauf, auf die Provokationen mit weiteren Konfrontationen zu reagieren. Der Streik ist gebrochen, keine Forderung erfüllt. Für Hunderte bedeutet das Ende des Streiks die Kündigung.

 

Gastarbeiter kommt von Gast, kommentiert die Bild den Streik in ihrer unnachahmlichen Logik, und wer sich als Gast nicht benimmt, wird vor die Tür gesetzt. Demagogie? Sicher, aber vor allem eine grandiose Verfehlung der Realität: Es war auch ein Streik um Anerkennung — alle, die hier sind (um zu streiken), sind von hier. Und weiter: Es war ein Streik gegen das Fabrikregime, wie es für das 20. Jahrhundert in ganz Europa, der Sowjetunion und Nordamerika prägend war. Und es war ein Streik, der hierzulande schlagartig klar machte, dass so ein Ereignis weder von einer bürokratischen Massenorganisation wie der Gewerkschaft noch von radikalen Kaderorganisationen »geplant« werden kann. Das sind die drei Momente, die den Fordstreik zu einem bahnbrechenden Ereignis gemacht haben, zum Beginn einer Entwicklung, die noch nicht an ihr Ende gekommen ist. Es stimmt, in Deutschland war dieser Streik, war diese 73er-Streikwelle singulär. Aber nimmt man den europäischen Maßstab, wird das Bild deutlicher: Die aktuellen sozialen Kämpfe in Griechenland oder Spanien sind, gerade vor dem Hintergrund der großen Not und Zukunftsangst, aus der sie entstanden sind, geprägt von qualitativen Forderungen. Es geht nicht mehr um Arbeit an sich, es geht um das gute Leben, das man verteidigt gegen die endlosen Zumutungen einer zwar hochrationalisierten Ökonomie, die aber in erster Linie Armut und Aussichtslosigkeit produziert.

 

Eines der Gesichter des Fordstreiks ist das von Baha Targün. Kein typischer Arbeitsmigrant, Kurzzeitstudent, Kader einer kommunistischen Kleinpartei. Viele Fotos, so auch unser Aufmacherfoto, und Filmaufnahmen zeigen ihn, ständig bei der Agitation, bei der Aufwiegelung, immer ganz vorne. Wer sich so exponiert, um den muss man fast schon Angst haben. Er gehört am 30. August zu den Verhafteten, wird zur türkischen Botschaft geschafft und soll umgehend abgeschoben werden. Es existieren verschiedene Versionen, was dann geschah. Eine lautet, die Abschiebung sei nie vollzogen worden, Targün hätte noch bis 1979 in Deutschland gelebt und auch politische Arbeit geleistet. Später in der Türkei wurde er Journalist, war auch als Fremdenführer tätig, heute lebt der 70-Jährige auf einem kleinen Bauernhof.

 

Als 2007 das Stück »Fordlandia« am Kölner Schauspiel läuft, für das einige Streikaktivisten als Berater fungieren, wird auch Targün kontaktiert und eingeladen. Er lehnt ab, verwahrt sich gegen eine wie auch immer geartete Instrumentalisierung. Die Leute mögen den Targün von damals in Erinnerung behalten, soll er geschrieben haben. Dabei ist der Fortgang der Geschichte — seiner Geschichte —, doch das Spannende, wenn auch nicht das Spektakuläre. Targüns Zukunft lag damals nicht in der Fabrik. Und das ist vielleicht die tiefergehende Bedeutung dieses Streiks.

 

Dieser Text verdankt viel einem Gespräch mit Peter Bach, der als linker Aktivist und einfacher Arbeiter am Fordstreik beteiligt war. Von ihm stammt auch die Überschrift. Peter Bach, bis heute antiautoritärer Linker und in der Szene unterwegs, ist Teil einer Gruppe, die ein Erinnerungswochenende an den Streik organisiert:


Am 27. und 28. September finden im Naturfreundehaus Kalk Vorträge, Filmvorführungen, Diskussionsrunden und Konzerte zu jenen fünf Tagen, die Köln erschütterten, statt. Mehr dazu in unserer kommenden Ausgabe.