Foto: Dörthe Boxberg

Gran Turismo

Knapp drei Millionen Touristen übernachteten im ­vergangenen Jahr in den Hotels der Stadt. Die meisten kamen aus ­Deutschland, gefolgt von Briten, Nieder­ländern und US-Ameri­ka­nern. Doch was tun diese Menschen eigentlich in Köln? Bernd Wilberg ist mit dem Sightseeing-Bus gefahren.

Niemand gilt gern als Tourist. Der Tourist ist jemand, der nur die Oberfläche begutachtet und nicht zum Wesen einer Stadt vordringt. Deshalb bietet Reiseliteratur selbst in Millionenauflage »Geheimtipps«. Wer heute reist, sieht sich lieber als gut informierten Individualisten, der seine Weltgewandtheit vor Ort bloß auffrischt. Die Fremdenverkehrsbranche reagiert darauf mit themenspezifischen Führungen: literarisch, subkulturell, gastronomisch oder entlang der Geschichte der Migration. Die klassische Stadtrundfahrt, Sinnbild eines überkommenen Tourismus, ist trotzdem beliebt wie ehedem. Man will das ja doch sehen: all die etliche Male abfotografierten Sehenswürdigkeiten, den touristischen Kanon.

 

Was aber zählt dazu? In Köln zweifelsohne der Dom, der Rhein, das Dutzend romanischer Kirchen, die großen Museen und einige pittoreske Überbleibsel aus den vergan­genen zweitausend Jahren. Reicht das aber, um einen Neuankömmling mit ein paar Stunden Aufenthalt zu beein­drucken? Und warum hat die »Kölner City-Tour« die Köln Arcaden in Kalk und die städtebauliche und konzeptionelle Tristesse des Mediaparks mit Haltepunkten versehen?

 

Ein Lederbeutel in der einen Hand, das iPad in der anderen. Mariahs Blick schweift ratlos über den bunten, unübersichtlichen Fahrplan. Hier, gleich gegenüber dem Hauptbahnhof, beginnen die »City Tour«-Stadtrundfahrten. Mariah hat ein paar Stunden Aufenthalt, bis sie ihren Zug weiter nach Brüssel nehmen muss, wo sie eine Freundin besuchen will. Und Mariah ist nun schon ein bisschen genervt. Wann kommt denn nun der Bus? Lohnt es sich zu warten? Schafft sie auch noch eine Schifffahrt über den Rhein? Ihre Freundin habe ihr geraten, sich unbedingt Köln anzuschauen. Doch was muss man denn in Köln gesehen haben, fragt Mariah. Wie zur Antwort hält in diesem Moment endlich der Doppel­deckerbus.

 

Mariah kommt aus Kapstadt und bereist zurzeit Europa, sie war schon ein paar Wochen in Italien. Florenz, Rom, Venedig. Auch in Paris war sie. Wie zum Beweis wischt sie über ihr iPad. Touristenfotografie: untergehakte Freundinnen neigen ihre Köpfe in die Bildmitte,
im Hintergrund altes Gemäuer oder moderne Architektur und andere Touristengruppen. Nein, oben auf dem Eiffelturm waren sie nicht, die Schlange war zu lang, keine Zeit. Ob sie sich denn schon den Kölner Dom angeschaut habe, der steht ja direkt am Hauptbahnhof. »Cologne Cathedral?« Nein, kennt Mariah gar nicht. Überhaupt findet sie, dass sie schon genug Kirchen aus Italien auf ihrem iPad habe. Und es gibt wirklich keinen Aufzug? »That is strange, man!« Mariah verzieht ungläubig das Gesicht.

 

Wir zuckeln los, es geht durch die Unterführungen des Hauptbahnhofs Richtung Alter Markt. Sechzehn Halte­punkte mit »Highlights & Sehenswürdigkeiten« in knapp anderthalb Stunden. Vom Band spricht eine freundliche Frauenstimme: Viele Jahreszahlen, die sich keiner merken mag, die aber in der Summe den Fahr­gästen die historische Bedeutung Kölns untermauern sollen. Es geht Schlag auf Schlag. Wir passieren Philharmonie, Rathaus, Gürzenich (»die gute Stube der Kölner«), den Heumarkt, kurven dann auf den Neumarkt zu. »What the hell are they doing?« Mariah beeindrucken vor allem die vielen Baustellen. Nein, von der U-Bahn hat sie nicht gehört. Die Frauenstimme vom Band schweigt dazu stur. Verwirrung kommt auf, als unsere virtuelle Reiseführerin die Fakten zu Sankt Maria im Kapitol verliest, aber außer dem imposanten Baustellen-Chaos am Heumarkt kaum etwas zu sehen ist. Eine ­Spanierin dreht sich irritiert in die andere Richtung und fotografiert das gegenüber­liegende Hotel. Mariah knipst mit ihrem iPad sicherheitshalber aus beiden Fenstern heraus.

 

Den ersten und einzigen Witz, den uns die Frau auf dem Band hinterlassen hat, hören wir am Neumarkt, »der entgegen seines Namens ein hohes Alter aufweist«. Das ist auch auf Japanisch, Spanisch und Englisch nicht lustiger, wie man an den ausländischen Touristen sieht. »Heumarkt, Neumarkt, hä?« Bei einem Paar mit hessischem Dialekt kommt wieder Verwirrung auf.

 

Ein Frauentrio »aus der Nähe von Leverkusen« ist auf­fallend gut informiert und auch etwas lauter. Wenn unsere Bandstimme am Chlodwigplatz imposante Zahlen zum Rosenmontagszug nennt, referiert die Anführerin des Trios melancholisch die tagesaktuellen Themen der »Yellow-Press«: »Der Zugführer vom Rosenmontagszoch hat alles tipptopp organisiert, aber seine Ehe geht in die Brüche.«

 

Viele der deutschen Städtereisenden haben einen Kölner dabei, der die spröden Erläuterungen naseweis ergänzt. Behauptet die Frauenstimme, dass »in der Südstadt viele Musiker anzutreffen sind, zum Beispiel Wolfgang Niedecken von der Band »BAP«, die hier in der Region sehr beliebt ist«, dann versichert der Touristenflüsterer seinen norddeutschen Freunden glaubhaft: »Den sieht man oft im Chlodwig-Eck!«

 

Bisweilen läuft die Tonspur aus dem Bild. So erzählt die Frauenstimme ein paar wohlwollende Anekdötchen zum Rheinauhafen, obwohl wir am Ubierring an der roten  Ampel stehen. Aber so richtig scheint ohnehin niemand mehr zuzuhören. Die ausländischen Touristen haben meist die Kopfhörer schon abgelegt.

 

So sehr sich unsere virtuelle Reiseführerin auch müht, die »Hop-on-hop-off«-Option nutzt kaum ein Fahrgast. Man bleibt sitzen. Nur am Schokoladenmuseum steigt eine Gruppe aufgeregt aus. Andere zwängen sich bepackt mit prallen Plastiktüten aus dem Museums-Shop die Treppe hoch. Souvenirs aus Köln. »Nein, Lisa, das bleibt zu. Die Pralinen sind für Oma.«
Auf der anderen Seite der Rheinuferstraße fahren wir an Sankt Maria Lyskirchen vorbei. Die graue Maus unter den zwölf romanischen Kirchen ist kaum jemandem einen Schnappschuss wert. Die einzige japanische Reisegruppe fotografiert übrigens entgegen aller Klischees weniger als alle anderen. Bei der Fahrt über die Deutzer Brücke schauen sie nach Süden und verpassen linkerhand das Postkartenmotiv mit Altstadt und Dom. Oder sind die Kranhäuser am Rheinauhafen auf der anderen Fensterseite mittlerweile attraktiver als die gotische Kathedrale?

 

Im Rechtsrheinischen wird es dramaturgisch dann doch arg zäh. Mariah wischt wieder über ihr iPad und sucht ungefragt das Video von der Märchenfiguren-Parade in »Euro Disney« bei Paris. Da sie das iPad gerade zur Hand hat, knipst sie die Kalker »Köln Arcaden« — eine Architektur, die genau so etliche Male Deutschlands Städte verschandelt. Die Frauenstimme versichert, dass »das Innenleben wesentlich attraktiver ist, als es von außen scheint.« Den Fahrgästen wird ein Einkaufs­bummel nahegelegt. Mariah fällt ein, dass sie noch eine bestimmte Tagescreme benötigt. Nach einem Blick auf das ehemalige CFK-Gelände verschiebt sie den Kauf. Sie will hier nicht aussteigen und dann wieder eine Stunde auf den nächsten City-Tour-Bus warten müssen. Als wir kurz darauf auch am Odysseum halten, steigt eine Engländerin mit strenger Frisur und Baedeker ein. Sie zuckt ratlos die Schultern und guckt in die Runde: »It’s closed!« — »Macht aber in drei Wochen wieder auf«, sagt eine aus dem munteren, gut informierten Frauen-Trio.

 

Die Stimmung steigt, als später am Tag unser Busfahrer das Verdeck öffnet. Eine Schulklasse aus Stuttgart, die am hinteren Tisch mit den Flaschenhalterungen Platz genommen hat, klatscht johlend Beifall. Mit dem Verdeck verschwindet auch der Geruch nach Herren-Umkleide, den die offenkundig übernächtigten Schüler (»Können wir nicht mal halten und einen Kasten Kölsch holen?«) mitgebracht haben. Was ihnen an Köln gefällt? »Kölsch-Bier«, sagt einer. Gelächter. »Die Mädels«, sagt ein anderer. Noch mehr Gelächter.

 

Auf der Zoobrücke fotografiert Mariah lustlos die Seilbahn-Gondeln und erzählt von Hongkong, wo sie vor einem Jahr in einer viel weiter und höher gespannten gefahren sei. »But this one is nicer«, befindet sie freundlich und sucht nach den Hongkong-Fotos.  

 

Nach Zoo und Flora (»Eintritt frei!«) geht es über die Ringe und den Friesenplatz  zurück zum Dom. Beim Ausstieg fragt der Busfahrer, ob es Spaß gemacht hätte. Ohne die Antwort abzuwarten, versichert er, dass Köln eine »wunderschöne Stadt« sei. Dies hätte ihm erst gestern eine Münchner Reisegruppe versichert. »Köln ist schöner als München«, sagt er, und legt zur Beglaubigung seine rechte Hand auf die Brust. Und was mag er an Köln? »Alles!« Klar, aber was genau? Die Brücken, den Rhein, die Kranhäuser … den Dom auch? »Ach! Ja, natürlich!« Aber viele Baustellen habe Köln, schwer da lang zu fahren.

 

Mariah hetzt jetzt zum Bahnhof, sie braucht ja noch die Tagescreme. Den Dom hat sie jetzt nur kurz aus dem Bus gesehen, ein Foto wird sie zu Hause in Kapstadt nicht zeigen können. Aber ob es wirklich keinen Aufzug gibt, das wird sie sicher ihre Freundin in Brüssel fragen, bevor sie es daheim erzählt.