Unternehmen Schule

Mit dem neuen Schuljahr hat in NRW ein Modellprojekt begonnen. Selbständige Schule heißt es, viel Eigenverantwortung der Schulen postuliert es. Thilo Guschas hat sich umgehört und umgesehen, welche Neuerungen sinnvoll sind und welche fraglich.

Eine Kapuze verdeckt Ugur die Augen, während er über das Styropor tastet. »H-a-l-l-o-w-e-e-n« buchstabiert er. »Alles richtig, aber du hast geschummelt, oder?« vermutet Emre, der das Wort im Blindenalphabet ins Styropor gesteckt hatte. Das Entziffern, das die beiden »voll schwierig« finden, soll den Sinn für die verschiedenen Formen der Wahrnehmung wecken. Maria zählt am Tisch nebenan Ilknurs Atemzüge, die von ihrer Runde um den Schulhof noch ganz aus der Puste ist. Dann rechnet sie aus, wieviel das in einer Stunde, in 24 Stunden ausmachen würde. Diesen Werkstattunterricht führt die Köln-Mülheimer Gemeinschaftsgrundschule An St. Theresia im Rahmen eines NRW-weiten Schulmodells »Selbstständige Schule« durch. Das Konzept, das alle Schulformen von Grundschule bis Berufskolleg anspricht, wird seit Beginn des Schuljahrs an 238 Schulen umgesetzt, von denen 31 in Köln liegen.

Die Wirtschaft fordert mantrahaft »Schlüsselkompetenzen«

Die Parteien tragen das Konzept der Selbstständigen Schule mit seltener Einmütigkeit. Grüne und SPD streiten sogar, wer die Idee zuerst aufgebracht habe. Der Kölner Schulausschuss, der der Teilnahme der Schulen zustimmen musste, hat das Projekt auch mit den Stimmen von CDU und FDP beschlossen. Dieser breite Konsens hängt nicht nur mit dem PISA-Schock zusammen, sondern auch mit dem kürzlich abgeschlossenen Modellprojekt »Schule und Co.«, bei dem in kleinerem Maßstab über fünf Jahre ähnliche Konzepte erfolgreich getestet wurden.
Eine »Öffnungsklausel« ermuntert beim Projekt Selbstständige Schule ausdrücklich zum Experimentieren mit neuen Unterrichtsmethoden. Das NRW-Bildungs-Ministerium nennt als Beispiel die Möglichkeit, Auslandsaufenthalte oder die Kenntnis von Computersprachen mit in die schulische Notengebung einfließen zu lassen – eine Orientierung zur Wirtschaft hin, die diese »Schlüsselkompetenzen« mantrahaft fordert. Daneben existieren jedoch auch alternative Ansätze wie der Werkstattunterricht an der An St. Theresia-Grundschule, der Anteile aus Deutsch-, Mathematik-, Sachkunde- und Sportunterricht schlüssig miteinander verknüpft.
Die scheinbar rasche Etablierung der innovativen pädagogischen Methoden bei An St. Theresa hat allerdings eine eigene Geschichte: Der eingespielte Unterricht läuft dort bereits seit Jahren. Die Selbständige Schule ist für Schulleiter Franz Legewie daher nur eine »Legitimierung und Systematisierung« seiner Projekte. Daniel Voelsen von der Landesschülervertretung NRW (LSV) hat indes auch von anderen Fällen gehört: »Einmal habe ich mit Schülern von der Gesamtschule Rödinghausen über die Selbstständige Schule gesprochen. Die wussten nicht einmal, dass ihre Schule überhaupt an dem Projekt teilnimmt.« Die finanzielle Unterstützung mit 5.000 Euro jährlich, die von Land und Stadt kommen, macht – neben einer halben zusätzlichen Lehrstelle – eine Teilnahme attraktiv, auch wenn der Reformeifer vielleicht gar nicht so groß ist. Die meisten der pädagogischen Konzepte schätzt Daniel Voelsen zudem als »wenig innovativ« ein.

LehrerInnen werden durch Unternehmensberater geschult

Um zu verhindern, dass die Öffnungsklausel bei den engagierteren Schulen ein Durcheinander hervorruft, sollen die jeweiligen Unterrichtskonzepte pro Schule einheitlich umgesetzt werden. Um das Leistungsniveau zu sichern, wird der Unterricht von der Schulaufsicht regelmäßig evaluiert. Wenn hierbei der Misserfolg einer Unterrichtsmethode deutlich wird, behält sich das Ministerium vor, diese abzusetzen. Erfolgreiche Elemente dagegen sollen noch während der Projektlaufzeit auf alle Schulen übertragen werden.
»Allein mit der zusätzlichen halben Stelle kann man das nicht machen« kommentiert Michael Schulte von der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) die Öffnungsklausel. Neue Methoden zu entwickeln und dann konkret im Unterricht umzusetzen, fordert das Engagement des gesamten Kollegiums. Dies macht auch der Abschlussbericht des Vorläufermodells »Schule und Co.« deutlich, der die »hohe Belastung« benennt, über die einige Modellschulen geklagt haben. Andererseits, hält Michael Schulte dagegen, wissen die Schulen ja, was sie erwartet, zumal die Teilnahme am Projekt freiwillig ist.
Ein gutes Organisationsvermögen ist die Voraussetzung, um die Potenziale der Öffnungsklausel zu erschließen. Hierin werden die LehrerInnen durch Unternehmensberatungen geschult. Transparentes Vorgehen, zügige Abwicklung von Vorhaben und das Ausräumen aufkommender Unstimmigkeiten sind Kompetenzen, die vermittelt werden sollen, erläutert Hubert Sonntag vom »Hattinger Büro«. Seine Beraterfirma wurde für die Weiterbildungsmaßnahmen vorgeschlagen. Die Fortbildungsmaßnahmen richten sich an die »schulische Steuergruppen«, die sich aus einer festen Lehrergruppe und dem Schulleiter zusammensetzen. Diese sollen das Projekt an ihrer Schule vor Ort koordinieren.
Auch die Sachmittelfinanzierung kann in Zukunft eigenverantwortlicher gehandhabt werden. »Früher musste eine Schule jeden Bleistift bei der Schulverwaltung beantragen« erläutert Franz Legewie. Nun erhalten die Modellschulen begrenzte finanzielle Autonomie, die mehr Beweglichkeit sichert und der Schulverwaltung Aufwand erspart. »Doch die Schule wird kein Unternehmen«, beruhigt das Ministerium etwaiges Misstrauen. Da die Finanzhoheit auf kleinere Ausgaben beschränkt bleibe, sei ausgeschlossen, dass eine Schule in die Zahlungsunfähigkeit gerät.

Der Machtzuwachs ist nicht nur ein Gewinn

Das Dienstrecht wird ebenfalls umgestaltet. Bislang wurden Einstellungen und Entlassungen von der städtischen Schulaufsicht und einem Personalrat bestimmt, der mit LehrerInnen besetzt ist. Das Projekt legt diese Entscheidungsgewalt nun in die Hand des Schulleiters. In Abstimmung mit einem schulinternen Lehrerrat kann er so Personalentscheidungen fällen, die den Bedingungen vor Ort entsprechen. »Der Schulleiter muss gezügelt werden«, mahnt jedoch Michael Schulte von der GEW. Der Lehrerrat, der kein Mitspracherecht erhält, gleiche so eher einem »Festtagsausschuss«: »Dem Schulleiter ist letztlich kein Korrektiv mehr an die Seite gestellt.« Michael Kellner, Sprecher der Kölner PDS und selbst Lehrer, stellt »eine Tendenz zur Vereinzelung und Privatisierung« fest. Auch Özlem Demirel von der LSV ist beunruhigt: »Die Schule wird einem Wirtschaftsunternehmen angepasst, mit Arbeitgebern und Arbeitnehmern. Und wir Schüler sind dann die Produkte, oder wie?«
Andererseits ist der Machtzuwachs nicht nur ein Gewinn für den Schulleiter. Lehrer einzustellen kann auch mit massiven Belastungen verbunden sein. »Wo sollen die Lehrer denn herkommen?« fragt Josef Bünger von der Stadtschulpflegschaft der Kölner Grundschulen, die die Interessen der Eltern vertritt. Oft suchten die LehrerInnen ihre Stellen in den umliegenden Bundesländern, die mehr Geld in die Schulbildung investierten als NRW: »Einige pendeln sogar täglich von hier nach Hessen«. Und auch die Verantwortung für die angespannte Personallage, die sich in Unterrichtsausfällen äußert, falle durch das Projekt auf den Schulleiter zurück.
Letztlich, so Bünger, werde die Selbstständigkeit der Schulen nicht gefördert, sondern blockiert. »Schule und Co.« und das Folgeprojekt Selbstständige Schule ergeben zusammengenommen eine Testphase von elf Jahren, von der zunächst nur die teilnehmenden Schulen profitieren. Die große Mehrheit der Schulen gelange nicht in den Genuss einer erweiterten Selbstständigkeit. »Kostenträchtige Maßnahmen, die allen Schulen zugute kommen, werden auf diese Weise hinausgeschoben«, glaubt Bünger. Auch die pädagogischen Neuerungen sieht er skeptisch: »Mit Geld funktioniert jede Schule besser, da braucht man keine Selbstständige Schule«. Eher solle man auf das Wesentliche konzentrieren: »Unterrichtsversorgung zu 100 Prozent«.