Wer kauft, sündigt nicht

Dieser Meinung ist jedenfalls der Kulturwissenschaftler Norbert Bolz. Und er vertritt sie vehement in seinem soeben erschienenen Buch »Das konsumistische Manifest«. Gisa Funck hat ihn im Interview nach den Hintergründen gefragt.

StadtRevue: Während andere Intellektuelle wie Noam Chomsky, ATTAC-Aktivisten wie Naomi Klein, aber auch die »Empire«-Autoren Michael Hardt und Antonio Negri gerade vehement gegen den globalen Kapitalismus zu Felde ziehen, beklatschen Sie ihn lieber in ihrem Manifest...
Norbert Bolz: Ach, »beklatschen« finde ich jetzt doch ein bisschen verkürzt. Ich habe mir einfach nur überlegt, ob der Wirtschaftssoziologe Albert Hirschman nicht vielleicht mit einer sehr alten Formulierung Recht hatte, nämlich, dass wir am Kapitalismus gerade dasjenige kritisieren, was doch eigentlich seine hervorragendsten, kulturellen Leistungen sind.
Was sind das für Leistungen?
Der Kapitalismus hat meiner Ansicht nach zwei große Stärken: Zum einen löst er das Problem des Lebenssinns zwar nicht völlig, aber macht es doch managebar. Und zum anderen hat die kapitalistische, sprich: die rein geldwirtschaftlich organisierte Wirtschaft zu einem Befriedungsprozess geführt, der welthistorisch einmalig ist.
Es herrschen derzeit aber brutale Kriege!
Diese Kriege sind aber bezeichnenderweise gerade nicht an den Orten zu finden, wo sich die kapitalistische Geldwirtschaft entfaltet.
Karl Marx hätte das aber wahrscheinlich nicht »Befriedung« genannt, sondern »Entfremdung«...
Völlig richtig. Ich glaube in der Tat, dass wir über Entfremdung umlernen müssen. Es gibt keinen Zweifel am Sachverhalt der Entfremdung. Das war scharf gesehen von Karl Marx, Max Weber oder auch von Walter Benjamin. Nur die Vorzeichen bei der Beurteilung des Phänomens müssen wir, glaube ich, ändern. Wir müssen ein Pluszeichen vor Entfremdung machen. Wir müssen erkennen, dass Entfremdung die Bedingung für alles das ist, was wir als Freiheit schätzen.
In ihrem Buch ist die Welt ideologisch gespalten in zwei »Weltreligionen«: Auf der einen Seite steht der »Antiamerikanismus« in Form des islamischen Fundamentalismus, auf der anderen das westliche Credo des Konsums, von Ihnen »Konsumismus« genannt. Existiert keine Alternative?
Es stellt sich nicht die Alternative eines dritten Weges, sondern wir haben heute mehr oder minder die Wahl, ob wir entweder Hoffnungen nach einem radikal-antikapitalistischen Weg nähren. Oder ob wir versuchen, die kultivierenden Kräfte, die in dem kapitalistischen Lebensstil stecken, weiter zu entfalten und vielleicht auch einmal gut zu heißen.
Anders als der Fundamentalismus ist der Konsumismus eine »Religion Light«, eine von Glaubenssätzen völlig entleerte Religion. Doch fehlt ihr damit nicht genau das, was sie als humane Trostinstanz eigentlich bräuchte?!
Die schwere, also die dogmatisch anspruchsvolle Religion, die haben wir ja schon lange – seit Jahrhunderten. Nur laboriert die christliche Sinnperspektive eben daran, dass das Dogma viel zu komplex ist, als dass es den Alltagsproblemen heute noch gerecht werden könnte. Gerade deshalb ist eine »Religion Light«, wie der Konsumismus sie darstellt, viel attraktiver. Das Credo des Konsums kennt kein Dogma. Was übrig bleibt, sind neu-heidnische Rituale, neu-heidnische Kulte, die in eminenter Weise Lebenssicherheit vermitteln.
In Ihrem Buch sprechen Sie vom »spirituellen Mehrwert« der Waren. Man verkauft kein Auto, man verkauft ein Stück Freiheit. Man kauft kein Parfüm, sondern den Duft der großen Welt.
Ja, genau. Man bietet den Menschen Gefühlsmuster an, in denen sie ihre chaotischen Leidenschaften halbwegs schematisieren können. Jedes Konsumangebot trägt das eigentliche Versprechen in sich: »Jetzt weißt du, was du zu tun hast!« Die nächsten Stunden, die nächsten Tage deines Lebens sind geregelt. Und das ist es eigentlich, was die Leute brauchen. Denn sie sind mit den Zumutungen des Individualisierungszwangs: »Sei du selbst! Sei spontan! Verwirkliche dich selbst!« radikal überfordert.
Sie schreiben: »Geld hat den Sinn, es auszugeben. Mit diesem Funktionssinn müssen Menschen heute auskommen.« Geld ausgeben also sozusagen als höchster Sozialwert, das klingt unsentimental.
Das ist natürlich sehr unsentimental und widerspricht aller Romantik. Aber würde man begreifen, dass der Mensch nicht im Mittelpunkt steht, sondern dass er in der Tat eingeht in gesellschaftliche Strukturen, dann wären wir, glaube ich, alle ein Stück glücklicher. Es gehört zu den bedauerlichen Trivialitäten unseres Alltags, dass sich alle auf die Formel einigen: »Der Mensch steht im Mittelpunkt.« Das ist die Blockade, die uns trennt von einem vernünftigen Umgehen mit unserer Gesellschaft.
Und was steht dann im Mittelpunkt? Das Geld, das in Ihrem Buch immerhin den Ehrentitel eines »General Problem Solvers« erhält?
Nein, das wiederum glaube ich nicht. Geld ist nicht die böse Macht, die alles zusammenhält. Aber von allen Medien ist Geld das am meisten verkannte. Gerade in seinen zivilisatorischen Effekten. Wer sich für Geld interessiert, der kriegt ein indirektes Verhältnis zur Welt. Und der schlägt nicht mehr zu, sondern verwandelt seine Brutalität in Geldforderungen. Dadurch wird das Leben zwar nicht schön, bequem und lustig, aber es werden doch die Grundbedingungen von Humanität gesichert.
Wenn nicht Geld, was hält dann die westliche Konsumgesellschaft zusammen?
Natürlich spielt Macht eine große Rolle. Und Liebe spielt eine riesengroße Rolle! Ich selbst habe eine ziemlich große Familie und bilde mir ein, Liebe ist das Medium dieser Familie. Man wäre ein Narr, wenn man denken würde: Hier dringe das Geld ein.
Sie plädieren aber gegen die großen Gefühle. »Heiße Herzen denken schlecht«, heißt es da etwa.
Ja. Stellen Sie sich vor, im Kontakt mit ihren Lehrern, mit ihren Chefs oder mit ihrem Finanzbeamten ginge es um große Gefühle. Das wäre die Katastrophe! Wir leben davon, dass unsere Gesellschaft relativ nah am Kältepol operiert. Die bürgerliche Gesellschaft ist kühl. Aber das genau ist die Bedingung ihres Funktionierens. Sich damit abzufinden, fällt den meisten Menschen naturgemäß schwer.
Tatsächlich stellen Sie in Ihrem Buch nicht nur Karl Marx, sondern auch die Bibel in gewisser Weise auf den Kopf. Jedenfalls verfechten Sie explizit eine »ökonomische« Moral. Nächstenliebe soll zur Aufgabe des Caring Capitalism werden.
Caritas ist ein gutes Beispiel für den Preis, den wir zahlen müssen für eine moderne Existenz. Das ist eben der Preis der Entpersönlichung von Beziehungen. Wenn man heute einem Menschen helfen will, hilft man ihm am besten, indem man sich überlegt, welche Stelle für sein Problem zuständig ist. Man schiebt ihn an die zuständige Stelle ab. Das klingt kalt, und es wirkt auch auf den Betroffenen im ersten Moment kalt, aber in Wahrheit ist es eine sehr moderne, vernünftige, sachverständige Reaktion.
Aber ist es nicht gleichzeitig auch eine sehr bequeme und – ja – herzlose Reaktion?
Wenn man sich überlegt, wie die Liebe zum Nächsten als dem Fremden und letztlich potenziell ja auch Bedrohlichen konkret umgesetzt werden kann, dann fällt mir im Grunde nur die Variante ein: Handle mit deinem Nächsten! Verstricke ihn in Geldgeschäfte! Dann wird man nämlich genau den Effekt erreichen, den eigentlich das Christentum als zivilisatorischen Spitzenwert erreichen wollte: eben den Effekt, wonach aus Fremden Brüder werden.
Inwieweit folgen Sie als Prophet des Konsumismus eigentlich selbst Ihrer Religion?
Ich sehe mich nicht als Propagandisten des Konsums als der einzigen Lebensperspektive, ich begreife ihn nur als Alternative zu den fundamentalistischen Gegenreaktionen. Für mich ist er einfach eine Präferenz. Denn ich selbst lebe nicht konsumistisch. Und ich denke auch, es gibt interessantere Alternativen. Nur, die sind nicht plakatierbar. Die lassen sich, glaube ich, schlecht als eine Art Vademecum des 21. Jahrhunderts verkaufen.
Was sind das für Alternativen?
Askese wäre in der Tat etwas, was aus dem geschlossenen Kreislauf des Konsumismus hinausweisen würde. Ich sehe aber keine Ansatzpunkte, wie sich das bewerkstelligen ließe. Man muss, glaube ich, schon einsehen, dass die meisten Menschen Langeweile als ein unerträgliches Vakuum empfinden. Von daher würde ich sagen: Askese ist als Option nicht massenwirksam.

zur Person:
Norbert Bolz, 1953 geboren, hat sich schon des Öfteren als eloquentes Enfant Terrible der Kulturwissenschaften hervorgetan. Studiert hat er Philosophie, Germanistik und Religionswissenschaften in Mannheim und Berlin, bevor er über die Ästhetik Adornos promovierte. Bis zum Sommersemester war Bolz Dozent für »Medientheorie« in Essen. Der Ruf eines »ironisch-diabolischen Aufklärers« (Harry Nutt) ist ihm an die Technische Universität Berlin nachgefolgt, an die er soeben berufen wurde. Bolz’ Publikationsliste ist lang. Darin finden sich Bücher mit so sprechenden Titeln wie: »Kultmarketing – Die Götter des Marktes« (1995) , »Eine kurze Geschichte des Scheins« (1991) oder »Die Sinn-Gesellschaft« (1997) . Und nun – mitten hinein in den Protestgesang der Linken – folgt eine Apologie auf den globalen Turbo-Kapitalismus. Anspielungsreiche Überschrift diesmal: »Das konsumistische Manifest«, Wilhelm Fink Verlag, München 2002, 156 Seiten, 10 Euro.