Wuchernde Welt

Kurz vor Weihnachten startet weltweit der zweite Teil der Verfilmung eines der erfolgreichsten und zugleich umstrittensten Bücher des 20. Jahrhunderts: J.R.R. Tolkiens »Der Herr der Ringe«. Sven von Reden über die Bibel der Hippies, Computerfreaks und Nerds.

Ein Samstag im Juli in der Kölner Südstadt. Die efeuumrankte, mittelalterlich anmutende Fassade des Tagungshauses St. Georg täuscht ein wenig, der Versammlungsraum im Hinterhaus versprüht eher den Charme einer 70er Jahre Gesamtschulklasse. Hier sitzen etwa 25 Fans des Werks des britischen Schriftstellers John Ronald Reuel Tolkien und diskutieren im Rahmen eines dreitägigen Treffens über die »Kritik an Tolkien und Tolkienfans«. Marcel Bülles, Geschichtsstudent an der Uni Köln und Vorsitzender der Deutschen Tolkiengesellschaft, fasst zusammen: »Wir finden natürlich alle ›Der Herr der Ringe‹ toll, aber wenn man kritisch daran geht, wird man auch feststellen: Nicht alles darin ist in gleicher Weise gelungen.«
Eine abwägende Position, die bislang selten war. Bereits im Januar 1956 schrieb der Dichter und Kritiker W.H. Auden in der New York Times anlässlich der amerikanischen Erstveröffentlichung des dritten Bandes von »Der Herr der Ringe«: »Ich kann mich kaum an ein Buch erinnern, über das ich mich so heftig gestritten habe. Niemand scheint eine gemäßigte Meinung zu haben: Entweder sie finden, wie ich, dass es ein Meisterwerk seines Genres ist, oder sie können es nicht ausstehen.« Das mittlerweile zum Klischee geronnene »Love it or hate it«-Diktum, mit dem immer wieder versucht wird, Kulturprodukten eine verkaufsträchtig-skandalöse Aura zu verleihen, hier trifft es ausnahmsweise einmal zu. Es scheint, als habe die meist fein säuberlich in Gut und Böse aufgeteilte Welt, die »Der Herr der Ringe« beschreibt, auf die Rezeption zurückgewirkt.

Die Fronten sind klar. Literaturkritik und akademische Welt stehen dem Buch eher feindlich gegenüber, während es das Publikum liebt: Bei einer Umfrage von amazon.com wurde »Der Herr der Ringe« zum besten Buch des Jahrtausends gewählt; bei Befragungen des Daily Telegraph und von Channel 4 kürten es die Leser zum Buch des Jahrhunderts, in anderen Best-of-Erhebungen rangiert es gleich hinter der Bibel. Auch die Verkaufszahlen lassen sich am ehesten mit denen der Bibel vergleichen: Seit dem Erscheinen der englischen Ausgabe Mitte der 50er Jahre wurden weltweit offiziell rund 100 Millionen Exemplare des dreibändigen Werks verkauft, insgesamt geht man aber davon aus, dass 150 Millionen Ausgaben im Umlauf sind, da vor allem in den Ländern der ehemaligen Sowjetunion massenweise billige Raubkopien den Markt überschwemmen.
Es ist ja nicht ungewöhnlich, dass ein Bestseller von der Kritik negativ aufgenommen wird. »Der Herr der Ringe« ist allerdings ein äußerst sperriges Erfolgsbuch: Wer hätte bei Erscheinen der Erstauflage erwartet, dass ein weit über 1.000 Seiten starkes Werk, das teilweise in archaisierendem Englisch geschrieben ist, unübersetzte Gedichte in einer vom Autor erfundenen Sprache enthält und verwirrend viele Schauplätze und Namen birgt, ein Erfolg werden könnte – ganz zu Schweigen davon, dass der Held des Buchs lediglich einen Meter misst und pelzige Füße hat. Auch der Autor selbst entsprach so gar nicht der Vorstellung eines »Popliteraten«. Tolkien war ein konservativer, katholischer Sprachwissenschaftler, der 1925, mit 33 Jahren, eine Professur für Angelsächsisch und Alt- und Mittelenglisch in Oxford übernahm.
»Für mich kommt der Name zuerst, und dann folgt die Geschichte« schrieb Tolkien einmal. Seine Leidenschaft für die Philologie, seine Liebe zu Wörtern, deren Herkunft und Entwicklung, stand daher auch am Anfang von »Der Herr der Ringe«: Für das Buch entwickelte er erst einmal zwei komplette Sprachen, Quenya und Sindarin, die im Buch in erster Linie in einigen Gedichten und Liedern Verwendung findet. Für den Plot seines Mammutwerks griff er auf bekannte Muster zurück: »Der Herr der Ringe« erzählt die Geschichte eines »Heroic Quest«, einer heroischen Suche, doch anders als etwa in der Artus-Sage und »Der kleine Hobbit«, Tolkiens Vorgeschichte zu »Der Herr der Ringe«, geht es nicht darum, einen Heiligen Gral oder einen Schatz zu finden, sondern zu zerstören. In Mittelerde, einer Sagenwelt voller Zwerge, Elben, Zauberer und Monster, gelangt der Hobbit Frodo an einen Zauberring, der dem Herrscher des Bösen Sauron vor langer Zeit in einer Schlacht abgenommen wurde. Gelingt es Sauron, den Ring der Macht wiederzuerlangen, wird er ganz Mittelerde unterjochen. Um die Gefahr endgültig zu bannen, macht sich Frodo mit einer kleinen Schar von Gefährten zu einer langen Reise in das Reich des Bösen auf, da der Ring nur dort, in dem Feuer, in dem er geschmiedet wurde, zerstört werden kann.

Ein Grund für das Unverständnis, auf das Tolkiens Werk stieß, war, dass sein Werk zu ambitioniert war, bzw. hundert Jahre zu spät kam. »Der Herr der Ringe« ist kein Kinderbuch wie »Der kleine Hobbit« und war auch nicht als triviale Abenteuergeschichte konzipiert. Tolkiens Vorbild war eher Elias Lönnrot, der in den 30er Jahren des 19. Jahrhunderts aus verstreuten Liedern und Weisen das finnische Nationalepos »Kalevala« rekonstruierte (das es allerdings wohl nie gegeben hat). Die Gebrüder Grimm in Deutschland und Nikolai Grundtvig in Dänemark vollendeten im 19. Jahrhundert ähnliche Werke der Traditionssicherung, in England hatte es kein solches Projekt gegeben. Auch für Tolkien war seine Geschichte keine reine Erfindung, sondern eine Art Rekonstruktion einer imaginären Welt, die einmal in der kollektiven Imagination existiert hatte und die er in weiteren Büchern wie dem »Sillmarillion« ausgestaltete: eine Welt voller Fabelwesen, Zauberer und Zwerge, die Tolkien aus seiner wissenschaftlichen Quellenarbeit kannte.
Doch Tolkien baut in seinem Werk auch Brücken in die Welt des 20. Jahrhunderts, ohne die der überragende Erfolg kaum möglich gewesen wäre. Er schuf mit den Hobbits eine eigene Spezies, die sich zwar äußerlich von Menschen unterscheiden, allerdings in ihrem Wertesystem und ihrem Verhalten an das ländliche englische Bürgertum des 20. Jahrhunderts erinnern und solche modernen Errungenschaften wie Pfeifenkraut, den Metzger und die Post kennen. Die Hobbits vermitteln in Tolkiens Büchern zwischen der entrückten Sagenwelt mit ihren archetypischen Heroen und der individualisierten Welt der LeserInnen – auch wenn die psychologische Ausarbeitung der Hobbitcharaktere selbst dürftig bleibt. Innere Konflikte stehen meist zurück hinter äußerer Handlung. »Das Stückchen moralische Komplexität, welches Tolkiens großes Abenteuer vor der totalen Banalität des eines Gut-Böse-Holzschnitts rettet« ist, dass »die Macht jeden korrumpiert«, schreibt Joachim Kalka (pikanterweise ein Übersetzer beim deutschen Tolkien-Verlag Klett-Cotta) in einer abschätzigen Kritik in der FAZ vom 12.12.00. Der Ring der Macht muss vernichtet werden, weil er letztlich jeden, auch die Guten, verführt. Er macht im wörtlichen Sinne süchtig.

Ein Gedanke, der auch eher dem 20. Jahrhundert entstammt: Wenige Jahre vor »Der Herr der Ringe« erschien Orwells »Animal Farm« und etwa zur gleichen Zeit William Goldings »Herr der Fliegen«, zwei der bekanntesten Parabeln über die zerstörerischen Versuchungen der Macht. Bei Tolkien ist dieser Aspekt allerdings weniger klar als bei Orwell oder Golding, unkontrollierte Machtfülle bedingt bei ihm nicht grundsätzlich Missbrauch, es gibt in »Der Herr der Ringe« genügend Beispiele für weise und gütige Autokraten, sondern ist lediglich eine potenzielle Gefahr. Tolkien selbst pflegte ein recht exzentrisches Politikverständnis. 1943 schrieb er an seinen Sohn Christopher: »Meine politischen Überzeugungen tendieren immer mehr zur Anarchie (philosophisch verstanden, als Abschaffung von Kontrolle, nicht bärtige Männer mit Bomben) – oder zur ›unkonstitutionellen‹ Monarchie. Gib mir einen König, dessen Hauptinteressen im Leben Briefmarken, Eisenbahnen oder Rennpferde sind.«
In politischer Hinsicht ist »Der Herr der Ringe« daher mindestens ebenso umstritten wie in literarischer. Begonnen hatte die Diskussion auf dem Kölner »Tolkien Thing« mit einer Provokation. Mit Kreide schrieb Marcel Bülles drei Begriffe auf eine Schultafel: »rassistisch, frauenfeindlich, nationalistisch«. Die Verwirrung war zunächst groß, doch schnell begann eine lebhafte Aussprache darüber, warum das Werk Tolkiens immer wieder mit diesen Adjektiven belegt wird. Besonders verstörend ist dessen Fixierung auf Abstammung und »rassische Reinheit«. Mittelerde ist eine von Geburt an hierarchisch aufgeteilte Welt: Je älter und »reiner« das Geschlecht, desto mehr natürliche Autorität besitzen deren Nachkommen – auch wenn damit noch nichts darüber ausgesagt ist, ob sie zu den »Guten« oder »Bösen« (die passender Weise aus dem Süden und Osten kommen) gehören. Mit den Orks schuf Tolkien eine Art Unterrasse, die in ihrer banalen Bösartigkeit eigentlich nur für die Vernichtung bestimmt ist. Doch Tolkiens Welt ist zu umfassend und widersprüchlich, um sie umstandslos einem politischen Lager zuzuordnen: Die kleine Gruppe aus Hobbits, Menschen, einem Zwerg, einem Elben und einem Zauberer, die aufbricht, um den Ring zu zerstören, könnte man genauso gut als Musterbeispiel für eine funktionierende multikulturelle Gemeinschaft lesen.
Nur Zyniker würden wohl den Sexismusvorwurf mit dem Einwand kontern, dass Frauen in »Der Herr der Ringe« ohnehin kaum vorkommen: Die wenigen weiblichen Figuren spielen nur dekorative Nebenrollen zur Inspiration der Männer. Auf 1.300 Seiten findet sich mit der Königstochter Eowyn gerade mal eine Frauenfigur, die weder dem Rollenbild der holden Maid noch der unnahbaren Königin entspricht. Aber auch sie wird am Ende sicher in den Hafen von Ehe und Haushalt geführt und gibt ihre kriegerischen Ambitionen ebenso auf wie ihre »unstandesgemäße« Liebe zu einem Mann von noch edlerer Abstammung.
Angesichts von Tolkiens kulturellem und gesellschaftspolitischem Konservatismus überrascht es zunächst, dass »Der Herr der Ringe« erst mit der beginnenden gegenkulturellen Massenbewegung Mitte der 60er Jahre zum Megaseller wurde. Doch Mittelerde bietet viele Identifikationsmöglichkeiten: Esoterisch angehauchte Hippies konnten sich mit dem Waldmystizismus und dem Rüschenschick anfreunden, eher politisch bewegte StudentInnen sahen im Ring eine Metapher für die Atombombe und fanden sich wieder im romantischen Bild von der Gemeinschaft assoziierter Schwacher gegen das mächtige Reich des Bösen – und alle nonkonformen Geister konnten mit Tolkiens Materialismus- und Technologiekritik übereinstimmen.
»Materialistischer ›Fortschritt‹ führt uns nur in den gähnenden Abgrund und zur eisernen Krone der Macht des Bösen«, äußerte Tolkien einmal gegenüber seinem Schriftstellerkollegen C.S. Lewis. Eine Haltung, die sich vielfach in »Der Herr der Ringe« wiederfindet. Besonders technischer Fortschritt wird immer wieder klar mit dem Bösen assoziiert: Maschinen, Dampf, Stahl, das sind Mittel der schwarzen Magie. Tolkiens Modernität lag in erster Linie in seinem Antimodernismus, wie der amerikanische Kritiker Andrew O’Hehir zurecht betont.
Dennoch betrachtete Tolkien seine ökologisch bewegten Hippiefans erwartungsgemäß mit wenig Gegenliebe – er nannte sie »mein bedauerlicher Kultus«. Mit noch mehr Skepsis hätte Tolkien, der 1973 starb, wahrscheinlich seine Anhängerschaft in der seit den 70er Jahren größer werdenden Gemeinde der Computerfreaks beäugt. Bereits Mitte der 70er konnten Computerdrucker in Stanford Texte in Tolkiens Runenalphabet ausdrucken, »Der Herr der Ringe« wurde schnell Vorbild für unzählige Computerspiele von »Zork« bis »Dungeons and Dragons«, und heute tauschen sich Fans auf der ganzen Welt in erster Linie über unzählige Fanpages im Internet aus, in denen auch unaufhörlich weiter geschrieben wird an den vielen Geschichten Mittelerdes, die Tolkien nur angerissen hat. Im Netz wuchert seine Erfindung unkontrolliert weiter.

»Inside The First Virtual World« überschrieb im Oktober das amerikanische Computer- und Hi-Tech-Magazin Wired seine Titelgeschichte zu »Der Herr der Ringe«. Hierin liegt der Schlüssel zum Verständnis der Faszination, die dieses Buch auch nach knapp 50 Jahren ausstrahlt und die alle Fangenerationen vereint: Tolkien schuf mit Mittelerde eine virtuelle Welt, an deren Detailliertheit und historischer Tiefe sich auch im 21. Jahrhundert alle anderen literarischen, filmischen und computergenerierten Versuche, Parallelwelten zu kreieren, messen lassen müssen.