Familienehre ist die Bringschuld der Frau

Terre Des Femmes startet eine Kampagne zum Thema Zwangsheirat.

Erzwungene Ehen bieten Märchenstoff fürs Kino. Monsoon Wedding, Tiger and Dragon, Das Piano oder Effie Briest – je exotischer das Filmdekor, desto eher garantieren verkaufte Bräute Publikumserfolge. Doch ein Mädchen im Nachbarhaus, das einem Fremden per Hochzeit übereignet wird? Und wenn schon, gab es das nicht schon immer? Beides stimmt, sagt Terre Des Femmes. Mit einer aktuellen Kampagne möchte die Tübinger Frauenrechtsorganisation dem Thema »Zwangsheirat« zu einer größeren Öffentlichkeit verhelfen. »Wir kriegen oft zu hören, wir würden damit Ressentiments schüren, weil MigrantInnen umso mehr abgelehnt würden«, sagt Kampagnen-Macherin Rahel Volz. »Zwangsehen sind aber weltweit verbreitet. Es gab und gibt sie in traditionellen Gesellschaften, auch lange noch bei uns. Das Bewusstsein fehlt völlig über diese Form von Menschenrechtsverletzung im Privatraum, die oft mit sexuellem Missbrauch einhergeht. Das wollen wir ändern.«

Verharmlosung des Phänomens Zwangsheirat

Schlüsselwort zum Verständnis des Phänomens Zwangsheirat ist die so genannte Familienehre, die nur gewahrt bleibt, wenn die zu verheiratende Frau unberührt und jungfräulich ist. In traditionellen Männergesellschaften ist die Familienehre immer noch eine Bringschuld der Frau und dient als Kontrollmittel – letztlich auch, um unerfahrene junge Frauen als Ressource unter den Familien weiterzureichen.
Aber wie kann jemand heute noch zum Heiraten gezwungen werden? Zwangsverheiratung, das ist laut Papatya, einem Schutzhaus für Musliminnen in Berlin, wenn die oder der Betroffene sich zur Ehe gezwungen fühlt und entweder kein Gehör findet oder nicht wagt, sich zu widersetzen. Weil Eltern, Geschwister, Onkel, Tanten und Schwiegereltern Druck ausüben. Verbal oder mit Schlägen, durch Einsperren oder Entführen, mittels emotionaler Erpressung oder dem Entzug von Hausschlüssel, Geld und Pass, mit dem Verfrachten ins Ausland oder dem erzwungenen Ende der Schulzeit.
Wie oft dies geschieht, wurde bisher nicht untersucht, ebenso wenig wie das Ausmaß innerfamiliärer Gewalt in Migrantenfamilien. Familien aus dem islamischen Kulturkreis versuchen, flüchtige Töchter wieder in ihre Gewalt zu bringen – wegen der Familienehre. Diese zu retten versuchen pakistanische Familien in London, algerische Eltern in Brüssel oder türkische in Köln – auf Kosten ihrer Töchter und, seltener, ihrer Söhne. Um die Integration von MigrantInnen bemühte Deutsche spielen die Zwangsheirat oft als kulturell verankertes Volkstum herunter, aus Bequemlichkeit oder Angst, sich den Vorwurf der Intoleranz einzuhandeln. Eine Berlinerin jedoch hat genau hingeschaut: Weil die TürkInnen die größte Gruppe von MigrantInnen in der BRD bilden, entwickelte Pinar Ilkkaracan 1994 einen umfangreichen Fragebogen für Berlinerinnen türkischer Abstammung. Das Ergebnis: Von den 114 Frauen, die den Fragebogen beantworteten, hatten 43 Prozent im Alter von 13 bis 17 Jahren geheiratet. 38 Prozent hatten den Bräutigam nie vorher getroffen. 30 Prozent waren nicht gefragt, und 39 Prozent gegen ihren Willen verheiratet worden. Nach Schätzung der WDR-Sendung Babylon »importieren« türkische Eltern jährlich 70.000 Bräute aus der Türkei nach Deutschland.

Kölner Fraueninitiativen beraten Familien

Umgekehrt werden Kölner Türkinnen und Türken zur Heirat in der Heimat gezwungen. Dafür haben die Eltern viele mögliche Gründe. Die Beraterinnen von agisra, einem Kölner Migrantinnen-Beratungs-Projekt, zählen sie auf: Damit die Tochter als Hausfrau und Mutter bei einem charakterstarken und wohlhabenden Ehemann gut untergebracht ist. Damit der Cousin aus dem Heimatdorf als Bräutigam das Aufenthaltsrecht erhält. Damit die Beziehungen zur Heimat gefestigt werden. Damit die pubertierende Tochter nicht so wird wie ihre Mitschülerinnen. Oder damit sie ihren deutschen Freund nicht mehr trifft. Leyla Arslan von agisra erzählt von einer Frau, die während der Ferien ihre nichts ahnende Tochter mit Hilfe der Tante an einen Verwandten in der marokkanischen Provinz verheiraten wollte. Damit sie nicht unter die Räder komme, indem sie sich in einen Deutschen verliebe. Dass die Tochter eigene Wege gehen will, ängstigt die Mutter, weil die Tochter besser integriert ist als sie selbst.
Die Frauen von agisra machen der Mutter mit Nachdruck klar, dass sie die Rechte ihrer Tochter verletzt. In den Beratungsgesprächen werden Bildungsdefizite sichtbar, mangelnde Integration, fehlende Deutschkenntnisse und Berufserfahrung. »Muslimische Migrantinnen standen lange außerhalb der Mehrheitsgesellschaft, es gab keine Integrationsmaßnahmen. Die gewalttätige Familie sei an allem Schuld, steht in der Zeitung. Wir fragen: Was hat diese Familie hier erlebt, was hat die deutsche Gesellschaft versäumt?«, sagt Arslan. agisra fordert frauenfreundliche Erleichterungen im Aufenthalts- und Einbürgerungsrecht, mehr Jobs für MigrantInnen in sozialen Einrichtungen und Schulaufklärung. Die Zwangsverheiratung müsse zudem als Asylgrund anerkannt werden.
Arif Ünal, Leiter des Gesundheitsberatungszentrums für MigrantInnen in Köln, zitiert türkische Forschungsergebnisse: Mit der Verwandtenehe (akraba evlig<caron>lig<caron>) werden Kinder einander versprochen. Neun bis 20 Prozent der Ehen kommen so zu Stande, unter mehr oder weniger familiärem Druck und Zwang. Die vermittelte Ehe (görücü usulü evilik) ist mit 44 Prozent weiter verbreitet. Über einen Vermittler werden zueinander passende PartnerInnen gesucht und einander vorgeschlagen. Die beiden können sich flüchtig kennen lernen und zustimmen oder ablehnen – mehr oder weniger freiwillig. Nur 16 Prozent finden ihre/n PartnerIn selbst. Herr Ünal betont, dass es auch harmonische Ehen gäbe, die unter Zwang zu Stande gekommen seien.

WASTA - Wohnhaus für muslimische Mädchen

Das Frauenamt Köln organisierte 1998 eine Tagung wegen der Zunahme von Fällen der Zwangsheirat. Immer mehr Hilferufe von verschleppten Mädchen aus der Türkei, Nordafrika oder Mazedonien kamen über SozialarbeiterInnen, ÄrztInnen, AnwältInnen und LehrerInnen. Die jungen Frauen kamen nicht aus den Schulferien zurück, wollten sich umbringen oder waren weggelaufen. Um die Geschundenen in Sicherheit zu bringen und ihnen eine neue Lebensperspektive zu bieten, gibt es im Großraum Köln – die Adresse ist geheim – das Wohnhaus WASTA. Dort betreut Dorothe Weier mit vier weiteren Pädagoginnen muslimische Mädchen. Weggelaufen wegen gewalttätiger Unterdrückung und Einengung, sexuellem Missbrauch und Zwangsverheiratung. »Die steht fast bei jeder Zweiten akut bevor«, sagt Dorothe Weier. »Vorher laufen sie weg. Aber nur die, die auf den Putz hauen, die Stärksten, die landen hier – über die Jugendämter. Die Dunkelziffer ist viel größer«. Elf junge Frauen zwischen 14 und 21 konnten 2002 aufgenommen werden, die meisten gehen heute über betreute Wohngruppen einer individuellen Selbstständigkeit entgegen. Nach Hause zurück will kaum eine. Meistens findet sich die Familie damit ab, dass die Tochter verloren ist. Dorothe Weier: »Wenn ein Mädchen eine Nacht nicht zu Hause schläft, kann sie schon als »Hure« abgestempelt sein. Daher bricht nach einem Aufenthalt bei uns der Kontakt erstmal ab. Ein Lebensziel unserer Klientinnen ist, der Familie zu beweisen: Schaut her, ich hab’s geschafft, ich bin keine Hure. Sie haben mit schweren Schuldgefühlen zu kämpfen.«
WASTA wurde u.a. von der türkischstämmigen Kölnerin Lale Akgün, die heute SPD-Bundestagsabgeordnete ist, mit konzipiert. Seit 1997 leitete sie das Landeszentrum für Zuwanderung. Es berät die Landesregierung in Fragen zu Migration und Integration. Akgün: »Ein Mädchen im Besitz einer gültigen Aufenthaltsgenehmigung kriegt in der Türkei einen gebildeten Mann verpasst, den würde sie hier nie kriegen. Aber viele dieser Ehen zerbrechen nach drei Jahren, wenn er die Genehmigung dann hat. Da ist politischer Handlungsbedarf: Wie können wir diese Mädchen stark machen, damit sie sich eine Berufsausbildung erkämpfen und den Eltern sagen können: ihr könnt mich mal? Die Terre-des-Femmes ist unterstützenswert.«

Islamisches Recht und Religion erlauben keine Zwangsheirat

Ilham Baroudi lehrt im muslimischen Frauen-Bildungszentrum in Köln. Sie bedauert, wenn muslimische Mädchen den qualitativen Unterschied zwischen gelebter Tradition und den Lehren des Islam nicht kennen. Nicht die Religion, sondern die Tradition sei es, die Zwangsverheiratung und arrangierte Ehen als Machtmittel konserviere: »Islamisches Recht und islamische Religion erlauben keine Zwangsheirat. Eine Ehe, die ohne Einwilligung des Mädchens geschlossen wird, ist ungültig. In der islamischen Ehe soll es keinen Zwang geben.« Dass die Wirklichkeit in manch einer Migrantenfamilie anders aussieht, bezeichnet Baroudi als »große Sünde des Vaters«. Bedrohte Mädchen sollten kämpfen. Gute Kenntnis des Korans und entsprechende Argumente könnten ein Nachgeben des Vaters bewirken. Falls er religiös sei.
Die Übergänge zwischen arrangierten und erzwungenen Ehen sind fließend. Viele islamisch oder binational verheiratete Paare leben gleichberechtigt miteinander. Und Zwangsehen scheitern immer öfter. Viele gegen ihren Willen zusammengeschweißte Töchter und Söhne der zweiten und dritten Generation landen ein, zwei Jahre später bei Gülsen Kücük-Ratzlaff, Fachanwältin für Familienrecht in Köln. »Zu 90 Prozent habe ich türkisches Klientel. Sehr oft klagen Ehemänner wie Ehefrauen über ihre Verheiratung unter Zwang und wollen so schnell wie möglich getrennt werden. Weil die Lebensvorstellungen des Paares nicht zusammen passen. Manche Eltern hofften, mit ihrer Heiratskandidatin die Beziehung des Sohnes zur deutschen Freundin zu beenden, aber das passiert eben oft nicht. Auf der Frau lastet der Druck, die Ehe auszuhalten. Sie wurde ausgesucht, weil sie brav und züchtig war, keinen schlechten Ruf hatte, also unerfahren. Ein großes Problem, gerade in Köln.« Türkische junge Männer haben den Freiraum, mit wechselnden Freundinnen auszugehen, aber ihre Bräute dürfen keine Erfahrungen mit Liebe und Sex gemacht haben. Denn traditionell orientierte muslimische Väter leben in strengen Communities. »Was, du hast deine Tochter nicht im Griff?« heißt es dann etwa im Kaffeehaus.
Für die türkische Regierung, die eine Aufnahme in die EU anstrebt, ist die Zwangsheirat ein Reizthema. Sie steckt in einem Dilemma. Einerseits ist es denkbar unpopulär, in das vermeintliche Privatleben der potenziellen Wähler hineinzuregieren. Andererseits möchte sie sich nicht den Vorwurf einhandeln, Zwangsheirat zu dulden. Denn hier geht es nicht um archaisch anmutende Sitten, sondern um Menschenrechtsverletzungen.

Info
www.terre-des-femmes.de: vertreibt Unterrichtsmaterialien zu Zwangsheirat, Info-Reader, Poster, Migrantinnen-Merkblatt mit Adressen und Rechts-Tipps
www.papatya.org: Sehr gute Infobroschüre zur Zwangsheirat
www.serap-cileli.de: Serap Cileli, eine von Zwangsheirat Betroffene, schrieb ihre Geschichte in dem Buch »Wir sind Eure Töchter, nicht Eure Ehre« auf, Neuthor Verlag, Michelstadt 2002, 12 EUR
WASTA c/o AAK, Antwerpener Str. 19, 50672 Köln, Tel. 51 40 55
www.agisra-koeln.de, Agisra e.V., Steinbergerstr. 40, 50733 Köln, Tel. 12 40 19
Gesundheitszentrum für MigrantInnen, Marsilstein 6, 50676 Köln, Tel 95 15 42 45
Bildungszentrum muslimischer Frauen, Liebigstr.120b, 50823 Köln, Tel. 51 18 15