Jenseits der Grenze

Sie dürften die Konsensband unserer LeserInnenschaft sein: Calexico. Ihre Mischung aus Country, Latin, Jazz und Postrock sorgt jedenfalls seit Jahren in Köln für ausverkaufte Hallen. Jetzt legt die Band aus Arizona ihr viertes Album vor. Christian Meier-Oehlke sprach mit Joey Burns über amerikanische Vorstädte und den Einfluss französischer Popmusik.

Christuskirche, Mitte Dezember, Minustemperaturen. Über das strenge Holzkreuz hinter dem Altar wird die auf einer Autokarosse thronende Maria /Madonna von Victor Gastelum projiziert und für einen Moment gelingt die Verbindung von Mystik des Südens und Symbolik des Nordens. Calexico haben unter dem Pseudonym Spoke zu diesem Fest geladen. Während John Convertino nahezu regungslos hinter seinem edlen Gretsch-Schlagzeug sitzt und die Trommeln mit schier unglaublicher technischer Präzision bearbeitet, verspürt Gitarrist und Sänger Joey Burns einiges Unbehagen, den Conferencier zu geben. Zu allem Überfluss hat der Mann auch noch Geburtstag. Zum Glück jedoch verzichtet die Gemeinde auf ein Ständchen, so können sich alle Anwesenden auf die großartigen Songs des neuen Albums konzentrieren, »Feast of Wire«. Ein Konzert mit Mützen, Getränke und Zigaretten müssen vor der Tür bleiben.
Das Jahr 2000 verzeichnete den Durchbruch für das Duo. Das dritte Album, »Hot Rail«, erschien und führte zur endgültigen Wandlung vom Feierabend-Seitenprojekt von Giant Sand zum umjubelten Hauptakt. »Hot Rail« chartete, Calexico war eine der Indie-Bands der Stunde, die Konzerte, die teilweise zusammen mit den Mariachis von »Luz de Luna« bestritten worden, streiften gelegentlich fiese World-Music-Klischees: Latino-Party inklusive Guantanamera-Unidad. Doch das war nur ein kurzer Moment. Die Anerkennung blieb, und die Erwartungen wuchsen. Jetzt stehen Calexico vielleicht am wichtigsten Punkt ihrer Bandgeschichte, Größeres scheint möglich. Joey Burns beurteilt diese Szenarien dennoch nüchtern.
SR: Was passierte nach dem Erfolg von »Hot Rail«?

Burns: John und ich kennen uns schon so lange, bereits vor Giant Sand sind wir zusammen aufgetreten. Der Erfolg mit Calexico ist allmählich eingetreten und größer geworden, genauso wird er irgendwann verschwinden. Wir haben auf »Feast of Wire« Ansätze umgesetzt, die wir schon auf unserem ersten Album »Spoke« entwickelt hatten. Einige Musiker und Musikerinnen sind zu uns nach Tucson gekommen, weil sie diesen Calexico-Sound auf ihre Alben packen wollten. Wir dachten, das könnten wir problemlos tun, aber das hätte uns nicht weitergebracht. Es gibt noch so viele andere Ideen und Einflüsse, die wir selber umsetzen wollen! Dennoch hat es lange gedauert, zu dem zu werden, was wir momentan sind, weil uns am Anfang einfach das Selbstvertrauen fehlte.

Was sind die wichtigsten musikalischen Einflüsse auf »Feast of Wire«? Bislang hatten wir Country, Latin, Jazz und Postrock.

Das neue Album hat einen sehr offenen Ansatz. Da gibt es dieses Stück »Crumble« mit viel Gil Evans und Charles Mingus. Mingus ist ja in Nogales geboren und einige Jahre aufgewachsen, einer Grenzstadt zwischen Arizona und Mexiko. Dann gibt es klassische Postrocknummern oder ein Stück wie »The Book and the Canal« mit einem sehr minimalen Ambientansatz. Der südwestliche Einfluss ist geblieben, Tex-Mex, daneben gibt es Railroad-Indie-Rock-Nummern wie »Black Heart«. Diese verschiedenen Stile lassen diesen wunderbaren Kontrast zu, den ich wirklich gerne habe.

»Black Heart« hat ein opulentes Streicher-Arrangement, was neu für euch ist.

Das ist von Françoiz Breut beeinflusst. Ihr zweites Album ist von unserem Produzenten Craig Schumacher gemischt worden, und die Streicher-Arrangements sind in Budapest eingespielt worden, da wollten wir eigentlich auch hin. Dann lernten wir Michael Fan kennen. Ein Anruf genügte und die Arrangements standen. Ursprünglich wollte ich nur »Close Behind« mit Streichern unterlegen, doch John dachte, es sei eine gute Idee, mehr mit den Streichern zu arbeiten.

Wie kam die Zusammenarbeit mit Françoiz Breut auf deren zweitem Album zustande? Überhaupt scheint es eine starke Affinität zwischen dir und Frankreich zu geben, sind das die Nachwehen deines Geburtsortes Montreal?

Da bin ich schnell weggezogen, nach Kalifornien. Marianne Dissard, die auf unserem letzten Album singt, lebte einige Zeit in Phoenix und Tucson und kannte Giant Sand vor mir. Françoiz und ich trafen uns während einer Tour, und so kam die Sache ins Rollen. Dieses Breut-Stück »Si tu disais« haut mich einfach immer wieder um, ich habe das ja auch versucht zu übersetzen und schon ein paar mal gespielt. Die Melodiebögen von Françoiz haben dann wiederum »Close Behind« auf »Feast of Wire« beeinflusst.

Im Eröffnungsstück »Sunken Waltz« geht es um die »City of Quartz«. Warum dieser Bezug zu dem gleichnamigen Buch von Mike Davis, in dem es um Stadtplanung, Wasserreserven, urbane Ausdehnung und Lebenstrategien auch der spanischsprachigen Bevölkerung von L.A. geht?

Das ist ein weiterer Song über die Ausdehnung der Vorstädte, die Fruchtbarmachung der Wüste. Das sind Themen, die die Stadtplaner in Europa gar nicht interessieren, bei euch konzipiert man die Städte um ein Zentrum. In den USA geht es um den amerikanischen Traum, und der beinhaltet Haus inklusive Wachhund und Garten. Vor allem im Westen der USA gab es Wüste – L.A., Vegas, Phoenix oder Tucson sind Städte aus der Wüste. Ich mag den Ansatz von Davis, genauso wie ich die Idee von Carlos Fuentes in seinem Buch »Crystal Frontier« mag. Die Dinge werden beschrieben wie sie sind, die Zukunft bleibt ungewiss. »Rivers of Empire« von Donald Worster ist auch so ein Buch. In gewisser Weise zieht sich das Thema der Ausdehnung der Vorstädte durch unsere Alben, wir sind die Band des »suburban sprawl themes«. »Rivers of Empire« hätte gut und gerne auch der Titel des neuen Albums werden können, stattdessen haben wir uns von Harry Crews und seinem Buch »Feast of Snakes« inspirieren lassen. Mich faszinieren diese Extreme, dieser Überfluss auf der einen Seite, und die Grenze, der Draht, der uns von Mexiko trennt. Die Reste aus Kalifornien dienen nur wenige Kilometer weiter südlich als Grundversorgung
vieler Menschen. Das sind unglaubliche Gegensätze.
Das Presseinfo zitiert dich mit den Worten, auf »Feast of Wire« ginge es um Menschen, die »down and out« seien, wovon es dieser Tage viele gäbe ...
Es geht nicht nur um die globale Entwicklung – Bush, Militärbudget und drohender Krieg –, es geht auch um die vielen kleine Dinge im Alltag, die einen verzweifeln lassen könnten. Trotzdem gibt es immer einen Funken Hoffnung. Im Song »Sunken Waltz« baut Carpenter Mike am Ende eine Maschine, welcher Art auch immer. Niemand weiß genau, was er tut, aber es ist eine positive Entwicklung. Ein Ort wie dieses riesige Restaurant »Güero Canelo« in Tucson mit seinen gigantischen Tacos und den vielen lärmenden Familien kann auch dieser Funken sein, mitten in der Wüste, wo eigentlich Gewalt, Drogenhandel und Aussichtslosigkeit herrschen. So ist Tucson. Melancholisch, aber auch aufregend und inspirierend. Ich möchte in das Herz dieser Orte vorstoßen. Das ist für mich die Mitte des Lebens.


Menschen und Orte mit wenig Hoffnung und kleinen, unbeachteten Geschichten bleiben die Themen von Burns und Convertino. Obwohl man auf »Feast of Wire« vielleicht die Hits vermissen wird, schaffen es Burns und Convertino erneut, »Politik« und Melodiebögen zu vereinen ohne in Sozialromantik zu verfallen. Genauso wichtig wie die Textpassagen sind immer auch die oftmals als filmisch rezipierten Stimmungen, die in den Instrumentalstücken transportiert werden. Diese kleinen Miniaturen, manchmal keine zwei Minuten lang, die mal als Dub, mal als Lo-Fi-Stückchen, mal als Tex-Mex-Nummer daherkommen, kommentieren nicht selten die Texte der Stücke davor und bieten weitere Interpretationsmöglichkeiten. Burns hat an seinem Gesang gearbeitet, viele seiner Parts erscheinen nicht mehr so beiläufig wie auf den Vorgänger-Alben. Aber obwohl Calexico sich verschiedener lateinamerikanischer Musikstile bedient hat, gab es bislang auf keinem Album einen spanischsprachigen Gastsänger. Das allerdings soll bald anders werden: Die Verhandlungen mit Jacob Valenzuela, einem der Trompeter der Band, laufen auf Hochtouren.

»Feast of Wire« erscheint am 10.2. bei City Slang/
Labels/Virgin. Für April planen Calexico eine Eu-
ropa/Deutschlandtour.