Arbeiten, um weiterarbeiten zu müssen

Welche Rolle spielt Arbeit in unserer Gesellschaft? Und wie wird Arbeitslosigkeit instrumentalisiert? Holger Schatz zeigt, warum die allseits geforderte Bekämpfung der Arbeitslosigkeit nicht nur auf die Schaffung von Arbeitsplätzen zielt, sondern immer auch ein Klima von Angst und Schuld schürt.

Man muss kein Medienkritiker sein, um hinter dem Lärm des Dauergeredes über Arbeitslosigkeit aufklärerische Ödnis zu erkennen. Es reicht aus, sich zu erinnern, wann man mal einen Talk gesehen, einen Artikel gelesen hat, in dem nicht die Frage diskutiert wurde, wie die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen sei, sondern warum. Arbeit, besser gesagt Erwerbsarbeit, ist eines jener Phänomene, die Dank des so genannten Beharrungsvorteils des Faktischen außerhalb des Verhandelbaren stehen. Die Arbeit hat sich gegen jeden Zweifel immunisiert, obwohl oder gerade weil eigentlich niemand mehr an sie glaubt. Jedenfalls nicht in der Gestalt der Vollbeschäftigung.
Die Spatzen pfeifen von den Dächern, was in jeder Gemeinschaftskunde vorgerechnet wird: Wurde ein Auto einst von 100 Arbeitern zusammengebaut, so reicht heute in der gleichen Zeit ein Arbeiter aus. Gewiss, dieses Prinzip besitzt nicht überall die gleiche Gültigkeit. Erinnert sei nur etwa an die Krankenhäuser, jene Orte also, an denen Arbeit im Überfluss vorhanden ist, sie aber nicht verrichtet wird. Auf den Gedanken aber, das eine könnte mit dem anderen zu tun haben, Arbeitslosigkeit also die Kehrseite der Überarbeit darstellen, scheint allenfalls zu kommen, wer an das Ausmaß der offenen und verdeckten Überstunden denkt. Die eigentlich nahe liegende Überlegung hingegen, es könnte vielleicht etwas mit den grundlegenden Vorzeichen zu tun haben, unter denen Arbeit heute überhaupt nur stattfindet, steht unter Ideologieverdacht. Wer ihn verfolgt muss mit dem Makel leben, als verknöchert oder zumindest weltfremd zu gelten.

Arbeiten um zu arbeiten

Schade eigentlich. »Wir müssen nichts so machen wie wir’s kennen, nur weil wir’s kennen, wie wir’s kennen« könnte man so schön mit der Hamburger Band Die Sterne singen und vielleicht bei Aristoteles schmökern. Man fände hier Worte, die so banal sind, dass sie eigentlich keines Zitats würdig erscheinen. Der Zweck der Arbeit ist für Aristoteles stets die Nicht-Arbeit. Arbeiten, um Arbeit zu sparen. Ein Werkzeug wird erfunden, um die anstehende Arbeit so knapp wie möglich ausfallen zu lassen. Bedeutung gewinnen diese Worte erst, wenn man bedenkt, dass sich heute die Zweck-Mittel-Relation der Arbeit ins genaue Gegenteil verwandelt hat. Heute ist Arbeit immer weniger Mittel, sondern Zweck. Arbeit findet statt, damit weitere Arbeit stattfindet. Der Ausgangspunkt für Arbeit ist in den seltensten Fällen ein sich aufdrängender Mangel, ein Missstand, irgendetwas also, das zu einer bewussten Entscheidung für den Einsatz von Arbeit führt. Wer schon einmal jemanden kennen gelernt hat, der sich selbstständig machen will, aber noch nicht weiß, mit welcher Idee, dem wird der Gedanke nicht so fern liegen, dass wir letztlich in einer Gesellschaft leben, die einer gigantischen Arbeitserfindungsanstalt gleich kommt. In einer Fernsehdebatte präsentierte vor nicht allzu langer Zeit der Arbeitsmarktforscher Meinhard Miegel vom Bonner Institut für Wirtschaft und Gesellschaft die an sich sympathische Idee, die Deutschen könnten doch auf eines ihrer liebsten Hobbys, die Gartenarbeit, verzichten. Allerdings, nicht um mehr wilde Gärten oder weniger Rasenmäherlärm, sondern »neue Beschäftigung« zu ermöglichen.
Der langjährige wissenschaftliche Berater des »Bündnis für Arbeit«, Wolfgang Streeck vom Kölner Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung, argumentiert da schon etwas seriöser, wenn er wie jüngst in einem Gewerkschaftsmagazin für den weiteren Ausbau des Niedriglohnsektors plädiert: »Ob eine Beitragsentlastung geringerer Einkommen dazu führt, dass noch mehr Hamburger gegessen werden, geht den Arbeitsmarktpolitiker nichts an; über Geschmack sollte er nicht streiten. Wer erst politisch klären will, was ›gesellschaftlich sinnvolle Tätigkeit‹ ist, um dann für diese ›Arbeitsplätze einzurichten‹ der mag es gut meinen. Das ist aber schon das Beste, was man über ihn sagen kann.« Deutlicher kann die Absurdität eines selbstbezüglichen Systems »Arbeit« eigentlich nicht auf den Begriff gebracht werden. Hauptsache Arbeit. Was, wie und warum gearbeitet werden soll, hat nicht zu interessieren.

Warum Arbeitslosikeit abbauen?

Allzu viel ließe sich noch zusammentragen, um das Prinzip »Arbeiten, um weiter arbeiten zu müssen« zu verdeutlichen. Es würde einem wieder der PKW einfallen, von dem man weiß, dass er längst so produziert werden könnte, dass nicht alle 15 sondern erst alle 50 Jahre ein neuer fällig wäre. Bereits zu einer Zeit, in der das heutige Maß Kapital verwertender Arbeit unvorstellbar gewesen sein muss, sah Karl Marx diese Paradoxie mit bestechender Klarheit: »Während die kapitalistische Produktionsweise in jedem individuellen Geschäft Ökonomie erzwingt, erzeugt ihr anarchisches System der Konkurrenz die maßloseste Verschwendung der gesellschaftlichen Produktionsmittel und Arbeitskräfte, neben einer Unzahl jetzt unentbehrlicher, aber an und für sich überflüssiger Arbeit.« Doch wer vermag schon darüber urteilen, was überflüssige Arbeit ist und was nicht? Und überhaupt, vielleicht arbeiten die Menschen ja, weil es ihr Bedürfnis ist, oder aber, um einfach Geld zu verdienen. Die Einwände sind berechtigt, und genau das macht die ganze Sache so kompliziert.
Doch selbst wer die Arbeit, die (noch) geleistet wird, nicht anzweifeln möchte, sollte Gründe angeben können, warum denn die real existierende Arbeitslosigkeit unbedingt abgebaut werden soll. Nun, ganz so ist es ja nicht, dass nicht rational zu argumentieren versucht würde. Man denke an die Horrorszenarien einer alternden Gesellschaft, in der immer mehr Rentenbezieher von immer weniger Arbeitenden durchgefüttert werden müssen. Doch auch hier ließe sich zeigen, wie das System »Arbeit« sich seine eigenen Sachzwänge selber schafft. Vorschläge, wie die jetzige so genannte umlagefinanzierte durch eine steuerfinanzierte Rente ersetzt und so von den beitragszahlenden Arbeitenden abgekoppelt werden könnte, gibt es jedenfalls zur Genüge. Was bleibt ist die allgegenwärtige Klage über die miserable »wirtschaftliche Performance« des nationalen Standorts und das Beschwören der kollektiven Opfer- und Verzichtsbereitschaft. Wenn doch nur – wie etwa die Hartz-Kommission vorschlägt – endlich mehr Menschen gewerblich putzten oder Rasen mähten. Arbeit = Boom = Arbeit. Es ist der Glaube an diese Formel, ja der Wunsch, es komme auf jeden hochgekrempelten Ärmel an, der so viele mitsummen lässt: Jetzt wird wieder in die Hände gespuckt ...

»Je mehr das Volk arbeitet, umso weniger Laster gibt es«

Nein, die Geschichte von der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, die in Wirklichkeit viel eher von der Bekämpfung der Arbeitslosen handelt, ist wohl nur zu verstehen, wenn man die ökonomisch-rationale Ebene im engeren Sinne verlässt und danach fragt, was eigentlich die modernen Gesellschaften zusammenhält. Wenn wir uns erinnern, wie sich diese Frage am Ende des Mittelalters und des Feudalsystems und damit am Ende einer von Religion legitimierten Herrschaft stellte, dann wird klar, warum Napoleon, die Verkörperung strategischer Rationalität schlechthin, überzeugt war: »Je mehr meine Völker arbeiten, umso weniger Laster wird es geben.« Die Philosophie hat den Zusammenhang von Arbeit und Herrschaft oft genug reflektiert und beschrieben, wie Arbeit neben Gütern vor allen Dingen Konformität und Dummheit produziert. Weil dieses System sich auf erfolgreiche Übergänge von Fremd- zu Selbstzwängen, auf ideologische Konstruktionen wie das protestantische Arbeitsethos oder das postmoderne Selbstverwirklichungsideal stützen kann, überlebt es sich immer wieder selbst.
Dennoch muss seine Stringenz stets aufs Neue hergestellt werden, gerade dann, wenn wie heute die realökonomische Entwicklung es objektiv immer absurder erscheinen lässt. Denn was bedeutet es eigentlich, wenn die Arbeitslosigkeit steigt, die tatsächliche und potenzielle Gütermenge aber auch? Doch nichts anderes, als dass Arbeit drastisch relativiert werden könnte, zumindest in zeitlicher und normativer Hinsicht. Was sich in der realen und virtuellen Arbeitsmarktpolitik jedoch abspielt, ist das genaue Gegenteil. Je weniger das Kapital Arbeit braucht oder positiv formuliert: je mehr die Menschheit doch dem Traum von der radikalen Reduzierung der Arbeit näher kommt, umso weniger kann man darauf verzichten – in den Worten des französischen Philosophen Jean Baudrillards –, »die Arbeit als gesellschaftliche Zuteilung zu reproduzieren, als Reflex, als Moral, als Konsens, als Steuerung, als Realitätsprinzip. Aber Realitätsprinzip des Codes: ein gigantisches Ritual von Zeichen der Arbeit breitet sich über die ganze Gesellschaft aus – einerlei, ob das noch produziert, Hauptsache, es reproduziert sich«.

Auch Arbeitslose simulieren Arbeit

Aber diese Simulation, diese »Retotalisierung« von Arbeit ist zutiefst autoritär, »denn das ›Warten‹ ist eine Ableistung der Zeit, die frei geworden ist, ohne dass über sie verfügt werden kann«, wie die Soziologin Gerburg Treusch-Dieter in Anlehnung an Günther Anders bemerkt. Wer einmal behördlich arbeitslos gemeldet war, weiß, was Simulation von Arbeit in der Form des »Wartens« bedeutet. Man braucht kein Verschwörungstheoretiker zu sein, um zu erkennen, welche Funktion Arbeitslosigkeit für das Funktionieren des Herrschaftssystems »Arbeit« hat. Erinnert sei dabei nicht nur an den Druck, den sie als Marx’sche »Reservearmee« auf die Löhne und Arbeitsbedingungen der noch Beschäftigten ausübt. Erinnert sei vielmehr daran, wie die Arbeitslosigkeit, die als strukturell bedingte ohnehin nicht zu beseitigen ist, dazu benutzt wird, Gesellschaftsentwürfe, die nicht von der Arbeit her gedacht werden, zu diskreditieren. Insofern geht es eigentlich bei der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit nicht wirklich darum, neue Arbeitsplätze zu schaffen, sondern darum, zu verhindern, dass sich die Arbeitslosigkeit von der Angst emanzipiert. Um zu zeigen, was das bedeutet, ist ein kleiner Exkurs in die psychoanalytische Arbeitslosenforschung hilfreich.

Psychologie der Arbeitslosikeit

In einer Kultur, in der Arbeit derart positiv besetzt ist wie in der unseren, kann man die Folgen eines Arbeitsplatzverlusts etwa mit denen einer Partnertrennung vergleichen. Arbeit wie Partner waren vor der Trennung Objekte libidinöser Besetzung. Im Falle der Liebesbeziehung ist das Subjekt nun bestrebt, das Objekt aufzugeben, um Selbstbewusstsein wiederzuerlangen und sich auf sein Leben konzentrieren zu können. Die Suche nach einem neuen Partner steht dabei nicht zwingend im Vordergrund, das soziale Umfeld wird in der Regel vielmehr die Hinwendung des Verlassenen an Freunde oder Hobbys stärken. Im Falle des Jobverlusts hingegen besteht die gesellschaftliche Erwartungshaltung, sich sofort und ausschließlich wieder um »eine Arbeit«, zumindest aber um den Erhalt bzw. die Verbesserung der Beschäftigungsfähigkeit zu kümmern. Deshalb bleibt der Arbeitslose auch ohne Job in der Regel negativ auf Arbeit bezogen und ist mit all den Konsequenzen konfrontiert, die eine misslungene Trauer- und Loslösungsarbeit nach sich ziehen: Ich-Schwäche, Depression, Unterwürfigkeit, gesellschaftliche (Selbst-)Isolation.
Auch wenn man nicht beweisen kann, dass es gesellschaftliche Interessen gibt, die genau diesen Zusammenhang von Angst und Arbeitslosigkeit konserviert wissen wollen, so laufen doch alle Maßnahmen der Arbeitslosigkeitsverwaltung faktisch darauf hinaus. Der Arbeitslose hat sich latent schuldig zu fühlen dafür, auf Kosten der Allgemeinheit alimentiert zu werden. Es wird erwartet, dass es ihm schlecht geht. Das Vertrackte an diesem Funktionsmechanismus besteht nun darin, dass die fatalen psychologischen Folgen der Arbeitslosigkeit in aller Regel jenem Zwangssystem zu Gute kommen, das für sie verantwortlich zeichnet. So verewigen selbst noch diejenigen diesen Zwangszusammenhang, die es gut mit den Arbeitslosen meinen und Arbeitsplätze für sie fordern.

Glückliche Arbeitslose

Vieles spricht dafür, dass dieser verhängnisvolle Teufelskreis aus Arbeitswut, Angst und Arbeitslosigkeit nur durchbrochen werden kann, wenn sich jene absurde Zweck-Mittel-Relation der Arbeit, von der eingangs die Rede war, wieder umdrehen ließe, wenn Arbeit also wieder Mittel und nicht Zweck wäre. Dies aber wäre wohl unterhalb einer Revolution kaum zu machen und eine solche scheint unrealistischer denn je. Doch wer weiß schon, welche Folgen es hätte, wenn die allgemeine Verlogenheit, mit der heute selbst die sinnloseste Arbeit heilig gesprochen wird, einer neuen Ehrlichkeit wiche. Die Bewegung der »Glücklichen Arbeitslosen« deutet die subversiven Möglichkeiten an, wenn sie verkündet: »Wenn der Arbeitslose unglücklich ist, dann liegt das nicht daran, dass er keine Arbeit hat, sondern dass er kein Geld hat«. Anstatt immer nur die Ausgrenzung der Arbeitslosen zu betonen, könnte auf die der Arbeitenden hingewiesen werden. Wer kennt nicht die traurige Situation, einem gesellschaftlichen Ereignis fernbleiben zu müssen, nur um anderentags ausgeruht und leistungsfähig zur Arbeit gehen zu können. Und die Gewerkschaften schließlich könnten sich vielleicht des antizyklischen Denkens besinnen und jenen Erpressungsdiskurs unterlaufen, der sich um die Arbeitslosigkeit aufgebaut hat.

Missverstandene Arbeitskritik

Solange das Dogma »Hauptsache Arbeit um jeden Preis« erhalten bleibt, werden jedenfalls Arbeitgeber weiterhin sukzessive die Arbeit noch unwirtlicher gestalten, als sie ohnehin schon ist. Zugegeben, all dies ist leichter gesagt als getan, und es besteht ernsthaft die Gefahr, dass eine Arbeitskritik, die über keine gesellschaftliche Basis und Perspektive verfügt, zur bloßen Attitüde von gelangweilten »Aussteigern« mutiert, die sie sich im wahrsten Sinne des Wortes leisten können. Der Erfolg von Ratgeber- und Lifestyleliteratur à la »Die Kunst, weniger zu arbeiten« zeigt, wie bequem eine missverstandene Kritik der Arbeit sein kann. Dennoch wäre viel gewonnen, wenn das Unbehagen an der Arbeit sich einen anderen Ausdruck verschaffen würde als den, der gerade hier zu Lande allzu oft zu gegenwärtigen ist: Im harmlos anmutenden Neid auf diejenigen, denen man unterstellt, sie würden nicht arbeiten müssen, der sich aber schnell zu erkennen gibt als Hass auf jene, denen man zugleich nachsagt, sie täten dies auf Kosten anderer.

Holger Schatz schreibt zurzeit an seiner Dissertation »Krise und Kritik der Arbeit« und arbeitet u. a. beim freien »Radio Dreyeckland« in Freiburg mit. Zusammen mit Andrea Woeldike hat er das Buch »Freiheit und Wahn deutscher Arbeit« (Unrast Verlag, Münster 2001, 15 EUR) geschrieben.