AUGEN, OHREN, SCHWANZ.

2001 erhielt Gregor Schneider den Großen Preis der Biennale Venedig für sein Kunstbauwerk »Totes Haus ur«. Welche Konsequenzen hat solch eine Auszeichnung auf die Arbeit und im Kunstmarkt? Und was zeigt Schneider eigentlich derzeit im Museum Siegen? Michael Staab fragte bei ihm nach.

Fragt man Gregor Schneider, wo heute der Goldene Löwe ist, erfährt man viel über die komplexe Denkweise des 36-jährigen Künstlers aus Rheydt bei Mönchengladbach. Er hat dem geflügelten Löwen ein Haus gebaut, statt ihn stolz ins Regal zu stellen. Eine Box, innen mit Styropor verkleidet und außen aus Plastik, die jetzt in einem Karton in der Diele steht. Hat er die Trophäe auch weggepackt, weil sie als eine der gefährlichsten Auszeichnungen gilt? Weil es nach so einer bedeutenden Ehrung vorbei sein könnte mit der unabhängigen künstlerischen Arbeit?
Die Biennale ist ein internationales Medienereignis. Vom Schwäbischen Tagblatt bis zum Kathmandu Daily Messenger hat wohl jedes Blatt mit Kulturteil über Schneider berichtet. Vorher war Schneider eher als Geheimtipp gehandelt worden, ein marktfremder Künstlerprototyp, der obsessiv und insgeheim an der Metamorphose eines unscheinbaren Mehrfamilienhauses in der Unterheydener Straße in Rheydt arbeitet. Fern der Welt enstünden dort drinnen seit 1986 in berserkerhafter Arbeitswut abgründige Räume, undurchdringliche Verschachtelungen, gebaute Aussichtslosigkeiten und gefährliche Fallgruben, hörte man. Sehen durfte das aber kaum jemand. Das war Schneider nicht recht.
Um so erstaunlicher dann Schneiders von Udo Kittelmann initiiertes Projekt »Totes Haus ur« in Venedig, eine rekonstruktive Verdopplung großer Teile des Zentralwerkes »Haus ur« in Rheydt. In monatelanger Arbeit entstanden im Deutschen Pavillon wieder diese Räume und Raumfolgen von fast brutaler Schlichtheit bis hin zu kalkuliert verstörender Komplexität, die den Besucher in einen Sog der Wahrnehmungsveränderungen zogen. Man betrat das Gebilde durch eine schlichte Haustür. Beim nächsten Schritt verschwand zunächst der großmächtige Deutsche Pavillon, dann die Erinnerung an die Serenissima Venedig und schließlich die eigene Kunstsicherheit. Das geheimnisvolle »Haus ur« hatte sich verdoppelt und war zur Schau gestellt worden. Tausende Besucher haben es bis in den letzten Winkel erkundet, es wurde analysiert, gedeutet, erklärt. Was macht jetzt eigentlich Gregor Schneider?
Wie der Titel zeigt, hatte er selbst erwartet, das Haus werde durch Venedig ausgeschlachtet und abgetötet. Fragt man ihn heute, berichtet er von genau dem Gegenteil. Das Haus ist weiter gewachsen. Er lebt und arbeitet weiterhin in Rheydt, füllt die entstandenen Lücken und entwickelt neue Räume. Das »Haus ur« ist noch immer nicht öffentlich zugänglich, und so scheint sich auf den ersten Blick nichts geändert zu haben.
Doch manches ist anders, nach Venedig. Es zeigt sich, dass die gewonnene Popularität der Arbeit eher genutzt als geschadet hat, da nun auch der Blick auf das Gesamtwerk frei wird. Seit der Biennale hat Gregor Schneider mehr als 20 Ausstellungen realisiert, nicht mitgerechnet die Projekte, die in Auseinandersetzung mit seiner rätselhaften Mitbewohnerin, Frau Hannelore Reuen, entstanden sind. Nach der Veröffentlichung des Hauses scheint der Druck nachgelassen zu haben, nur originale Räume und andere Arbeitsbeweise aus dem »Haus ur« zu zeigen. So werden neben ortsbezogenen, zum Teil performativ bespielten Raumveränderungen nun auch Bauteile und andere Objekte ausgestellt, die Schneider als eigenständige Skulpturen versteht. Viele seien vor Jahren schon in Ausstellungen dabei gewesen, dann aber unsichtbar, eingemauert oder hinter den Räumen versteckt. Die damals noch in spontaner und expressiver Arbeitsweise entstandenen Arbeiten baut er nun nach und löst sie von den ursprünglichen Räumen. Es sei ein Versuch, sie dadurch auch rational zu verstehen und ihre Wirkung zueinander und im Raum neu zu überprüfen.
Im Museum für Gegenwartskunst Siegen ist man Teilnehmer an dieser Suche. Acht Objekte stehen hier als Raster angeordnet im Raum. Ein strenges, verputztes Mauerstück wie aus dem Baukasten eines Giganten, ein zum archaischen Grabhügel mutiertes Türblatt, eine durch ein Brett geteilte, silikonverschmierte Matratze, ein schwarzer PVC-Eimer mit einem phallusähnlichen, haarbedeckten Etwas, das nach Entsorgung schreit ... Losgelöst von Schneiders Alp-Räumen wirken diese Artefakte fast schon erschreckend schön und museumstauglich. Dennoch verspürt man als Betrachter das dringende Bedürfnis, sie neu im Raum zu ordnen. Erst spät erkennt man den Grund: Durch einen schlichten grauen Teppichboden zwingt Schneider der Museumsarchitektur eine eigenmächtige Raumsituation auf, die bis in den Nebensaal vordringt. Dieser Museumsraum wurde durch eine eingezogene Wand erst halbiert, dann gespiegelt und identisch nachgebaut. Jeder der beiden fast leeren Räume – nur besetzt mit einem Müllsack und einem zugehängten Notausgang – wirkt banal, doch beide zusammen verändern etwas. So sind auch die Skulpturen nicht nur als ästhetische Singularitäten zu betrachten. Ihr künstlerischer Mehrwert liegt in der entstehenden Spannung zwischen Raum, Zeit und Wahrnehmung des Betrachters.
Dies gilt auch für die ausgestellten Fotos von Bauprozessen, Raumsituationen und Konstruktionsdetails, die weit mehr sind als dokumentarische Ausbeute des Hauptwerks. Die kleinformatigen Schwarzweiß-Aufnahmen erschließen den konzeptionellen Inhalt von Schneiders raumbezogener Arbeit. Hier wird mit künstlerischen Mitteln reflektiert, was sonst nur sprachlich zu vermitteln wäre. Schneider versteht die Fotos als Extrakte der geistigen Arbeit. Das »Treppenhaus«: Einmal aufgenommen in Rheydt 1989-93, einmal in Venedig 2001. Kaum zu unterscheiden. Das »Schlafzimmer«: Acht minimale Veränderungen der Einrichtung, acht Titel: »Augen«, »Mund«, »Nase«, »Arsch«, »Zehen«, »Schwanz«, »Finger«, »Ohren«. Das »total isolierte Gästezimmer«: 60 Fotos zeigen den wochenlangen Aufbau aus dutzenden Schichten von Holz, Blei und Isoliermaterial. Als schwarzer Block gehängt, entwickelt die Serie ein räumliches Eigenleben. Tritt man näher, wird man gefangen, tritt man zurück, verliert man den scheinbar gewonnenen Überblick.
In Siegen leider nicht präsent sind Schneiders ebenfalls raumbezogene Videoarbeiten. Wie die Fotos arbeiten auch sie mit zeitbedingten Varianten der Wahrnehmung. Das auf den ersten Blick rätselhafte Gesamtwerk Schneiders erklärt sich so als komplexe, aber systematische Versuchsanordnung auf der Spur von Ursache und Wirkung. In seinen subversiven Inszenierungen der Wirklichkeit wird man als Betrachter zum Teilnehmer und so zum Medium des künstlerischen Prozesses. Vielleicht gehen einem die Arbeiten deshalb so nahe.
Schneiders Interesse gilt der Fragestellung, nicht den Antworten. Da es prinzipiell mehr Fragen als Antworten gibt, wird für ihn und den Betrachter die Arbeit nicht weniger. Eine praktische Frage: Wie lebt man von einer komplexen Kunstform, in der das einzelne Artefakt nur eine katalysierende Rolle spielt? Schneider verkauft ganze Räume, Skulpturen, Fotos und Videos. Die Preise sind seit Venedig gestiegen, doch es geht Schneider nicht in erster Linie um den Verkauf, sondern um die Möglichkeit zur Weiterarbeit. Eine Galerie bekommt deshalb eine Arbeit von ihm auch heute nur, wenn sie bereit ist, an der Realisation eines neuen, aufwändigen Projekts mitzuarbeiten.
Im globalisierten Markt für zeitgenössische Kunst, der in immer schnellerem Wechsel Künstler entdeckt, verwertet und vergisst, folgt Schneider dem Königsweg der künstlerischen Konsequenz. Seiner Meinung nach gibt es heute keine glaubwürdige Erfolgsstrategie. Die Künstler machten ihr Zeug, den kommerziellen Erfolg bestimme dann der Hype. Deshalb gäbe es heute vielleicht weniger schlechte Künstler, die sich lange halten.
Die nächsten Fragen werden ab 14.2. in der Kunsthalle Hamburg gestellt, wo mit alten und neuen Räumen, Skulpturen, Fotos und Videos retrospektiv die Werkgeschichte und das Thema Hannelore Reuen erforscht wird. Dann ab 17. Mai im MMK Frankfurt in einer performativen Gruppen-Ausstellung, und in Köln 2004 – spätestens hoffentlich – in der Kunststation Sankt Peter. Weitere Projekte führen ihn nach Japan, Korea, USA und Großbritannien. Es bleibt zu vermuten, dass er sich noch lange halten wird.

Museum für Gegenwartskunst Siegen: »Fotografien, Skulpturen, Räume«, bis 16.3. (Anreise von Köln mit RE).
Kunsthalle Hamburg: »Gregor Schneider. Hannelore Reuen«, 14.2. – 11.5. (Zur Ausstellung erscheint ein Katalog).
Michael Staab (Köln) ist Regisseur und Medienkünstler. 2000 bis 2001 war er Projektleiter der Biennale-Ausstellung »Totes Haus ur« in Venedig.