Die grosse beschissene Welt

Ahmadou Kouroumas Buch »Allah muss nicht gerecht sein« beschäftigt sich mit dem Schicksal von Kindersoldaten in Afrika. Dabei greift der Autor zu ungewöhnlichen Mitteln. Wera Reusch über einen Schelmenroman des 21. Jahrhunderts

Man stelle sich ein Buch vor, das die völlig unübersichtliche politische Situation in Liberia, Guinea und Sierra Leone in den 90er Jahren verständlich erklärt. Ein Buch, das die Grausamkeiten westafrikanischer Warlords, ihren skrupellosen Kampf um Gold und Diamanten samt dem Drama der Kindersoldaten anschaulich schildert – das letzte, was man erwarten würde, wäre ein vergnüglicher Roman. Dem Schriftsteller Ahmadou Kourouma, der bei uns zuerst mit seinem Roman »Die Nächte des großen Jägers« bekannt wurde, ist dieses Kunststück gelungen.
Der aus der Elfenbeinküste stammende Autor schrieb sein neues Buch auf Drängen von Kindersoldaten, die ihm ihre Erlebnisse erzählten. Als literarische Form für die traumatischen Erfahrungen der Kinder wählte der 75-Jährige das Genre des Schelmenromans. Eine literarische Form, die wie kaum eine andere dafür geeignet ist, die Skrupellosigkeit und den Wahnwitz der Mächtigen mit Humor und Schärfe zu entlarven.
Im Mittelpunkt von »Allah muss nicht gerecht sein« steht der Ich-Erzähler Birahima, ein 12-jähriger Junge aus Guinea, der nach dem Tod seiner Mutter bei einer Tante in Liberia unterkommen soll. Begleitet wird er auf dieser Reise von Yacouba, einem Mann mit »mehreren Talenten«: »Er war ein Geldscheinvervielfacher, ein Marabut, der in die Zukunft sehen konnte und ein Fetischpriester, der Amulette herstellte«. Auf der Suche nach Birahimas Tante irrt das ungleiche Duo kreuz und quer durch Liberia und Sierra Leone und gerät von einem Kriegsschauplatz zum nächsten. Yacouba ist dank seiner magischen Fähigkeiten bei allen Kriegsherren sehr beliebt, denn sie erhoffen sich von seinen »Grigris« genannten Amuletten Unverwundbarkeit. Birahima hingegen bleibt, will er überleben, nur eins: Er muss »ein Straßenkind ohne Furcht und Tadel« werden, ein Kindersoldat.
Der jugendliche Held schildert seine drastischen Erlebnisse in den Lagern diverser Rebellenführer und an allen nur denkbaren Kriegsfronten in einer Mischung aus kindlicher Naivität und sympathischer Klugscheißerei: »Um mein chaotisches verdammtes Leben in einer einigermaßen angemessenen Sprache zu erzählen, um mich nicht bei den schwierigen Wörtern zu verheddern, benutze ich vier Wörterbücher.« »Larousse« und »Petit Robert«, das »Verzeichnis der lexikalischen Besonderheiten des Französischen in Schwarzafrika« und der »Harrap’s«, ein Wörterbuch für Pidgin-Englisch: Die vier Bücher, die dem 12-Jährigen durch Zufall in die Hände gefallen sind, erweisen sich als eine unerschöpfliche Fundgrube, um seine Erzählung mit lexikalischen Erklärungen anzureichern. Denn schließlich soll »mein Blabla von allen möglichen Leuten gelesen werden: von den toubabs (toubab bedeutet: weiß), also den weißen Kolonisten, von den schwarzen, afrikanischen Ureinwohnern und von den Französischsprechenden aller Art«.
In einem ausgesprochen heiteren und eigenwilligen Jargon berichtet der Kindersoldat von
seinen Abenteuern. Er beschreibt die Lager der Warlords, deren Grenzen mit Totenschädeln auf Stäben abgesteckt sind, samt ihren Gefängnissen, »Tempeln«, Waffenarsenalen und Hinrichtungsstätten. Er schildert die synkretistischen religiösen Praktiken und wirren Ideologien verschiedener Warlords, die sich abwechselnd auf Christentum, Islam oder traditionelle Religionen berufen, um ihre gewalttätigen Exzesse zu rechtfertigen, und gibt sie der Lächerlichkeit preis: »Am Gürtel unter seiner Soutane trug der Colonel Papa le Bon die Schlüssel zum Bunker. Es gab noch andere Dinge, von denen Papa le Bon sich niemals trennte: seine ewige Kalaschnikow und der Grigri zum Schutz gegen Gewehrkugeln. Er schlief, aß, betete und machte Liebe und hatte dabei all diese Dinge am Körper, die Kalasch, die Schlüssel zum Arsenal und den Grigri zum Schutz gegen die Kugeln.«
Die Aufgabe der Kindersoldaten besteht darin, diese Lager zu bewachen, Gold- und Diamantenminen, deren Kontrolle zur Finanzierung der Kriege unerlässlich ist, gegen Übergriffe rivalisierender Warlords zu verteidigen und Orte anzugreifen, die unter der Kontrolle der Gegner stehen. Ausgerüstet sind die Kinder mit Grigris (»Wir waren stark, weil wir an unsere Fetische glaubten«), Kalaschnikows und Drogen (»Haschisch machte uns genauso stark wie richtige Soldaten«). Doch zahlreiche Jungen und Mädchen werden in den Kämpfen getötet.
Für Birahima ist dies Anlass, seine Schilderung mehrfach zu unterbrechen, um eine Trauerrede zu halten: »Laut meinem Wörterbuch ist die Trauerrede eine Rede zu Ehren einer berühmten verstorbenen Persönlichkeit. Der Kindersoldat ist die berühmteste Persönlichkeit am Ende des 20. Jahrhunderts. Wenn ein Kindersoldat stirbt, muss man also eine Trauerrede auf ihn halten.« So erfahren wir, wie aus Sarah, Hauptmann Kik dem Pfiffigen, Ouedraogo dem Schrecklichen oder Siponni der Viper »in dieser großen beschissenen Welt ein Kindersoldat werden konnte«.
Birahima bemüht sich nach Kräften, die politischen Hintergründe der Gemetzel zu verstehen, um so den Opfern einen Sinn abzugewinnen. Begierig saugt er alles auf, was er über die Geschichte der westafrikanischen Länder in Erfahrung bringen kann. Doch je mehr er erfährt über Staatsstreiche und Korruption, über dubiose Allianzen diverser Diktatoren und hilflose Interventionen internationaler Truppen, desto grotesker erscheint ihm die Welt der Erwachsenen. Gemeinsam mit Yacouba kehrt er schließlich zurück. Dem gewieften Marabut ist es in der Zwischenzeit gelungen, Gold und Diamanten anzuhäufen. Birahima hingegen ist allenfalls um eine ernüchternde Erkenntnis reicher: »Allah im Himmel macht was er will, er ist keineswegs verpflichtet, hier auf Erden in allen Dingen gerecht zu sein.«
Kourouma hat das tragikomische Potenzial, das die Form des Schelmenromans bietet, virtuos genutzt. Die Absurditäten einer durch und durch korrupten und gewalttätigen Gesellschaft lassen sich kaum gnadenloser vorführen als aus der Perspektive eines ohnmächtigen Außenseiters, der mit List und Tücke um sein Überleben kämpft. Für seine Satire auf die politische Situation Westafrikas erhielt er zahlreiche Preise, darunter den renommierten »Prix Goncourt« 2002. Doch Kouroumas schonungslose Kritik am Verhalten der politischen Eliten Afrikas hatte für ihn auch persönliche Konsequenzen: Nachdem er 1973 in der Elfenbeinküste ein kritisches Theaterstück veröffentlicht hatte, musste er für 20 Jahre ins Exil.

Ahmadou Kourouma: Allah muss nicht gerecht sein. Aus dem Französischen von Sabine Herting. Albrecht Knaus Verlag, München 2002, 223 S., 19,90 Euro.