Gespür für Schnee

Novelle »Ein Bett aus Schnee«

Im Sommer gibt es Obstkuchen mit Tortenguss, und Biergläser stehen auf »Plasteuntersetzern«. Die Mutter liebt »schangschierende« Kleider, und wenn die Cousinen zu Besuch kommen, hinterlassen ihre Pfennigabsätze Löcher im Linoleum. Roswitha Harings Novelle beschreibt Episoden einer Kindheit aus der Perspektive eines Mädchens. Die Hinweise auf Ort und Zeit der Handlung sind sehr dezent, sie lassen jedoch vermuten, dass die Geschichte in den 60er Jahren in
Leipzig spielt. Denn in der Stadt gibt es Straßenbahnen und ein großes Denkmal, das gebaut wurde, »damit man seine Stadt schon von weitem erkennt«.
Die Winterferien bei Onkel und Tante im Gebirge bieten der Ich-Erzählerin eine Fluchtmöglichkeit aus dem biederen Mietshausleben und der tristen Stadt, diesem »Bausteinkasten aus Lärm«. Im Gebirge ist alles anders, die Landschaft, die Häuser, die Menschen, das Essen. Roswitha Haring gelingen schöne Bilder, wenn sie beschreibt, wie das Mädchen die vielfältigen neuen Eindrücke registriert: »Schnee riecht kalt und frisch. Wenn man ihn berührt, verletzt man ihn irgendwie«; oder: »Schnee ist auch ein Tuch, eine pralle Decke aus Flocken«. Und über das ungewohnte Skifahren heißt es »Mein ganzer Körper flattert wie ein Wimpel am Ersten Mai«.
Die Ferien im Gebirge scheinen das eher spröde und phlegmatische Mädchen besonders empfindsam zu machen. Sie entwickelt ein Gespür für Schnee, vor allem aber vergleicht sie die neue Umgebung und die unternehmungslustigen Verwandten mit ihrem Zuhause und überlegt, warum die Stimmung dort oft so gedrückt ist: »Vielleicht ist die Fröhlichkeit nach einiger Zeit aufgebraucht, und als ich später dazugekommen bin, war nicht mehr so viel davon übrig.« Die Tante gibt dem Mädchen jedoch eine andere Erklärung: Es habe da einen Vorfall gegeben. Ein anderer Onkel habe der Schwester des Mädchens weh getan und »mit ihr gemacht, was nur Verheiratete machen dürfen«. Die Ich-Erzählerin ahnt die Bedeutung dieser Information mehr als dass sie versteht, was genau passiert ist. Ihr Verständnis reicht jedoch so weit, dass sie panische Angst entwickelt, als sie erfährt, dass dieser Onkel zum Skifasching ins Dorf kommen wird.
»Ein Bett aus Schnee« ist der erste Roman Roswitha Harings, die 1960 in Leipzig geboren ist und seit der Wende in Köln lebt. Es ist sympathisch, dass Haring das Thema Kindheit in der DDR und sexuelle Gewalt in der Familie nicht auf billige Art und Weise skandalisiert. »Ein Bett aus Schnee« ist vielmehr ein sehr leises Debüt: der Versuch, sich vorsichtig und sprachlich sorgfältig in ein verunsichertes Mädchen einzufühlen.

Roswitha Haring: Ein Bett aus Schnee. Ammann Verlag, Zürich 2003, 182 S., 17,90 EUR.
Lesung: 17.3., 20 Uhr, Literaturhaus, Mediapark 6, in der Reihe »Erste Etage. Debütantenlesung & Salon«, mit anschließendem Gespräch u. Bewirtung.