Plötzlich ist alles Möglichkeitsraum

Am 10. Oktober eröffnet das Museum Ludwig mit Philipp Kaisers erster Sammlungspräsentation. Ein Besuch auf der Kunstbaustelle zwischen gestern, heute und morgen

 

Das Museum Ludwig steht am Ab-grund. Nicht wegen des neuen Direktors, Philipp Kaiser hat bislang alles richtig gemacht. Es steht we--nige Meter entfernt von der Ab--bruch--kante der dicken Beton-decke, die derzeit über der Tunnelröhre zum Bahnhof hin weg-ge-schla-gen wird, laut, lärmig und staubig. Am Bauzaun hängen -Plakate mit schicken Simulationen der neu gestalte-ten Domumgebung, so soll das mal und wird das garantiert nie aussehen.

 

Irgendwann werden die Museumsbesucher also nicht mehr durch rot-weiße Absperrungen irren. Aber dieser Tage kommt sowieso niemand. Das Ludwig ist bis zur Wiedereröffnung am 10. Oktober geschlossen. Die Arbeiten draußen liefern die brutalistische Begleitmusik zu einem anderen Umbau, der ungleich leiser vonstatten geht, aber näher be-trachtet ähnliche Ausmaße hat. Und das interessiert mich.

 

Im verwaisten Foyer wartet Anna Brohm. Die wissenschaft-liche Assistentin des Direktors, die Philipp Kaiser bei der Vorbereitung der Neupräsentation zur Seite steht, erläutert beim Rundgang leere Wände, neue Raumzuweisungen, die großen Linien. »Not Yet Titled« lautet der Titel der neuen Sammlungsausstellung, nicht der Ratlosigkeit geschuldet, sondern ein Statement. Das Museum, schreibt Kaiser im Ankündigungstext, fungiert als archetypischer Ort, an dem Kunstgeschichte aus der Perspektive der Gegenwart stets von Neuem revidiert werden muss. Die Neupräsentation ist zugleich Bestandsaufnahme, Selbstreflexion und programmatischer Ausblick. Noch existiert sie nur auf Plänen. Die praktischen Arbeiten beschäftigen seit Wochen rund 25 Schreiner, Restauratoren, Anstreicher, Transporteure, aber eigentlich passiert der Umbau im Kopf: Wir begehen auch eine geistige Baustelle. 

 

Über der Treppe zum Untergeschoss grüßt ein alter Bekannter, die grüne Wandmalerei des Amerikaners Carl Ostendarp. Im Oktober wird sie weiß überstrichen sein. Schade, aber konsequent. »Die Comic-Geste passte zur Pop Art«, erklärt Brohm, »aber die holen wir vom Untergeschoss nach oben ans Tageslicht und erzählen sie neu.« Unten wird demnächst die monumentale Landschafts-Projektion »Actual Size (Elsinore)« von Michael Heizer installiert, enstanden 1970 und nun erstmals in Köln zu sehen, dazu große Arbeiten von Carl André, Richard Serra, Dan Graham. Jetzt wirken die Räume verlassen, sehr still, und die Dinge erzählen vom Alltag hinter der Aus-stellung. Liegen gelassenes Werkzeug, zwei Eimer weiße Brillux-Farbe, in einem leeren Kabinett eine Vitrine mit Kusamas »Compul-sion Furniture«, auf dem Deckel der Hinweis »Achtung, Haube kaputt«. Eine große Transportkiste mit dem Aufkleber »Rauschenberg, Revolvers II, ML 01112«, lapidar und präzise, was wäre ein Museum mit hunderten Werken, tausenden Papierarbeiten im Depot ohne Inventarnummern! Ganz hinten aus der Video-Lounge schallt »Radio Köln«, Unterhaltung für die beiden Anstreicher auf Leitern, die seit Stunden die Decke sorgfältig von weiß auf schwarz umstreichen. Karl Valentins Kalauer »Kunst ist schön, macht aber viel Arbeit« ist dieser Tage im Museum Ludwig ein nüchterner Lagebericht.

 

Das leere Haus fasziniert. Der Blick wird geschärft, für Details, für die Architektur der Architekten Busmann und Haberer, diesen eigenwilligen Bau, der gefühlt zur Hälfte aus Treppenhaus besteht. Die Leere aktiviert die Vorstellungskraft, im Kopf Erinnerungen an Bilder, die eben noch hier hingen, während Anna Brohm die neuen aufruft. Plötzlich ist alles Möglichkeitsraum, Reflexion darüber, was ein Museum eigentlich ist. Ein Haus, das zeitgenössische Kunst sammelt, müsse auch neue zeitgenössische Präsentationsformen finden, weil die Kunst sich ständig verändere, erzählt die Kuratorin. Heute arbeiten viele Künstler ortsbezogen, schaffen komplexe Installation mit unterschiedlichsten Medien oder flüchtige Interventionen und Performances: »Da geht es nicht mehr darum einfach Bilder an die Wand zu hängen. Das sind ganz andere Herausforderungen als noch vor 15 Jahren.« Diese bietet sowieso die Konzeptkunst, und es ist klug getimt, dass die Neu-präsentation eine Einzelausstellung der amerikanischen Künstlerin Louise Lawler begleitet.

 

Philipp Kaisers Museum Ludwig wird ein anderes sein, aber es sind Korrekturen, keine Umstürze. Europäische und amerikanische Moderne werden stärker verzahnt, ebenso Strömungen und Epochen. Erstmals gezeigt werden jüngste Ankäufe von Monika Baer, Nairy Bagramian, Hans Haacke, Mark Boulos, Elad Lassry, Allan Sekula und Kai Althoff. Wo wir jetzt stehen, auf der Galerie im Obergeschoss, blickt man zwar noch hinunter in den »DC-Saal« — aber die schmale Treppe, die wie eine Gangway hinunterführte, ist verschwunden. Vielleicht wird sich hier erweisen, wie es um die Fähigkeit des Besuchers zum Umdenken steht: Man stürzt sich aus alter Gewohnheit über die Mauer, oder man betritt den Saal von unten und steht mitten in einem roten Text-Bild-Raum der Konzeptkünstlerin Barbara Kruger, umgeben von Sprache.