Foto: Manfred Wegener

Ausbruch aus dem Gefängnis der Harmonie

Norbert Rodenkirchen über Grenz­über­schrei­tungen, Rattenfänger und die hohe Kunst der Rekonstruktion

Was die mittelalterliche Musik angeht, gibt es derzeit wohl keinen profilierteren Flötisten: Norbert Roden­kirchen. Aufgewachsen ist der 51-Jährige in Brauweiler, später studierte er an der Kölner Musikhochschule. Anschließend arbeitete er an der Kölner Jazz Haus Schule und als Musiker fürs Theater, zunächst in Bonn, dann am Staatstheater Darmstadt. Im Museum Schnütgen kuratierte er fast zehn Jahre das Konzertprogramm. Die Liebe zur Musik und Lyrik des Mittelalters entdeckte er erst in den 90er Jahren. Seit 1996 ist er mit Mitglied von Sequentia, einem der bedeutendsten Ensembles für mittelalterliche Musik mit Sitz in Paris. Mit Dialogos, ein ebenfalls hoch angesehenes Ensemble, widmet er sich der Alten Musik aus Kroatien. Als Solokünstler oder zusammen mit dem Kölner Violinisten Albrecht Maurer schlägt er von der Alten Musik die Brücke zur Neuen, verschmilzt Improvisationen und Geräuschcollagen. Und dann komponiert er noch für Film und Fernsehen.
Mit Rodenkirchen kann man nicht sich nicht nur trefflich über mittelalterliche Musik und Lyrik unterhalten, sondern ebenso über Progressive Rock, Max Ernst oder das Rauchverbot. Eine Auswahl aus dem mehr als dreistündigen Gespräch in Rodenkirchens Wohnung, kurz vor seinem Abflug zum »Early Music Festival« in Vancouver.

 

Herr Rodenkirchen, es gibt fürchterliche Klischees zur Musik des Mittelalters. Auf Partys müssen Sie sicher auch mal klarmachen, dass Sie nicht zu denen gehören, die mit der Flöte auf Mittelalter-Flohmärkten posieren und den Besuchern ein neckisches »Tandaradei« hinterherrufen?

 

Ja, das kommt vor, hin und wieder.

 

Und dann all der Mittelalter-Rock, all die kruden ­Fantasy-Adaptionen, all die verkitschte Rezeption von Minne-Lyrik?…

 

…?die Mittelalter-Spaßfraktion, so nennen wir das. Die meisten faszinieren vor allem die Minne-­Lieder. Ich war früher sehr unduldsam in dieser Hinsicht, heute möchte ich lieber eine Bresche schlagen für die intelligenten Menschen dieser Szene, die gibt es nämlich auch dort. Die möchte ich gern für eine seriöse Haltung gewinnen.

 

Was fasziniert Sie selbst an dieser Musik, die kaum noch einen Bezug zu unserer Welt zu haben scheint?

 

Es ist vor allem der Klang. Aber auch, dass diese Musik monophon ist. Es gibt da noch nicht jene harmonische Reglementier­ung, die sich erst in der Renaissance herausbildet. Was auf uns heute so archaisch wirkt, empfinde ich als wohltuend. Heute sind wir an harmonische Standards gewohnt, selbst ungeübte Hörer ahnen schon den folgenden Akkord. Irgendwann endet die Dominante halt immer auf der Tonika. Das ist in der Musik des Mittelalters ganz anders. Und das hält musikalisch viele Überraschungen bereit, es herrscht eine große Offenheit. Die späteren ­Harmonielehren empfinde ich dagegen als Gefängnis.
Die mittelalterliche Musik konzentriert sich auf anderes, etwa oft die grandiosen Ausgestaltungen der Melodie.

 

Demnach langweilt Sie Klassik?

 

Nein, das nicht. Aber ich mag etwa von Mozart am meisten seine Prager Symphonie. Die hat er für seine Prager Freunde geschrieben, da musste er nichts beweisen und konnte sich etwas trauen. Da hört man, wie er aus dem Gefängnis der harmonischen Erwartungshaltung ausbricht.

 

Aber es gibt doch auch und gerade innerhalb dieser strengen Reglementierung ganz Unerhörtes. Etwa im Spätbarock Bachs wahnwitzige Übererfüllung der Kon­trapunkt-Vorschriften in der »Kunst der Fuge«, eine unglaubliche Vielfalt, trotz rigieder Regelhaftigkeit.

 

Das ist selbstverständlich meisterhaft und faszinierend. Aber Bach ist ein Spezialfall, er ist in allen Bereichen an die Grenze und vielleicht darüber hinausgegangen. Ich kann vor allem mit der Epoche von Beethoven bis Mahler we­nig anfangen. Da werden die harmonischen Ausdeutungen immer wichtiger, bis es schließlich nach Wagner und Liszt atonal wird. Ich habe das studiert, aber es interessiert mich nicht mehr. Für mich wird es erst wieder interessant, wenn John Cage die Musik nur noch als Klang begreift. Oder auch Olivier Messiaen, der einen C-Dur-Dreiklang einfach für sich stehen lassen kann. Der Akkord muss nirgendwo hinführen, damit er eine Berechtigung hat.

 

Für Messiaen war der Katholizismus prägend als Inspi­ration. Die Musik des Mittelalters ist ohne christliche Grundierung nicht denkbar. Wie wichtig ist für sie der Glaube in der Musik?

 

Wer Musik hört, sucht immer etwas. Bei mir ist es weniger Glaube, aber Musik empfinde ich grundsätzlich als Weise einer spirituellen Hinwendung. Der Sinn liegt im Klang selbst. Jede Musik kann eine spirituelle Ausstrahlung haben, ganz gleich, ob über den Noten ein »Agnus Dei« steht oder nicht. Man findet das in westafrikanischen Gesängen, in indischen Ragas, aber auch in einer Sonate.

 

Inwieweit eignet sich die Musik des Mittelalters für diese Suche, diese Hinwendung?

 

Die Gestaltung arbeitet mit anderen zeitlichen Dimensionen. So kann ein mittelalterlicher Gesang mitunter eine sehr hohe zeitliche Ausdehnung haben. Für unsere heutigen Ohren und unsere Aufmerksamkeitsspanne ist das angeblich nicht zumutbar. Aber dadurch wird gerade eine andere Zeiterfahrung ermöglicht, das entfaltet eine hypnotische, kontemplative Wirkung. Nähme man nur die schöne Melodie, den catchy tune, und beschränkte sich auf zwei Strophen, könnte diese Trancewirkung gar nicht entstehen. Da gibt es Parallelen zu traditioneller afrikanischer Musik?…


Sie haben soeben ihr Rattenfänger-Projekt veröffentlicht. Für jemanden, der sich seriös mit der Musik des Mittelalters auseinandersetzt und zu den bedeutenden Flötisten gehört, erscheint das recht mutig?…

 

Das ist ein gewisses Risiko, das stimmt. Aber so kann ich dahinter stehen: Es ist eine künstlerische Spurensuche nach der Musik aus jener Zeit des historischen Auszugs aus Hameln im Jahr 1284, immer unter Berücksichtigung der aktuellsten historischen Forschung, wonach es dabei um die Ostbesiedelung des baltischen Raums ging. Damals sind 130 Jugendliche mit einem Flöte spielenden Werber verschwunden, der Rest ist Märchen und später entstanden. Der Clou aber ist: Der Auftrag, siedlungswillige Deutsche anzuwerben, muss von einem slawischen Herrscher gekommen sein. Das heißt die Musik eines solchen Werbers, des »Rattenfängers« eben, muss west-slawisch geprägt gewesen sein. Ich habe in Polen Transkriptionen dieser alten Tanzmelodien recherchiert und kenne mich zudem mit den Handschriften des deutschen Minnesangs des 13. Jahrhunderts gut aus — also der Zeit dieses Auszugs. Und in diesem zu besiedelnden Gebiet an der bal­tischen Küste lebte Wizlaw von Rügen, einer der wichtigsten Minnesänger, dessen Werk sehr gut dokumentiert ist. So konnte ich ausschließen, dass man mich missversteht, also denkt, das sei ein Kinderprogramm oder habe etwas mit dieser legendären Marktplatz-Szene in Hameln zu tun.

 

Sie sind einer historisch informierten Aufführungspraxis verpflichtet — aber wie gut lässt sich die Musik des Mittel­alters überhaupt rekonstruieren?

 

Tatsächlich gibt es oft nur Fragmente von Notationen, der Rhythmus ist fast nie notiert. Die Aufgabe ist es, so weit wie möglich zu rekonstruieren und ansonsten gewissenhaft neu zu schaf­fen. Dafür muss man umfassend recherchieren, in litera­rischen und bildnerischen Werken, aber auch in theore­tischen Traktaten aus Klöstern, etwa zu Gesangsübungen und vokalen Improvisationen. Naturgemäß bleibt die Aufführungspraxis immer Hypothese.

 

Sie spielen auch in anderen Projekten, wo es nicht um die Rekonstruktion geht.

 

Ja, zum Beispiel in meinem Kölner Projekt mit Albrecht Maurer. Da haben wir alle Freihei­ten, können improvisieren, setzen den Rahmen selbst. Allerdings interessiert mich auch hier eine klang­liche Nähe zu den Erfahrungen, die ich in der Alten Musik gemacht habe. So setze ich mittelalterliche Instrumente experimentell ein, erforsche sie in Kompositionen oder auch in der Improvisation. Da gibt es dann auch elek­tronische Klangcollagen. Ich kontrastiere etwa die Musik von Guillaume de Machaut aus dem 14. Jahrhundert mit elektronischen Klangcollagen mittellalterlicher Ins­trumente.

 

Bei diesen Konzerten werden ja auch mittelalterliche Texte rezitiert?…

 

Ich bin sehr an Lyrik interessiert, an verdichteter Sprache. Oft steht das Literarische sogar am Anfang meiner musikalischen Arbeit. Das sind häufig eigene Übersetzungsarbeiten, mittlerweile hat sich da schon einiges angesammelt: Hildegard von Bingen, Shakespeare-Sonette, Meister Frauenlob, Meister Eckhart, auch Texte von Guillaume de Machaut … Das Übersetzen eröffnet mir immer einen ersten Zugang zu den unterschiedlichen Projekten.

 

Sie sind einer der renommiertesten Flötisten Alter Musik. Doch meist arbeiten Sie in Vokalensembles.

 

Im Mittel­alter hat die Flöte und jedes andere Instrument ganz klar eine dienende Funktion im Verhältnis zum Gesang.

 

Selbst die Flöte? Ein Instrument, von dem es heißt, es ahme die menschliche Stimme nach?

 

Ja, die Flöte ist eindeutig Begleitinstrument. Ich habe damit kein Problem. Es gibt übrigens kaum mehr als ein Dutzend reine Instrumentalstücke, die aus dem Mittelalter überliefert sind.

 

Das sind dann musikalische Obskuritäten?

 

Nein, die Ins­trumentalmusik hatte durchaus ihren Platz, aber zum einen wurde sie meist improvisiert und zum anderen erachtete man sie nicht für so wertvoll, dass man sie auf teurem Pergament verewigt hätte. Entsprechend wurde das aus dem Repertoire für die Nachwelt konserviert, was als besonders wertvoll galt. Meist geistliche Gesänge, die wurden in den Klöstern abgeschrieben. So eine Handschrift anfertigen zu lassen, war sehr teuer. Die Werke der Troubadours und Minnesänger sind zum Teil nur deshalb erhalten, weil sie aristokratische Auftraggeber hatten. Der Minnesänger Oswald von Wolkenstein hat umgerechnet 200.000 Euro für die Konservierung seiner Handschriften aufgewandt.
Wir haben darüber gesprochen, wie man Musik des Mittelalters idealerweise rekonstruiert, aufführt und aufnimmt. Frage an den Musiker: Auf welche Weise hört man eigentlich am besten Musik, wenn man nicht gerade im Konzertsaal sitzen kann? Ein hoher Anteil des Musik­hörens besteht bei mir darin, mich über die Arbeit von Kolleginnen und Kollegen zu informieren. Ansonsten höre ich ehrlich gesagt viel Musik über mein kleines,
aber gutes Küchenradio?…

 

Mir fällt auf, dass Musiker und Musikliebhaber zu Hause oft nicht sonderlich viel Wert auf eine hochwertige Musik­anlage legen?…

 

Ich brauche zum Musikhören eigentlich nicht die optimale Qualität. Als Musiker kennt man den originalen Klang, hat ihn im Kopf, wenn man hört. Diese Vorstellungsebene kann ausreichend sein. Unser Gehör passt sich gut an, an Küchenradios und CD-Player im Auto. Ich brauche auch die Musik nicht in der originalen Lautstärke, ich höre eher leise.

 

Sie sind Flötist und Raucher — passt das?

 

Na ja, es ist nicht ideal. Aber viele Flötisten sind Raucher, auch ­Aurèle Nico­let, den ich sehr schätze, ist Raucher?… Ich ­bin na­tür­lich nicht in der Lage, das so zu rechtfertigen. (lacht) Aber ich bin der Auffassung, dass auch bei einer ganz­heitlichen Le­bens­auffassung, ein Mensch etwas Dummes machen darf.

 

Nervt Sie das Rauchverbot?

 

Das Rauchen hat ja auch einen kommunikativen Aspekt, der jetzt wegfällt. Mich stört ein wenig die Gängelei dieser Gesetzgebung. Gucke ich auf andere Bereiche des alltäglichen Lebens, erscheint es mir manchmal auch heuchlerisch. Eine ähnliche Stren­ge stelle ich zum Beispiel nicht fest, wenn es um Verkehrspolitik geht, wo es auch viele Gefahren gibt, oder wenn ich dann an den fehlenden Lärmschutz und die Umweltbelastungen rund um den Köln-Bonner Flughafen denke.

 

Noch mal zur Musik: Wie ist Ihr Verhältnis zur Popmusik? Alles langweilig, weil gefangen im »Gefängnis der harmonischen Erwartungshaltung«?

 

Nein, fast in jeder Musik gibt es etwas zu entdecken, oft gerade über die emotionalen Qualitäten eines Stimmausdrucks. Die Stimme wird ja in Pop und Rock oft viel unmittelbarer und direkter eingesetzt als in der sogenannten Kunstmusik. Ich höre Pop eigentlich nur im Radio, aber dann sehr aufmerksam. Ich möchte manchmal hinter das Geheimnis kommen, was die Magie eines Songs ausmacht: nur die Stimme, oder der Song an sich, tontechnische Details, oder alles zusammen? Ich bin aber ansonsten ein Jazz­hörer, geprägt von Miles Davis, Eric Dolphy, Albert Mangelsdorff und Gunter Hampel — in dessen Coming Age Orchestra ich in den 80ern drei Jahre lang mitgespielt habe. Und ich mochte natürlich die späten Beatles, wie sie ihr Songwriting, welches fast immer die harmonischen und sonstigen Erwartungshaltungen gesprengt hat, mit den Möglichkeiten des Tonstudios erweitert haben. Mich hat auch begeistert, wie Björk vor etwa 15 Jahren etwas ähnlich Faszinierendes zustande gebracht hat. Prägend waren aber unbedingt auch die frühen Pink Floyd?…

 

Deren Debüt heißt ausgerechnet »The Piper at the Gates of Dawn«!

 

Ha! Ja, der Titel! Hm, vielleicht könnte ich das Album mal für Flöte interpretieren, na ja, ich weiß nicht, ob das was hergibt. Aber ich könnte mich ­vielleicht dafür begeistern.