Arbeiten, um nicht zu fühlen

Im zweiten Teil unserer Serie »Zukunft der Arbeit – Jenseits von Hartz und ver.di« geht Holger Heide der Arbeitsgesellschaft auf den Grund und entdeckt Zwang, Gewalt, Traumatisierung und Entfremdung. Der aktuelle Ausdruck davon ist die Arbeitssucht.

In seinem Artikel »Arbeiten, um weiterarbeiten zu können«, mit dem die Serie über die Zukunft der Arbeit in der Februarausgabe der StadtRevue eingeleitet wurde, hat Holger Schatz treffend auf eine ganze Reihe von Paradoxien im Zusammenhang mit der Debatte über Arbeit und Arbeitslosigkeit hingewiesen: Arbeiten, um weiterarbeiten zu können; Arbeiten aus Angst vor Arbeitslosigkeit; Arbeitslosigkeit als simulierte Arbeit; historischer Übergang vom Fremd- zum Selbstzwang. Er hat allerdings nicht versucht, sie aufzulösen.

Disziplinierung durch Arbeit

Es ist ganz offensichtlich, dass Arbeit ein Disziplinierungsinstrument ist. Es wirkt auf doppelte Weise: durch die Anbindung des Einkommens an die Arbeit und durch die moralische Überhöhung der Arbeit und deren Verinnerlichung. Der Zusammenhang zwischen beiden Aspekten ist klar: Der Prozess der Sozialisation bringt bei den Individuen nicht nur die Befähigung zur Arbeit, sondern auch die innere Bereitschaft dazu hervor. Die Bindung des »gesellschaftlichen Reichtums« an die Arbeit liefert notfalls den materiellen äußeren Zwang – und dessen ideologische Rechtfertigung gleich mit. Dies ist allerdings eine rein funktionalistische Beschreibung. Sie erklärt noch gar nichts: weder wie die Gesellschaft zu einer Arbeitsgesellschaft geworden ist, noch wie die einzelnen Individuen schließlich so arbeitssüchtig handeln, wie sie es tatsächlich tun.
Ich will im Folgenden einige Hinweise geben, die zur Auflösung einiger dieser Rätsel beitragen könnten. Und dazu, in welche Richtung wir versuchen müssten uns zu bewegen, wenn wir auf der Suche nach Alternativen zur Arbeitsgesellschaft nicht vergeblich auf eine »unrealistischer denn je erscheinende Revolution« (Schatz) warten wollen.

Meine Hauptthesen vorweg:
1. Die Arbeitsgesellschaft ist ein posttraumatisches Syndrom. Die Angst, die sie letztlich zusammenhält, ist Folge von Jahrhunderten der gewalttätigen Durchsetzung des verallgemeinerten Zwangs zur Arbeit im Zuge der Unterwerfung der Menschen unter das Kapital.
2. Für die modernen Menschen als Mitglieder der Arbeitsgesellschaft äußert sich diese Angst als Flucht aus der unerträglichen Realität in Sucht. Das zeigt sich in den bekannten »passiven« Suchtformen (Drogen aller Art) und heute zunehmend in Arbeitssucht.
3. Es gibt keine Zukunft der Arbeit. Wenn es aber einen Weg aus der Arbeitsgesellschaft gibt, dann führt er notwendig über das Durchbrechen der Angst und derjenigen »Mechanismen«, die zugleich Folgen und Ursachen dieser Angst sind.

Subtile Angst

Dass wir geprägt sind von Angst, merken die meisten von uns vielleicht nie. Sie äußert sich mal mehr, mal weniger in konkreten, als »begründet« oder wenigstens »begründbar« erscheinenden Ängsten: Angst vor Verlust des Arbeitsplatzes! Angst vor Versagen! Immer: Angst vor ...! Wir lernen die Angst von Geburt an, und was genau so wichtig ist: Wir lernen, sie zu verdrängen. Resultate der Angst sind: Gehorsam, Konkurrenz oder Gewalt.
Die Angst, von der ich hier spreche, ist nicht die Wachheit, die Aufmerksamkeit für Gefahr, die wir von der Natur mitbekommen haben, sondern eine »destruktive« Angst, die uns am Leben hindert. Diese kollektive, strukturelle Angst ist ein Produkt der Moderne.

Vor dem Kapitalismus gab es keine Arbeitsgesellschaft

Die vorkapitalistische Welt war alles andere als eine heile Welt. Für große Teile der Menschheit war sie durch materielle Armut geprägt. Aber sie war keine Arbeitsgesellschaft. Was die Arbeitszeit angeht, gab es im Europa des 13. und 14. Jahrhunderts – jedenfalls für die Handwerker – neben den selbstverständlich arbeitsfreien Sonntagen mindestens weitere einhundert Feiertage. Aus dem vorrevolutionären Frankreich wird neben den Sonntagen von 32 Erholungstagen und 38 kirchlichen Feiertagen berichtet. Die tägliche Zeit und Intensität der Arbeit beschränkte sich für die Männer zudem über Jahrhunderte hinweg auf die Tagesstunden, unterbrochen von mehreren ausführlichen Mahlzeiten und Ruhepausen. Auf dem Lande konnte die Arbeitszeit während der Ernte zwar bis zu sechzehn Stunden betragen, allerdings immer mit sehr vielen und recht ausgiebigen Pausen. In den weniger arbeitsintensiven Teilen des Jahres wurde ohnehin recht unregelmäßig gearbeitet. Der Zwang zur Arbeit resultierte aus den unmittelbar einsichtigen natürlichen Gegebenheiten einerseits und den eigenen Bedürfnissen andererseits.

Stetiger Wechsel von Arbeit und Muße

Trotz der schon seit dem 14. Jahrhundert beginnenden Versuche verschiedener englischer Regierungen, den Arbeitstag für Lohnarbeiter durch Vorschriften zu verlängern und zu verstetigen, erschienen in England selbst noch in der Zeit unmittelbar vor der industriellen Revolution viele Arbeiter nur an vier Tagen in der Woche überhaupt zur Arbeit. Bei aller zum Teil bitteren Armut gilt noch für den Beginn der industriellen Revolution, dass die Tage »harter Arbeit und schmaler Kost« unterbrochen wurden von vielen Festtagen, an denen reichlicher gegessen und getrunken wurde. Es bildete sich ein steter Wechsel zwischen höchster Arbeitsintensität und Muße heraus. Diese Muße ist den Menschen im weiteren Verlauf der kapitalistischen Arbeitsgesellschaft systematisch ausgetrieben worden.

Gewalt zur Durchsetzung von Disziplin

Der Siegeszug des industriellen Kapitalismus setzte eine den Menschen unbekannte, abstrakte Disziplin voraus. Die Geschichte ihrer Durchsetzung ist eine schier unendliche Geschichte der Gewalt. Der ersten Periode des offenen Terrors, der »Blutgesetzgebung«, in der massenhaft Menschen geschlagen, ausgepeitscht, verstümmelt und auf grausame Weise umgebracht wurden – zum einen, um die Unbrauchbaren schlicht zu beseitigen, zum anderen, um bei den Übrigen die Bereitschaft zu disziplinierter Arbeit zu erzwingen – folgten Perioden der pädagogischen Strafen und der Arbeits- und Industrieschulen, der Zuchthäuser und nicht zuletzt der Psychiatrie.
Die Spätfolge von Jahrhunderten der Gewalt war schließlich nicht nur eine disziplinierte Arbeiterklasse, die zwar kämpfen gelernt hatte – aber schon auf der Grundlage der Arbeitsgesellschaft ! – sondern eine insgesamt disziplinierte Gesellschaft, die sich auf Arbeit gründet: Aus Fremdzwang war Selbstzwang geworden. Wie lässt sich diese Identifikation erklären?

Selbstaufgabe um zu überleben

Schwere traumatische Aggression kann von den Opfern oft nur dadurch bewältigt werden, dass sie sich mit der überwältigenden Macht des Täters identifizieren. Das Konzept wurde ursprünglich zur Erklärung der häufig gemachten Beobachtung entwickelt, dass Kinder als Opfer von sexuellem Missbrauch, physischer Misshandlung und psychischem Terror durch Eltern oder andere Erwachsene sich schließlich mit dem Aggressor identifizieren. Die Macht des Angreifers ist in einem solchen Fall so überwältigend, dass an Auflehnung oder auch nur Ausweichen nicht einmal zu denken ist. In der unmittelbar lebensbedrohlichen Situation erscheint die Aufgabe des eigenen Ichs und die Identifikation mit dem Aggressor – natürlich unbewusst – als einzige Überlebensstrategie.

Innere Erstarrung

Solche Folgen können auch bei Traumatisierungen von Erwachsenen eintreten. Sie haben aber schon eine entwickelte Persönlichkeit. Ihr eigenes Wertesystem sichert normalerweise die individuelle Identität. Wenn die erlittene und erlebte Gewalt allerdings so überwältigend ist, dass Gegenwehr wie Weglaufen gänzlich ausgeschlossen erscheinen, dann kann auch der erwachsene Mensch oft nur noch mit einer inneren Erstarrung reagieren. Insbesondere wenn die erlebte Gewalt nicht einmalig bleibt, sondern sich systematisch wiederholt, wenn also alle verzweifelten Versuche der Selbstwiederfindung nur in immer neuen Niederlagen enden, dann wird diese Erstarrung zu einem Verhaltensmuster. Wenn die traumatische Erfahrung aus massenhaft wirkenden Ereignissen stammt und als anonyme Macht erlebt wird, kann es zu einer Identifikation mit dem System und dessen Paradigma kommen.

Trennung von dem Selbst führt zu Aggression und Angst

Was nach so tiefen Niederlagen zurückbleibt, ist die Angst vor der Schwäche und vor dem eigenen Fühlen, Denken und Handeln, die als Grund für die Niederlage erlebt werden. Die Identifikation mit dem siegreichen System erfordert die Verdrängung der eigenen früheren Existenz und erklärt die teils offene, teils verdeckte Verachtung und Aggressivität gegen die Schwächeren in der Gesellschaft und diejenigen, die für schwächer gehalten werden: Kinder, Alte, Behinderte, Frauen, Fremde usw. Diese Trennung vom Selbst entspricht gesellschaftlich der Trennung (oder Entfremdung) von der eigenen Geschichte und bildet die Grundlage der kapitalistischen Arbeitsgesellschaft.
Das impliziert, dass die tiefe traumatische Erfahrung jedenfalls nicht mit den von der Gewalt direkt betroffenen Generationen gestorben ist: Eltern, die selbst durch tiefe Traumata geprägt sind, können ihren Kindern nicht die vorbehaltlose Liebe und Geborgenheit geben, die sie zum Leben brauchen. Die Eltern werden in diesen Fällen »zum Trauma für ihre Kinder«, wie es der Psychoanalytiker Schmidbauer einmal formuliert hat. Schwerste Traumata bei Kindern sind keineswegs nur als Folge sichtbar brutaler körperlicher Gewalt vorstellbar. Tatsächlich kann bloße Lieblosigkeit tödlich wirken.

Unverzichtbare Sucht

Für Kinder, die unter solchen Verhältnissen aufwachsen, heißt das, dass schließlich jeder Prozess von Lebendigkeit, jedes unkontrollierte, unkontrollierbare Gefühl angstvoll und als bedrohlich erlebt wird. Als Folge des Versuchs der Kontrolle wird die Angst möglicherweise lebenslang verdrängt. So wird die Angst für uns zentral, obgleich wir sie als Folge der Verdrängung eben nicht bewusst erleben. Es entsteht letztlich eine »Angst vor der Angst«, ein Teufelskreis, der immer größere Lebensenergien in der Verdrängung und Kontrolle bindet. Das mündet nicht selten in Sucht. Wenn von Sucht die Rede ist, verstehen die meisten darunter »Drogen«. Dabei sind bekanntermaßen nicht die Drogen das Problem, sondern der Mensch, der sich ihrer zu einem bestimmten Zweck bedient. Was ist also dann Sucht?
Sucht ist eine Reaktion auf als unerträglich empfundene Gefühle, mit der man sein Fühlen, Denken und handeln manipuliert – entweder durch die Einnahme von Stoffen oder über ein Verhalten, das körpereigene Drogen produziert. Sucht scheint in dieser Gesellschaft unverzichtbar, weil sie uns hilft, die Angst in dieser Welt der Isolation und der Konkurrenz zumindest zu dämpfen. Sie erzeugt die Illusion der Geborgenheit in einer Welt der Unwirtlichkeit. Allerdings um den Preis, dass wir die damit verbundene Selbstzerstörung immer weiter treiben müssen, weil die bereits angerichtete Zerstörung zusätzlich Angst macht, die wir zusätzlich verdrängen müssen.

Rollenspiel

Dass Menschen individuell verschiedene Suchtformen entwickeln, hängt damit zusammen, dass wir schon als kleine Kinder lernen, »Rollen« zu spielen – als Überlebensstrategien. Wenn wir lernen Rollen zu spielen, dann heißt das, dass wir aufhören, uns an unseren eigenen Bedürfnissen zu orientieren; dass wir lernen, uns statt dessen an den Erwartungen derer, auf die wir angewiesen sind, zu orientieren. Durch ständige Wiederholung und die zugrundeliegende Angst, »aus der Rolle zu fallen«, gerinnen die Rollen zu Mutern. Da wir unsere eigenen Bedürfnisse nicht mehr erkennen, geht es immer darum Leistungen zu erbringen, das heißt es geht letztlich um Arbeit. Zentral werden Aspekte wie »Beziehungsarbeit« oder gar »Liebesarbeit«.

Arbeit als Sucht

Hierin drückt sich die überwiegend unbewusste Erwartung der Gesellschaft nach Unterwerfung aus. Das Ziel ist Arbeit als Unterwerfung und als Unterwürfigkeit. Die Erwartung wird repräsentiert durch die Eltern und weiteren Bezugspersonen, dann die Kindergärten, Schulen und mehr und mehr sämtliche Institutionen der Gesellschaft. Das Leistungsmuster spielt im Suchtprozess immer eine zentrale Rolle, und es liegt insbesondere der Arbeitssucht zu Grunde. Arbeitssucht ist der zugespitzte Ausdruck der modernen Gesellschaft.
Die im fordistischen System von Kommando und Kontrolle herrschende Unfreiheit am Arbeitsplatz wurde dadurch kompensiert, dass der latente, bisweilen auch offene Widerstand der ArbeiterInnen und Angestellten sich in steigenden Löhnen, verbesserten sozialen Sicherungen und der Erwartung weiterer Verbesserungen niederschlug. Die arbeitenden Menschen suchten ihre »Freiheit« im Konsum und damit unter den Bedingungen der Warenförmigkeit zu verwirklichen. Sie banden sich an das kapitalistische System und dessen fundamentale Maßlosigkeit. Auf den wachsenden Widerstand, der nicht mehr durch Kompensation aufgefangen werden konnte, reagierte das Kapital mit einer groß angelegten Restrukturierung: Flexibilisierung in allen Dimensionen und auf allen Ebenen.

Identifikation mit der Arbeitsgesellschaft

Dazu gehört auch die Belastung höher qualifizierter Angestellter mit der Verantwortung für ihren eigenen Arbeitsplatz, der ihnen als »neue Autonomie in der Arbeit« schmackhaft gemacht wird. Dahinter steht das Kalkül, dass die Angestellten unkontrolliert nicht weniger, sondern mehr arbeiten. Und das Kalkül geht auf.
Es stellt sich die Frage, wieso wir das mit uns machen lassen. Warum sind wir so schwach? Solange wir die Antwort nur in Dimensionen von »Politik«, »Organisation« oder »Kampfbereitschaft« suchen, sind wir in der selben Lage wie die Gewerkschaften, denen (angeblich oder tatsächlich) die Mitglieder weglaufen. Es ist die Identifikation mit der Arbeitsgesellschaft, es ist das Denken und Fühlen in den Kategorien der Arbeitsgesellschaft, die uns Opfer unabwendbarer Prozesse oder gar »freiwillig Arbeitssüchtige« sein lässt.

Die Frage nach Alternativen

Gibt es nun Wege aus der Arbeitsgesellschaft? Die Frage nach dem Weg aus unserer Schwäche ist identisch mit der Frage nach einer Alternative zur Arbeitsgesellschaft und damit eine Frage nach dem Umgang mit unserer Angst. Die Anerkennung der Angst und damit die Durchbrechung eines lähmenden Tabus ist der entscheidende erste Schritt. In einem zweiten Schritt ginge es um die präzise Aufdeckung und Benennung der Mechanismen, die die Angst bisher immer wieder nähren, indem sie spalten: Männer von Frauen, »Fleißige« von »Faulen«, Gesunde von Behinderten, Junge von Alten, Produktive von Unproduktiven, Inländer von Ausländern und noch Arbeitende von schon Arbeitslosen! Der dritte Schritt müsste die Übernahme der eigenen Verantwortung für die Mitwirkung an diesem System der Spaltung sein. Das System als solches bringt ja die Spaltung nicht hervor, sondern das systemadäquate Handeln aller Beteiligten. Selbst diejenigen, die sich als Opfer sehen, machen noch irgendwie mit, bleiben an das Arbeitsparadigma gebunden.

Durchbrechung der Angst ist kollektiver Prozess

Diese Grundsätze decken sich voll mit den Erfahrungen bei der Genesung von Sucht: Ausgangspunkt ist dabei immer, dass ich selbst das Pathologische meines Fühlens, Denkens und Handelns erkenne; dass ich erkenne, »dass es so nicht weitergeht«! Das ist der Punkt, an dem die Angst durchbrochen wird. Es geht darum, die Isolation, die Fragmentierung, die Konkurrenz aufzuheben. Das ist kein individueller Genesungsprozess. Er spielt sich ab unter Kollegen, mit der Familie, zusammen mit Freunden ... Es ist ein kollektiver, solidarischer Prozess. Die spürbare Folge von Solidarität wäre, dass sich die Angst real und begründet verringern würde, die Angst nämlich vor der Ausgrenzung.