new world order

Mosaiksteine für das big picture

 

 

 

Man muss in diesen Tagen schon viel Ignoranz aufbringen, um nichts von den zahllosen Dossiers und Features zum Irak-Krieg mitzubekommen. Dieser Krieg wird jetzt schon als best analysierter in die Geschichte eingehen. An dieser Stelle mit den sich überschlagenden Analysen der Tageszeitungen und Magazine mitzuhalten, wäre müßig. Wie aber sieht das big picture aus? Wie stabil ist denn nun das polit-ökonomische System der USA? Wie hat es sich in den letzten Jahren entwickelt?

Überblick über die verschiedenen Positionen

Einen ersten Überblick gibt ein (1)Online-Dossier der linksdemokratischen New Yorker Stadtzeitung Village Voice. Es versammelt zahlreiche kritische, informative Artikel, die es ermöglichen, den Verlauf der aktuellen Debatte aus Sicht der US-amerikanischen Opposition und Friedensbewegung zu verfolgen. Die Positionen der neo-konservativen Think Tanks fasst ein umfangreicher Essay der Monatszeitung New Yorker zusammen: (2)After Iraq. The plan to remake the Middle East.
»Ziel dieses Buches ist es, die Analyse der heutigen Realwirtschaft, das heißt der globalen Produktion und Distribution von Gütern und Dienstleistungen, mit der Untersuchung der Entwicklungstendenzen der US-amerikanischen Gesellschaft, verstanden als Gesamtheit ihrer sozialökonomischen Strukturen und politischen Formen, zu verknüpfen«, so behäbig beginnt Malcolm Sylvers’ Untersuchung (3)Die USA – Anatomie einer Weltmacht.

Ausführliche Analyse

Malcolm Sylvers ist 61, US-amerikanischer Staatsbürger und unterrichtet »Geschichte und Außenpolitik der Vereinigten Staaten« an der Universität Venedig. »Anatomie einer Weltmacht« ist ein erschöpfendes Buch, weil Sylvers den sympathischen Vorsatz hat, so gut wie nichts als bekannt vorauszusetzen. Er untersucht in fünf Kapiteln wirtschaftliche, soziale, kulturelle, politische und außenpolitische Strukturen, im abschließenden sechsten Kapitel setzt er sich mit den Perspektiven einer fundamental-antikapitalistischen, dennoch reformorientierten Opposition auseinander.
Seine These ist kurzgefasst die, dass die USA und ihre weltpolitische Hegemonie längst nicht so monolithisch und gefestigt sind, wie es auf den ersten Blick vielleicht scheinen mag. Das klingt banal – tatsächlich gehen aber die meisten Kritiker von einer monolithischen Weltmacht aus. Sylvers analysiert das permanent Krisenhafte der Innenpolitik: Die zunehmende Verarmung der Lohnarbeiter und die immer offensichtlichere Spaltung in Arm und Reich drohen die Stabilität des Landes zu untergraben.

Innenpolitisches Pokerspiel

Andererseits versteht es die liberal-konservative Elite diesen Verarmungsprozess so zu steuern, dass er zu keiner einheitlichen Bewegung der Ausgebeuteten führt: Der verarmende weiße Industriearbeiter entdeckt in sich seine vermeintlich italienische, irische, deutsche Identität und wählt republikanisch. Die Innenpolitik erscheint als ein Pokerspiel – alles spricht eigentlich gegen den ruinösen Neoliberalismus, die politische Klasse hat aber noch entscheidende Trümpfe in der Hand und setzt auf eine historisch gewachsene, wohl mittlerweile systemimmanente Resignation der Erniedrigten und Beleidigten. Sylvers: »Die Resignation beruht zum großen Teil auf der Art und Weise, wie die Lohnabhängigen die Ideologie des Marktes und die Legitimität der Konkurrenz bei den Löhnen akzeptieren: Wenn durch eine Tätigkeit keine auf dem Weltmarkt absetzbare Ware produziert werden kann, so erscheint dieser Arbeitsplatz in den Augen fast aller als nicht existenzberechtigt. Außerdem sind viele der Ärmeren und Armen (...) mit dem täglichen Existenzkampf so beschäftigt, dass sie nicht glauben, auch noch Zeit und Kraft für Proteste aufwenden zu können.«

Globaler Bezug

(4)Mohssen Massarrat, Professor für Politikwissenschaft an der Universität Osnabrück, stellt in Amerikas Weltordnung die US-Politik explizit in einen globalen Zusammenhang: Er unterstellt ihr das Streben nach »absoluter Weltherrschaft« und versucht diesen Begriff gegen die bislang gängigeren des Imperialismus und des Empire abzugrenzen. Das Buch hat seine Stärken in der Analyse, wie außenpolitische Hegemonie funktioniert und welche Wirkungsmechanismen die von ihr ausgehende strukturelle Gewalt entfaltet: Amerikas Welthegemonie vollzieht sich gewaltförmig, auch wenn der Hegemon gerade keinen offenen Krieg führt. Die große Schwäche des Buches liegt darin, dass Massarrat ausgerechnet Europa resp. die Achse Deutschland-Frankreich als Motor einer friedlichen Globalisierung ausmacht und den deutschen Kanzler, unter dem die meisten Auslandseinsätze deutscher Soldaten seit dem zweiten Weltkrieg stattfinden, für sein »instinktives Nein« lobt. Als wäre »Kerneuropa« frei von imperialen Interessen. Ein englischsprachiges Strategiepapier der (5)Deutschen Bank, Baghdad Bazaar, offensichtlich nur noch erhältlich über die Homepage der Globalisierungskritiker Friends of the Earth, nimmt dagegen kein Blatt vor dem Mund und beschreibt die Verstrickungen deutscher und französischer Firmen in das irakische Ölgeschäft. Deren Verträge wären im Fall eines amerikanischen Einmarsches höchstwahrscheinlich null und nichtig.

Ökonomische Sichtweise

Eine grundsätzliche Darstellung der politischen Ökonomie des Erdöls bringt das Autorenkollektiv der marxistischen Zeitschrift (6)GegenStandpunkt. In Öl – Ein strategisches Gut und sein Preis schreiben sie: »Auf Grund seiner natürlichen Eigenschaften ist Mineralöl der ideale Energierohstoff für die kapitalistische Ökonomie. Der gesicherte freie Zugriff darauf ist für die zuständigen Staatsgewalten daher von größter Wichtigkeit. Da sie – wie die Dinge nun einmal liegen – nur im Ausnahmefall in ihrem Hoheitsgebiet über längerfristig ausreichende Quellen verfügen, haben sie sich um eine zuverlässig kooperationswillige Herrschaft über die auswärtigen Lagerstätten zu kümmern – keine geringe Auforderung an ihre Fähigkeit, weltweit politischen Einfluss zu üben.«
Zwei Autoren dieses Kollektivs, (7)Karl Held und Theo Ebel, haben vor 20 Jahren mit Krieg und Frieden auch eine Politische Ökonomie des Weltfriedens vorgelegt. Vor 20 Jahren gab es noch die Sowjetunion und die NATO war intakt, der Befund der Autoren wäre aber auch heute eine Überprüfung wert: Dass es nicht je spezifische (ökonomische) Gründe gibt, die zum Krieg drängen, sondern dass es die Grundverfasstheit der kapitalistischen Gesellschaft ist, die zum Krieg drängt und sich ihre jeweiligen Gründe dafür schafft.

Differenzierte Auseinandersetzung

Gut gegen Böse. Altes gegen Neues Europa. USA gegen alle. Bei den schrillen Auseinandersetzungen zwischen den Kontinenten und Regierungen lässt sich eine Tendenz feststellen: zusehends faktenarm und stereotypisierend wird hier seitens der Medien und Politiker vereinfacht. Der Journalist (8)Stefan Fuchs bemüht sich dagegen in dem Interviewband »Die Hypermacht. USA in Nahaufnahme« um eine differenzierte Auseinandersetzung. »Welche Substanz hat die amerikanische Kultur?«, an dieser Frage arbeiten sich die neun befragten amerikanischen Intellektuellen ab.
Auffälligerweise verharren dabei die Big Names der US-Intelligenzija, Gore Vidal, Benjamin Barber, Noam Chomsky, oft an der Oberfläche und rekapitulieren bestehende Denkmuster. Wenn Vidal sich dann übergangslos an Corporate America, überfüllten Gefängnissen, dem Militärisch-Industriellen Komplex, dem 11.9. und der Infantilisierung der amerikanischen Gesellschaft abarbeitet, bleibt der Erkenntniswert eher gering, was natürlich auch der Kürze der einzelnen Interviews geschuldet ist. Andere, weniger prominente Wissenschaftler, thematisieren bei ähnlichem Umfang ungleich präziser einzelne Aspekte der amerikanischen Gesellschaft und berichten Erstaunliches aus dem Inneren der letzten Supermacht.

Rolle der Medien

So beschäftigt sich der Kommunikationswissenschaftler Joshua Meyrowitz mit den Massenmedien und ihren Auswirkungen. War mit der Watergate- und Iran-Contra-Affäre der amerikanische, investigative Journalismus weltweit anerkannt, so wichen die Medien zusehends von ihren Methoden ab und konzentrierten sich auf eine Berichterstattung aus Sicht der Herrschenden, so Meyrowitz’ These. Tatsächlich betreiben die größten amerikanischen TV-Sender ABC, CBS und NBC heute keine Korrespondentenbüros in Lateinamerika. Man macht sich abhängig von Nachrichtenpools und öffentlichen Statements, berichtet aus der Ferne. Meyrowitz’ anekdotenreiche Ausführungen über Zensur und manipulative Berichterstattung entwerfen ein Horrorszenario, das sich mit jedem neuen »Präzisionskrieg« verschärft hat.

Amerikanisches Konsumverhalten

Ähnlich erhellend sind die Überlegungen über die amerikanische Kultur des Konsumierens und des Marktes. Gleich mehrere Wissenschaftler widmen sich dieser Erscheinung. Ausgehend von Ronald Reagans Wahlspruch »Politik ist keine Lösung, Politik ist das Problem« nimmt der Soziologe Dan Clawson die Finanzierungsinstrumente der US-Politik unter die Lupe und weist Zusammenhänge zwischen der Höhe des Wahlkampfbudgets und den einzelnen Posten nach: »Das politische Gewicht des Einzelnen wird durch seine Wirtschaftskraft bestimmt, ganz unmittelbar durch seine Möglichkeiten, Geld und andere Ressourcen für Wahlkämpfe bereitzustellen.« So ist der Schritt zu einem politischen System des Neofeudalismus nicht mehr weit.

Details eines großen Bildes

Der Historiker Thomas Frank kennzeichnet die seit Reagan herrschende Ideologie wie folgt: »Märkte sind gerecht, sie geben jenen eine Stimme, die sonst keine Macht besitzen.« So wird der Kauf einer Aktie zu einer basisdemokratischen Entscheidung verklärt. Durch die schnellen Erfolge an der Börse wurden die Rufe nach Beschränkungen des Staates dann naturgemäß immer weniger, argumentiert Frank. Der Marktpopulismus setzte sich durch, die skeptische Linke wurde mithilfe von konservativen Think Tanks marginalisiert.
Erklären diese und die anderen nicht minder interessanten Interviews den imperialen Gestus der gegenwärtigen us-amerikanischen Politik? Sie liefern in erster Linie Details eines großen Bildes, das der Leser noch zusammenfügen muss. Dieses schmale Büchlein ist die Aufforderung, sich profund mit einer Nation auseinander zu setzen, die einen gefährlichen Weg eingeschlagen hat.


Literatur

(1) Das Dossier der Village Voice findet sich unter:
www.villagevoice.com/specials/iraq/
(2) Der Essay des New Yorker findet sich unter:
www.newyorker.com/fact/content/?030217fa_fact
(3) Malcolm Sylvers, »Die USA – Anatomie einer Weltmacht. Zwischen Hegemonie und Krise« 333 S., 16,90 2,
PapyRossa Verlag, Köln 2002
(4) Mohssen Massarrat, »Amerikas Weltordnung. Hegemonie und Kriege um Öl«, 184 S., 14.80 2, VSA-Verlag,
Hamburg 2003
(5) Das Strategiepapier »Baghdad Bazaar« ist erhältlich über www.foe.co.nk/resource/leaked_documents/
baghdad_bazaar.pdf
(6) »Zur politischen Ökonomie des Erdöls. Ein strategisches Gut und sein Preis«, in GegenStandpunkt 1/01, 13 2,
München 2001
(7) Karl Held/Theo Ebel, »Krieg und Frieden. Politische
Ökonomie des Weltfriedens«, 324 Seiten, Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M 1983, vergriffen. Antiquarisch erhältlich über www.zvab.com, oder zum Runterladen auf der Verlagshomepage: www.gegenstandpunkt.com/vlg/ kf/kf_idx.htm
(8) Stefan Fuchs (Hg.), »Die Hypermacht. USA in Nahaufnahme«, 160 S., 12 2, Edition Nautilus, Hamburg 2003