»Die mittelalterliche Stadt wird sinnlich«

Straßennamen dienen nicht nur der Orientierung, sie erzählen auch Geschichte. Aber nicht immer sind sie sofort zu verstehen – neben Straßennamen wie Kaiser-Wilhelm-Ring, die jeder sofort als Gedenkmarken begreift, existieren merkwürdige sprachliche Ungetüme: Unter Fettenhennen, Obenmarspforten oder Kattenbug. Diesen Namen ist der Kölner Germanist Peter Glasner in einer opulenten Studie auf den Grund gegangen: »Die Lesbarkeit der Stadt«. Christel Wester hat mit ihm gesprochen.

StadtRevue: Unter Fettenhennen, Obenmarspforten, Kattenbug – was sind das für Namen?

Peter Glasner: Diese Straßennamen kommen im Gegensatz zu den auch mittelalterlich klingenden Ringnamen wie etwa Hohenstaufenring oder Salierring, die das Geschichtskonzept des 19. Jahrhunderts in die Stadt einschreiben, aus einer anderen Zeit und einer ganz anderen Kultur. Man kann, wenn man die Ringe abfährt, quasi durch die deutsche Geschichte fahren. Der letzte Punkt wurde immer im Sinne der modernen Erinnerungskultur aktualisiert, so dass man jetzt eben an einem republikanischen Punkt herauskommt: am Theodor-Heuss-Ring. Daran sieht man schon: In Straßennamen steckt stets ein spezifischer Zeitgeist. Die anderen Namenbeispiele, die Sie genannt haben, bemühen sich jedoch überhaupt nicht um eine repräsentative Erinnerungskultur: Diese alten Namen verraten, wenn sie etymologisch einmal geknackt sind, etwas über die Wahrnehmung all der Passanten und Flaneure, die im Mittelalter Köln durchquert haben. Denn sie stehen immer in engem Zusammenhang mit dem, was man sieht. Kattenbug geht beispielsweise auf eine Wehranlage zurück.

Fundament der Kulturgeschichte

In Ihrer umfangreichen Studie über »Die Lesbarkeit der Stadt« ging es Ihnen allerdings nicht nur darum, verdeckte Bedeutungen von Straßennamen zu entschlüsseln.

Das ist richtig. Das Buchprojekt »Die Lesbarkeit der Stadt« besteht aus zwei Teilen. In einem »Lexikon der mittelalterlichen Straßennamen Kölns« wird die Geschichte der einzelnen Namen und ihrer Veränderungen dokumentiert. Aber das ist nur das Fundament, auf dem die »Kulturgeschichte« aufbaut, die als Pilotstudie entwickelt worden ist. Im Zentrum steht die Frage: Wie kann man die Geschichte der Stadtwahrnehmung im Mittelalter anhand der Straßenbezeichnungen zwischen dem 12. und 16. Jahrhundert rekonstruieren? Außerdem ist »Die Lesbarkeit der Stadt« der Beginn einer umfassenderen Forschungsarbeit, die hier am Institut für deutsche Sprache und Literatur der Universität betrieben wird. Wir analysieren erstmalig den Namenschatz einer deutschen Großstadt vom Anbeginn der schriftlichen Überlieferung bis in die Gegenwart.

Der älteste Stadtplan Kölns

Sie haben den Zeitraum vom Hochmittelalter bis in die frühe Neuzeit untersucht. Aber damals gab es noch keine Straßenschilder und Stadtpläne, wie wir sie heute kennen. Wie sind Sie an die Straßennamen gekommen?

Auf Grund der relativen Schriftarmut des Mittelalters steht man tatsächlich zunächst vor einem Quellenproblem. Das wird aber in der Stadt Köln sehr schön kompensiert: Hier gibt es die reichhaltigste Überlieferung von Straßennamen in Deutschland, weil ab 1130 in Köln das sogenannte Schreinswesen entstand, das bürgerlichen Grundbesitz rechtsverbindlich dokumentierte – eine Vorform des heutigen Grundbuches. Warum ich den Endpunkt meiner Untersuchungen bei 1571 gewählt habe, liegt zum einen daran, dass in diesem Jahr der älteste Stadtplan Kölns, der sogenannte Mercatorplan, entstanden ist, der ein unvollständiges Namenkorpus enthält. Der Mercatorplan stellt mediengeschichtlich eine Revolution dar, zuvor gab es keine vogelperspektivischen Stadtdarstellungen. Das ist jedoch nur der quellentechnische Grund. Denn dieser Zeitraum – 12. bis 16. Jahrhundert – stellt auch mentalitätsgeschichtlich eine Einheit dar. In diesen Jahrhunderten ist die Geschichte der kollektiven Wahrnehmung in die Straßennamen eingeschrieben. Ab dem 16. Jahrhundert wandelt sich die Wahrnehmung der Stadt langsam, bis es schließlich in der Franzosenzeit im 19. Jahrhundert zu einer sprunghaften Veränderung kommt.

Die Unmittelbarkeit der Stadtwahrnehmung

Worin liegt denn genau der Unterschied zwischen der mittelalterlichen und der modernen Benennungspraxis?

Sie merken schon an Beispielen wie Pißgasse und Bismarckstraße die ganz verschiedene kulturgeschichtliche Funktion. Im Mittelalter stammen die Straßennamen aus der Unmittelbarkeit der Stadtwahrnehmung. Es besteht also ein enger Zusammenhang von Sehen und Bezeichnen, denn ohne Schilder muss das, wovon die Namen sprechen, auch im Stadtraum wiederzuerkennen sein. Das ist in der Neuzeit gänzlich anders. Hier haben Straßennamen nicht nur eine Orientierungs- und Adressenfunktion, sondern größtenteils auch eine Funktion im Sinne eines Sprachdenkmals.

Das Merkantile gewinnt an Relevanz

Und welche Dinge waren in der mittelalterlichen Stadt so markant, dass sie als Straßenname fungieren konnten?

Da spielen in Köln natürlich vor allen Dingen die Wirtschaft und das Heilige Köln eine große Rolle. Man orientiert sich also vornehmlich an Produktionsstätten, an Handel und Gewerbe, aber auch an Kirchen, Kapellen und Klöstern.

Die Stadt wurde also in eine Sakrallandschaft und einen Wirtschaftsraum aufgeteilt?

Das mag zunächst wie ein trivialer Befund erscheinen. Aber wenn man sich die zeitgleichen Darstellungen der Stadt – nicht nur Kölns, sondern auch anderer Städte – ansieht, dann merkt man, dass all diese Holzschnitte, Bilder und Texte von Städten einem Idealbild des heiligen Jerusalem verpflichtet sind und wenig über die reale Topografie aussagen. Im Gegensatz dazu sind die Straßennamen sehr konkret. Vor allen Dingen kann man im zeitlichen Querschnitt dann sehr schön verfolgen, wie diese beiden Areale der Stadt miteinander konkurrieren. Anhand der Namenwechsel des Spätmittelalters ist ablesbar, wie das Merkantile an Relevanz gewinnt und schließlich viel wichtiger wird als das mutmaßliche »Hillije Coellen«.

Fischmarkt & Salzgasse

Inwiefern kann man das merkantile Gefüge der mittelalterlichen Stadt heute noch an den Straßennamen ablesen?

Wenn man beispielsweise auf dem Fischmarkt steht, der ja evidentermaßen seinen Namen dem Fischhandel verdankt, dann ist es nicht weit zur Salzgasse und zur Lintgasse. Zunächst mag man den Namen nicht anmerken, dass diese drei zusammen gehören. Wenn man aber dann weiß, dass in der Lintgasse die Lindenbast verarbeitenden Fischkorbhersteller saßen und dass in der Salzgasse der Grundstoff zur Konservierung von Fisch verkauft worden ist, dann merkt man auf einmal, wie diese Dinge Gestalt bekommen und miteinander in Bezug gesetzt werden müssen.

Irreführung von Straßennamen

Sie haben regelrechte Netze von Namen zu bestimmten Themen gefunden.

Köln galt als Wollstadt des Mittelalters, und am Beispiel der Tuchherstellung kann man noch vom äußersten westlichen Ende der Stadt bis zum Rheinufer den Produktionsprozess der Tuchherstellung von der Schafschur über das Wollwalken, Tuchfärben bis zum Tuchhandel verfolgen. Namen, die heute noch darauf verweisen, sind etwa Schaafenstraße, Weberstraße oder Blaubach.
Aber die Namen können auch in die Irre führen, wie etwa der Kleine und der Große Griechenmarkt.
Wenn wir diese Namen im Wortsinne verstehen, denken wir natürlich gleich an das kosmopolitische Köln und seine Vergangenheit, an die byzantinische Kaiserin Theophanu, die unweit in St. Pantaleon ihre letzte Ruhestätte gefunden hat. Und so war die Stadtgeschichtsschreibung jahrhundertelang gerne bereit, eben diesen Griechenmarkt als Hinweis auf griechische Handwerker im Gefolge der Kaiserin Theophanu anzunehmen. Wenn man aber die verschiedenen Sprachstufen des Neuhochdeutschen, des Mittelhochdeutschen, des Althochdeutschen zurückverfolgt, dann stößt man auf Namen wie »Cricmar«. »Mar« bedeutet nichts anderes als Tümpel oder sumpfige unbebaute Fläche, wovon auch »Cric« spricht – alles andere also als eine Ansiedlung von griechischen Handwerkern.

Stille Post

Wie kam es zu solchen Überlieferungsfehlern?

Wenn die Straßennamen im Mittelalter in die Schriftlichkeit eindringen, dann ist es ja zunächst die Schriftsprache des Lateinischen. Stellen Sie sich nun vor, wie das Altkölnische oder Ripuarische in das Lateinische des Mittelalters übertragen wurde, dann wird Ihnen klar, dass dabei geradezu Stille-Post-artige Übersetzungsprobleme auftauchten.

Trotzdem haben viele mittelalterliche Namen sich über Jahrhunderte hinweg erhalten.

Die Namen waren in der Mündlichkeit der Alltagssprache eingebettet, das heißt: Wenn sich keine Obrigkeit, keine Institution darum kümmert, dann bleiben viele Namen zwischen dem 12. und 16. Jahrhundert gleich. Das ist ein ungeheures Beharrungsvermögen, und deshalb sind die alten Straßennamen auch so wertvoll – weil sie eine so weit zurückreichende Geschichte haben.

Aufklärung und Straßennamen

Die Französischen Besatzung und der erzieherische Eifer von Franz Ferdinand Wallraf stellen dennoch eine Zäsur dar.

Nicht nur in Köln, auch in anderen Städten und nicht zuletzt in Paris, ist die Verschriftlichung der Straßennamen – ihre Einmeißelung in Hausfassaden und das Nachdenken über ihre Bedeutung – ein Kind der Französischen Revolution. Wallraf war zur Zeit des Einmarsches der Franzosen der letzte reichsstädtische Universitätsrektor und von daher prädestiniert, die Straßennamen für die neuen Machthaber in die Verwaltungstauglichkeit zu überführen. Er war ein Aufklärer wie aus dem Bilderbuch, und das soll heißen: ein Mittelalterverächter, der die Geschichte der Stadt vor allen Dingen in der gemeinsamen Geschichte mit den französischen Nachbarn und in der Antike sah. Dementsprechend versuchte er, den Namenschatz zu gestalten – im Sinne eines begehbaren Geschichtsbuches. Aber die Wallrafschen Reformpläne sind nicht in der Schärfe umgesetzt worden. Und nach dem Abzug der Franzosen wurden auch die französischen Namen wieder ins Deutsche zurückübersetzt, dabei orientierte man sich teilweise an dem traditionellen Namenbestand. Es wäre eine interessante Folgeuntersuchung, die offiziellen Bezeichnungen mit privaten Quellen wie Briefen und Testamenten zu vergleichen und herauszufinden, was im Alltag wirklich gebräuchlich war.

Die mittelalterliche Stadt wird sinnlich

Letztlich hat ein großer Teil der mittelalterlichen Namen tiefgreifende städtebauliche Veränderungen und sogar Kriegszerstörungen überdauert. Das ist doch erstaunlich.

Das liegt natürlich auch daran, dass man diese historische Beheimatung in der Sprache gerade dort sucht, wo die Geschichte der Gebäude eine derartige Kontinuität nicht leisten kann. Und bei dem Ausmaß der Kriegszerstörungen verraten die Straßennamen immer noch etwas über die historische Gestalt der Stadt.

Die alten Namen haben es Ihnen jedenfalls angetan.

Man muss schon ein gewisses Faible dafür haben, sonst würde es einem als spröde Arbeit erscheinen, sprachgeschichtlich solchen Kleinoden nachzugehen wie diesen 4.608 Bezeichnungen, die in dem Namenlexikon dokumentiert sind. Aber wenn man das konsequent verfolgt, dann wird klar, dass eben in diesen Namen das Stadterleben des Mittelalters hinterlegt ist. Man hört die Metzger in der Kotzgasse, die hier – wie der alte Name sagt – Innereien feilbieten, das riecht man sogar förmlich. Die mittelalterliche Stadt wird sinnlich durch die Sprachgeschichte.

Frauen als Huren oder Heilige

Die Straßennamen bilden auch Sozialgeschichte ab.

In einer sehr interessanten Brechung. Man könnte ja annehmen, dass der Namenschatz des Mittelalters die Stadt widerspiegelt, wie sie war. Da aber die Straßennamen Ausdruck einer Mentalitätsgeschichte des Sehens sind, ist auch die Sozialtopografie nur gefiltert durch die Wahrnehmung der Zeitgenossen in den Namenschatz eingegangen. Frauen und auch Außenseiter der mittelalterlichen Gesellschaft finden lediglich marginal Eingang in die Namenbildung: Frauen als Huren, oder als Heilige, wenn sich ihr Vorname auf einen gleichnamigen Sakralbau beziehen lässt. Und Außenseiter auch nur dann, wenn sie für die Orientierung des Handel treibenden Bürgertums in der Stadt von Bedeutung waren, aber nie in der statistischen Häufigkeit, in der sie sich wirklich in der Stadt befunden haben.

Und was bedeutet Unter Fettenhennen?

Dieser Name hat nichts mit Landwirtschaft oder Viehzucht zu tun, sondern bezieht sich auf ein Hauszeichen: Hier befand sich eine Buchdruckerei, die in ihrem Firmensignet eine Henne mit Küken führte. Man muss Straßennamen hinsichtlich ihrer Bedeutung immer hinterfragen, sie können reale Dinge bezeichnen, aber auch Symbole.