Einwanderer, zwei Wanderer, viele

Migration stellt scheinbare Sicherheiten in Frage – bei MigrantInnen und in der so genannten Mehrheitsgesellschaft. Fremdheitserfahrungen machen zurzeit auch das Kölner »Dokumentationszentrum für

Migration aus der Türkei« und der »Kölnische Kunstverein«, deren gemeinsames »Projekt Migration« im Juni startet. Thomas Goebel hat nachgefragt, was während der nächsten zwei Jahre geschehen soll.

 

Eine Flasche spanischen Cognac hat Antonio Muñoz Sánchez kürzlich bei einem Bekannten entdeckt. Vor vierzig Jahren hatte der die Flasche mit nach Deutschland gebracht und aufbewahrt – für den Tag seiner Rückkehr nach Spanien. Der Cognac blieb ungetrunken bis heute, und nun erzählt er die Geschichte des gemeinsamen Missverständnisses von so genannten Gastarbeitern und ihren deutschen Chefs: Ein paar Jahre Arbeit in Deutschland waren vorgesehen. Für viele wurde ein ganzes Leben daraus.
Schon zehn Jahre nach Kriegsende, mit dem Anwerbeabkommen zwischen Deutschland und Italien 1955, kamen die ersten ArbeitsmigrantInnen in die Bundesrepublik. Seitdem haben die Einwanderer das Land verändert – und das Land die Einwanderer. Kaum ein Thema wird in der Bundesrepublik ähnlich emotional diskutiert wie die Frage, ob Deutschland denn nun ein Zuwanderungsland sei und man es auch so nennen dürfe. Die Diskussion schwankt zwischen der hysterischen Ablehnung alles Fremden und einer bunten Folklore-Multikulturalität, die der Satiriker Wiglaf Droste einmal böse als »Eiapopeia mit Negern« bezeichnete.

»Vorbei mit alles klar«

Das Wissen über das Leben von Einwanderern in Deutschland ist dabei oft gering. »Die Geschichte der Migration in Deutschland ist noch nicht geschrieben – zumal aus der Perspektive der Migrantinnen und Migranten«, hat die 2002 gegründete »Kulturstiftung des Bundes« erkannt und deshalb das groß angelegte »Projekt Migration« auf den Weg gebracht: In den nächsten zwei Jahren soll das Thema in möglichst vielen verschiedenen Formen erfahren, durchdacht und präsentiert werden. Das zeigt schon die Auswahl der Projektträger: Das Kölner Dokumentationszentrum für Migration aus der Türkei (DOMiT), das Frankfurter Institut für Kulturanthropologie und Europäische Ethnologie und der Kölnische Kunstverein. Dessen Direktorin Kathrin Rhomberg leitet das gesamte Projekt gemeinsam mit der Zürcher Kunsttheoretikerin Marion von Osten.
Nach über einem halben Jahr Planung startet der Kunstverein nun in seinem großartigen neuen Domizil, der »Brücke« in der Hahnenstraße, gleich doppelt in das Projekt: mit einer Vortragsserie unter dem Titel »Vorbei mit alles klar« und einer ausführlichen Filmreihe, kuratiert von Georg Seeßlen – schließlich hat der Kunstverein nun einen eigenen Kinosaal im Haus.
Für Kathrin Rhomberg, erst seit 2002 Direktorin, ist das »Projekt Migration« eine große Chance: Nach den kulturpolitischen Querelen um den Umzug des Kunstvereins in die »Brücke« kann sie nun ihrem Verständnis von Kunst weiteren Raum schaffen: Kunst, die ihre traditionellen Rückzugsbereiche verlässt und mit Stadt und Gesellschaft in Auseinandersetzung tritt. »Durch die Erfahrung der Migration werden Sicherheiten, die man sich erarbeitet hat, in Frage gestellt«, sagt Rhombach – ein Effekt, den sie sicherlich auch der Kunst zuschreiben würde. Und ein Thema, mit dem sich die Österreicherin Rhomberg in Köln persönlich beschäftigt: »Zum ersten Mal in meinem Leben mache ich migrantische Erfahrungen – wenn auch natürlich als sehr privilegierte Migrantin«.

Nur scheinbar klare Begriffe

Wie dieses Erleben theoretisch und künstlerisch zu erfassen sei, ist Thema der von Christian Kravagna organisierten Auftaktreihe »Vorbei mit alles klar«. Kravagna will die Gewissheiten auflösen, die nur scheinbar stabile Begriffe wie »Eigenes« und »Fremdes« oder »Mehrheit« und »Minderheit« versprechen. Migration wird dabei nicht als Ausnahmezustand begriffen, sondern als Normalfall einer globalisierten Welt, in der die Konstruktion klar abgrenzbarer, eindeutiger Identitäten immer fragwürdiger wird.
In diesem Sinn die Wahrnehmung öffnen – das will auch Seeßlens Filmreihe »The Cinema of In-Between«: »Während es vom Elend spricht, das in der Geschichte der Migration aufgehoben sein muss, spricht das Kino auch schon von Hoffnungen und Utopien«, schreibt Seeßlen. »Sie liegen weder in Trennung noch in Auflösung. Sondern in Offenheit. Im Kino ist das, ganz direkt, eine Frage der Einstellung.« Die von Seeßlen ausgewählten Filme erzählen von Flucht, von Wanderung und Ankunft, vom Glück und von den Schmerzen – bis hin zur Begegnung mit dem außerirdisch Fremden am »phantastischen Videoabend« zur »kosmischen Migration«.
Fremdheitserfahrungen machen zurzeit auch die Träger des Projekts. Wie die verschiedenen Kulturen des klar sozialhistorisch arbeitenden Dokumentationszentrums DOMiT und des diskurstheoretisch assoziierenden Kunstvereins zusammen kommen sollen, weiß noch keiner der Beteiligten; das Projekt sei ein »offener Prozess«, heißt es beim Kunstverein, »wir sind noch ganz am Anfang«, sagt DOMiT. Ein so genannter »Starter-Workshop« im März diente der ersten Annäherung, weitere sollen folgen.

Etagenbett und Wandteppich

DOMiT konzentriert sich derweil aufs Sammeln. Antonio Muñoz Sánchez, der Entdecker der Cognacflasche, ist einer der Sucher von Erinnerungsgegenständen, die das Dokumentationszentrum beschäftigt. DOMiT ist eine bundesweit einmalige Einrichtung. 1990 begann der Verein Dinge zu sammeln, die Geschichten erzählen können vom Leben der Türken, die nach dem deutsch-türkischen Anwerbeabkommen von 1961 in die Bundesrepublik kamen – vom Fotoalbum über die Plattensammlung bis zum Teekocher. Ganze Zimmer in Barackenwohnheimen für »Gastarbeiter« hat DOMiT aufgekauft, ehe sie im Sperrmüll verschwanden: Die Doppeletagenbetten, die Metallspinde und den Wandteppich mit eingeknüpfter türkischer Fahne und Atatürk-Porträt dazu.
Dass nun auch Sánchez daran arbeitet, das Archiv von DOMiT zu füllen, ist schon eine Folge des »Projekts Migration«: Insgesamt 4,5 Millionen Euro zahlt die Stiftung bis 2005 für das gesamte Vorhaben – DOMiT konnte fünf neue MitarbeiterInnen türkischer, italienischer, portugiesischer, griechischer und spanischer Herkunft einstellen, die nun die Suche nach den Zeugnissen von Einwanderern auf ihre Communities ausdehnen.
DOMiT führt lebensgeschichtliche Interviews mit Arbeitsmigranten und sammelt alles, was von deren Leben vor allem in den 50er und 60er Jahren noch zu bekommen ist. »Wir wollen Materialien für künftige Forschung liefern«, sagt Aytaç Eryilmaz, einer der Projektbeauftragten von DOMiT. Die Vereinsmitglieder werden angetrieben von der Angst, dass die Geschichte der Einwanderer vergessen wird, bevor sie geschrieben werden konnte. Immer mehr Arbeitsmigranten der ersten Generation nach dem Krieg sterben, Keller und Dachböden werden ausgeräumt und scheinbar wertlose Gegenstände aus einem alten Leben landen auf dem Müll.

Raus in die Stadt

»Viele Migranten sammeln ihre Geschichte – aber die Sammlungen gehen verloren, weil sich niemand dafür interessiert«, sagt Martin Rapp, der ebenfalls bei DOMiT für das Projekt arbeitet. »Es gibt an der Kölner Uni keinen einzigen Professor, der sich mit Migrationsgeschichte beschäftigt.«
DOMiT möchte erreichen, dass der Bund ein Migrationsmuseum gründet; die momentan entstehende Sammlung könnte ein Grundstock dafür sein. Zunächst werden die Gegenstände aber Teil der großen Abschlussaustellung des »Projekts Migration«, die 2005, zum 50. Jahrestages der ersten Anwerbungen von »Gastarbeitern« in der Bundesrepublik, in Köln zu sehen sein wird. Bis dahin müssen sich die Beteiligten auf ein gemeinsames Konzept einigen, das sozialhistorische, anthropologische und künstlerische Annäherungen an das Thema verbindet.
»Wir sind Spezialisten auf der visuellen Ebene«, sagt Fouad Asfour vom Kölnischen Kunstverein, die Ausstellung werde ein »Experiment«. Während DOMiT die neu aufgestellten, noch leeren Holzregale in seinen Archivräumen füllt, will der Kunstverein bis 2005 in dichter Folge Programm bieten. Fest steht bisher wenig, dafür gibt es umso mehr Ideen: Die Zusammenarbeit mit einer Schule, die von vielen Migrantenkindern besucht wird könne er sich vorstellen, sagt Asfour, vielleicht in Kalk. Auch Direktorin Rhomberg will raus in die Stadt: »Wir werden schnell reagieren.« Leer stehende Läden in der Hahnenstraße etwa seien gute Orte für spontane Theaterprojekte oder die Konfrontation der Menschen mit Kunstobjekten.

Migration sichtbar machen

Anfang 2004 soll sich eine von Mark Terkessidis organisierte Vortragsreihe mit der Frage beschäftigen, wie Migration sich in die Stadt einschreibt, welche Spuren sie im Stadtbild hinterlässt. Weitere Filmreihen von Harun Farocki und Olaf Möller sind noch für dieses Jahr geplant. »Wie kann man Migration sichtbar machen?«, laute die ständige Frage.
Die Abschlussausstellung des »Projekts Migration« wird, nach bisheriger Planung, schließlich den umgekehrten Weg gehen, den die Arbeitsmigranten in den letzten Jahrzehnten gekommen sind: Sie wird in die Metropolen der Anwerbeländer wandern. Dort soll die Präsentation umgearbeitet und durch je spezifische Erfahrungen ergänzt werden.
So kommt die spanische Cognacflasche aus dem Kölner Keller wohl doch noch nach Madrid. Wahrscheinlich gilt ihre Geschichte dort inzwischen als typisch deutsch.

Termine und Sammlungsaufruf
Vortragsreihe »Vorbei mit alles klar«
30.5. Ost-westlicher Diwan
Doris Margreiter im Gespräch mit Christian Kravagna.
4.6. Migration utopisch betrachtet
María do Mar Castro Varela, Köln
18.6. Migration und Entstehung der Moderne
Iain Chambers, Neapel
25.6. Kampf um Hybridität: Definitionsmacht,
Vereinnahmung, Missrepräsentation?
Kien Nghi Ha, Berlin
Die Vorträge beginnen jeweils um 19 Uhr

Filmreihe »Le cinéma du metissage – The Cinema of In-Between – Das Kino zwischen den Kulturen«
Die Filmreihe beginnt am 6. Juni um 19 Uhr mit einem Einführungsvortrag von Georg Seeßlen und dem iranischen Film »Zire puste shahr/Under the Skin of the City« in Anwesenheit des Regisseurs Rakshan Bani-Etemard. Weitere Termine im Filmteil, S. 66.
Alle Veranstaltungen im Kölnischen Kunstverein in der »Brücke«,
Hahnenstr. 6, Tel. 21 70 21.

Sammlungsaufruf
DOMiT bittet um Unterstützung bei der Suche nach Erinnerungsgegenständen. Alle Materialien sind von Interesse, die aus dem Leben von Migranten in Deutschland erzählen: Objekte und Dokumente, Briefe, Fotos, Plakate etc.
Weitere Informationen bei DOMiT, Bonner Str. 211, Tel. 800 28 30.