Foto: Manfred Wegener

Im Keller des Gewaltmonopols

Der Ermittlungsausschuss Köln will gegen unverhältnismäßige Polizeigewalt und die Methoden in Kölner Gewahrsamszellen vorgehen

Die Erinnerungen sind noch Monate später lebendig: »Ich habe das wie in einzelnen Bildern abgespeichert«, sagt Clara Wyen*. Es ist die Nacht des 27. Juli, als sie mit Freunden auf eine Hausparty in Kalk geht. »Ich habe nichts getrunken, keine Drogen genommen, das mache ich nie.« Gegen halb drei Uhr morgens wird die Party von der Polizei wegen Ruhestörung aufgelöst. Rund drei Dutzend Gäste lassen sich auf dem Platz an der Kalker Post nieder, um ein letztes Kioskbier zu trinken. Die Stimmung ist friedlich, die Lautstärke dezent, wie Besucher unabhängig voneinander beschreiben. Trotzdem taucht wieder die Polizei auf, mit mehreren Streifenwagen.

 

Dann geht alles ganz schnell: Innerhalb von Minuten sind Polizisten auf dem Platz und gehen mit Pfefferspray, Schlagstöcken und Hunden in die Menge rein. »Ich habe meine Arme hochgerissen und gerufen: ›Keine Gewalt, keine Gewalt!‹ Ich wollte da raus, aber mir wurde von hinten in die Beine geschlagen und der Arm zurückgedreht. Dann bin ich abtransportiert worden«, erzählt Wyen. Neben ihr mussten auch drei weitere Personen die Nacht in Gewahrsam im Präsidium in Kalk verbringen. Im Polizeibericht ist von Flaschenwürfen und Provokationen gegenüber den Beamten die Rede. Augenzeugen sprechen von einem unverhältnismäßigen Einsatz.

 

Ein Einzelfall? Nein, sagt Jan Stahl* vom Ermittlungssauschuss (EA) Köln. Die linke Rechtshilfe sammelt Fälle von unverhältnismäßiger Polizeigewalt, insbesondere gegenüber Mitgliedern der linken Szene. Die vier in Gewahrsam genommenen Partygäste sind regelmäßige Besucher des Autonomen Zentrums. Der Fokus des EA liegt auf den Vorgängen in Gewahrsam, die auch Wyen am eigenen Leib erfahren hat. 

 

In der Zelle musste sie sich ausziehen und ihre Körperöffnungen untersuchen lassen. Da sie sich weigerte, wurde sie von mehreren Beamten auf den Boden geworfen und gewaltsam ausgezogen. »Das war wie eine Vergewaltigungssituation, ich habe wie verrückt angefangen zu schreien. Die haben mir alle Klamotten runtergerissen und mich dann untersucht. Anschließend haben sie mich nackt über den Gang in eine andere Zelle gebracht, fünf, sechs Türen weiter, an anderen Polizisten und Inhaftierten vorbei.« Erst am Morgen wurde sie entlassen.

 

 »Dieses Nackt-Ausziehen und Untersuchen ist eine Misshandlung und wird gezielt als Mittel der Einschüchterung gegen unliebsame Personengruppen benutzt,« so Stahl. Der Kölner EA plant derzeit eine Kampagne gegen diese Behandlung, die eigentlich bei Verstößen gegen das Betäubungsmittelgesetz oder bei vermutetem Waffenbesitz vorgesehen ist. Der Kölner Rechtsanwalt Heinrich Comes, der den EA unterstützt, sieht das ähnlich: »Die Maßnahme, dass die Verwahrten sich nackt ausziehen müssen, erschließt sich mir sehr häufig nicht«, so Comes.

 

Christian Kemperdieck ist eigentlich Anwalt für Insolvenzstrafrecht und hat mit Gewaltdelikten eher selten zu tun. Im März jedoch wurde er in seiner Kanzlei an der Geisselstraße in Ehrenfeld Zeuge, wie die Polizei eine Demonstration der »Refugees Revolution Bus Tour« vor dem Flüchtlingswohnheim gewaltsam auflöste. »Die Polizisten waren schlicht überfordert. Das war alles sehr unverhältnismäßig«, erinnert er sich. »Die Demonstranten waren nicht mehr als zwanzig Leute. Nicht bewaffnet, lediglich laut.« 18 Menschen wurden nach Kalk gebracht, auch sie mussten sich untersuchen lassen. Eine Frau musste sich nach eigener Aussage drei Mal ausziehen. »Das war nur zur Demütigung«, erzählt eine Mitgefangene.

 

Bei der Kölner Polizei möchte man zu den konkreten Vorfällen mit Hinweis auf laufende Verfahren nichts sagen. Die Methoden im Gewahrsam werden aber bestätigt — als Standardmaßnahme, wie Uwe Reischke erklärt. Der Polizeidirektor ist stellvertretender Leiter der Direktion Besondere Aufgaben und auch für den Gewahrsam zuständig. »Alle in Gewahrsam Genommenen müssen sich nackt ausziehen, dann werden ihre Körperöffnungen in Augenschein genommen«, so Reischke. »Das ist Standard, egal, aus welchem Grund jemand da ist.« Die Gewahrsamsordnung Nordrhein-Westfalen schreibt dieses Vorgehen nicht vor. Dort heißt es:  »Der Verwahrte ist bei seiner Einlieferung [...] gründlich zu durchsuchen.« Ob die Menschen sich ausziehen und ihre Körperöffnungen untersuchen lassen müssen, ist optional. In Köln sehe man das als notwendig an, so Reischke.

 

Rafael Behr findet das befremdlich: »Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ist juristisch sehr breit auslegbar.« Der 55-Jährige ist Professor an der Hamburger Hochschule für Polizei und war selbst Polizist. »Das ist an der Grenze des moralisch Zulässigen. Vom polizeiethischen Standpunkt halte ich das für inakzeptabel.«

 

Doch stimmt es wirklich, dass die Maßnahme Standardprozedur ist? Rechtsanwalt Comes glaubt nicht daran: »Mir sind aus der jüngeren Vergangenheit viele Fälle bekannt, wo Menschen das nicht über sich ergehen lassen mussten.« Wird die Prozedur also doch bei unliebsamen Gruppen vorgenommen, als Schikane? Wird aus Schutz behauptet, dass die Maßnahme Standardprozedur sei? Eine Antwort ist schwierig, weiß Behr: »Gewahrsam ist für die Menschenrechte immer ein gefährdeter Ort. Weil es im Herzen, oder besser: im Keller des Gewaltmonopols stattfindet. Es ist nicht klar, was da passiert.«

 

Ausschließen möchte der Soziologe eine generelle Gewaltzunahme von Polizeiseite nicht. Er sieht die Gefahr einer zunehmenden Entfremdung von der Zivilgesellschaft, die vor allem durch die Polizeigewerkschaften befeuert werden, die von einer statistisch nicht belegbaren zunehmenden Gewalt gegenüber Polizisten sprechen. »Im Windschatten dieser Rhetorik wird das Polizei-handeln härter als nötig«, so Behr. »Die Beamten denken: wir sind die Opfer, wir müssen uns wehren.«

 

Zu beweisen sind die Übergriffe nicht. Nicht auf der Straße, und schon gar nicht im Gewahrsam. Es gibt nur das Opfer, dem eine Vielzahl von Beamten gegenübersteht. »Welcher Beamte haut seine Kollegen in die Pfanne? Ich habe Verfahren erlebt, da wurde einem Mandanten in Gewahrsam die Nase gebrochen. Aber keiner hat’s gesehen«, erzählt Comes. Auch bei Einsätzen auf der Straße sind die Chancen gering. Die Forderung nach individueller Kennzeichnung von Polizisten werden von den Polizeigewerkschaften ebenso blockiert wie die Einrichtung einer unabhängigen Beschwerde- und Untersuchungsbehörde. Anzeigen gegen Polizisten werden sehr häufig fallen gelassen. Auch nach den Vorfällen an der Geisselstraße haben drei Beobachter Polizisten wegen Körperverletzung im Amt angezeigt. Die Verfahren sind bereits eingestellt. Die Demonstranten dagegen müssen sich vor Gericht verantworten, unter anderem wegen Hausfriedensbruch, Widerstand gegen die Staatsgewalt und Körperverletzung. Der Spieß wird einfach umgedreht.

 

Was tun? Der Ermittlungssauschuss Köln will weiter Fälle sammeln und öffentlich machen. Auch Heinrich Comes hält das für die sinnvollste Methode. »Bei der gerichtlichen Aufarbeitung geht es immer um Einzelfälle. Effektiver ist Öffentlichkeitsarbeit. Man muss darstellen, dass das ein systemisches Problem ist.«

 

Clara Wyen meidet den Platz an der Kalker Post seit jener Nacht im Juli: »Ich war noch ein paar Mal dort, aber ich kriege da Beklemmungen. Erstmal gehe ich da nicht mehr hin.« Auch sie muss sich bald vor Gericht verantworten. Gegen sie liegen Anzeigen wegen Widerstands gegen die Staatsgewalt und Landfriedensbruchs vor.

(*Name geändert)