Die Hölle mitten unter uns

Mit »Waisen« gelingt Nachwuchsregisseurin Sandra Reitmeyer ein großartiges Kammerspiel

Was unter dem Teppich dieser Familie fault, ist abscheulich. Auf nur fünf Minuten trauter Zweisamkeit folgt ein siebzigminütiger Psychotrip in die Hölle. Mit blutverschmiertem Hemd platzt Liam ins Tête-à-Tête seiner Schwester Helen mit ihrem Mann. Nicht sein Blut, sagt er, und das Unheil beginnt. 

 

Mit den »Waisen« zeigt sich Autor Dennis Kelly wieder als Meister der dramatischen Konstruktion, welche die Demontage vermeintlicher Wahrheiten betreibt, indem wechselnde Perspektiven auf das Geschehen immer neue Lügen aufdecken. Diesmal stochert der Brite in dem von Konservativen oft und gern zitierten Kern der Gesellschaft: der Familie.

 

In Sandra Reitmayers Inszenierung stehen die drei Teilnehmer dieses inner circles vor zarter Blümchentapete in einem Planschbecken, das später der Katharsis dient. Mit jedem Satz, mit jeder neu auftauchenden Frage wird die Situation vertrackter, immer auswegloser. Zunächst behauptet Liam einem Verletzten geholfen zu haben, sein schuldbewusstes Gestammel lässt jedoch Schlimmes ahnen. Doch es sind die Wörter, die nicht gesagt werden, welche die grausame Wahrheit zwischen den Zeilen zutage bringen: der Schutz der Familie heiligt jegliche Mittel. Auch wenn der Araber, den Liam zusammengeschlagen hat, im Schuppen verblutet. Manisch versucht Helen die Schuld des Bruders aus seinem Hemd zu schrubben. Die heile Welt ist beschmutzt. Ihr biederer Ehemann soll’s richten: »Wir oder die. Familie oder keine Familie.« Bevor der Fremde den vorbestraften Bruder verraten kann, soll er von Danny zum Schweigen gebracht werden. Dass jemand stirbt, interessiert Helen nicht — die Familie geht vor.

 

Was dann im Off passiert, treibt das blanke Entsetzen in die Zuschauerreihen. Zum Wohl der Lieben wird gemordet und misshandelt. Dannys blutigen Hände an der Wand und am Ende die drei Darsteller mit übergestülpter Hasskappe künden davon. Diese Holzhammer sind überflüssig und der einzige Wermutstropfen in diesem ansonsten dicht inszenierten Kammerspiel mit seinen grandiosen Schauspielern, allen voran Keller-Theater-Schüler Moritz Heidebach als Liam. Es ist beeindruckend, wie mühelos alle drei zwischen Feigheit und menschenverachtender Brutalität switchen, ohne das Dilemma ihrer Figuren zu denunzieren. Ihr Spiel versetzt den Zuschauer in einen wahrhaftigen Schockzustand. Spätestens wenn man das Theater verlässt, weiß man: Die Hölle ist hier.