»Dass noch immer alles gut gegangen sei, kann man nach dem skandalösen Einsturz des Stadtarchivs schon gar nicht mehr behaupten« – Fotograf Reinhard Matz | Foto: Manfred Wegener

Köln ohne Bratkartoffeln

Ein Gespräch mit dem Künstler und Fotografen Reinhard Matz über ungewöhnliche Perspektiven, Kölner Stillstand und das Feld zwischen Liberalismus und Kommunismus

Texttafeln im öffentlichen Raum, am Bauzaun des eingestürzten Stadtarchivs oder in Emaille an Hauswänden. Das sind Arbeiten, mit denen Reinhard Matz in der letzten Zeit für Aufsehen sorgte, gestaltende Eingriffe eines Künstlers, der weit eher für sein vielfach publiziertes fotografisches Werk bekannt ist. Der 1952 in Bremen Geborene spannt Bögen zwischen Dokumentation und klaren Statements, sowohl mit Fotografien wie Texten. So auch mit dem im letzten Jahr erschienenen Buch »Köln vor dem Krieg: Leben Kultur Stadt 1880–1940« oder in den beiden Bänden »Fassade.Köln« (2005 und 2006). Dabei schönt er den Status Quo der Domstadt nicht, sondern weist auf ihre nonchalanten Versäumnisse und Zumutungen. Ihm einfach einen Blick auf die schönen Seiten Kölns großer Historie zu verordnen, wäre allerdings so lapidar wie sinnlos, denn die kennt er wie seine Westentasche, war Reinhard Matz doch zwanzig Jahre lang als Fotograf für die Dombauverwaltung tätig.

 

Herr Matz, welche Erkenntnisse über Köln gewinnt man auf dem Dach des Doms?

 

Dass ein Überblick nicht viel bringt, dass man die Stadt erst in ihren Details und Ver­ästelungen erkennt, dass nicht alles Gold ist, was da im Abendlicht glänzt, und dass man auch vom Dom fallen kann, ohne dass sich in dem Haus jemand dafür interessiert, wie man unten ankommt.

 

Als Sie ihre Arbeit als Fotograf für die Dombauverwaltung begannen, lebten Sie bereits einige Jahre in der Stadt. Was hat Sie nach Köln verschlagen und was dort gehalten?

 

In die Stadt brachte mich meine damalige Freundin, die hier zuvor studiert hatte. Fasziniert hatte mich von Anfang an das soziale Gefüge. Es ist ein wenig mehr Miteinander als Nebeneinander wie etwa in Berlin, wo ich zuvor war. Zum Beispiel in den Brauhäusern, wo alle hingehen, sich nun auch nicht gleich alle verbrüdern, aber doch zumindest gemeinsam essen und gelegentlich ins Gespräch kommen, ein Anfang.

 

Wie kam es, dass sich so viele Ihrer freien Projekte mit der Stadt Köln beschäftigen?

 

Na, dazu brauchte ich schon einen langen Anlauf. Ich wollte sehr lange ein Projekt über die Bizarrerien und unglaublichen Zusammenkünfte der hiesigen Architektur machen. Aber mit der traditionellen Großbildtechnik, also mit Plattenkamera und Stativ, wie ich meist gearbeitet hatte, kam es mir vor, wie mit einer Kanone auf Spatzen zu schießen. Die Entwicklung der digitalen Fotografie hat dann zu »Fassade.Köln« geführt. Köln bietet viele Kanten und Aufreger, an denen man sich reiben kann. Das produziert so viel Spannung, dass man sie in verschiedenen Äußerungen abbauen muss. Der alte Perikles hat ja schon vor 2500 Jahren gesagt, ein Bürger, der sich nicht für die Belange seiner Stadt interessiert, ist kein stiller, sondern ein schlechter Bürger. Nun neige ich nicht zu lauten Ausbrüchen, aber still kann ich bei den vielen Unzulänglichkeiten auch nicht bleiben. Wir sollten tatsächlich mehr kommunale Mitbestimmung fordern und praktizieren.

 

Der kölsche Lokalpatriotismus erwehrt sich jeglicher Kritik mit einem lässigen »Et hätt noch immer jot jejange« — plötzlich erscheint der Kritiker als Spießer. Dagegen haben Sie in ihrem Text zu »Fassade.Köln« ihre preußische Perspektive gerechtfertigt. Brauchen Städte den Blick des Fremden, ist die Unwilligkeit zum Wandel ein Kölsches Phänomen?

 

Köln ist nun mal die bei weitem älteste deutsche Großstadt. Da setzt sich vieles fest und bedarf zuweilen des Aufrührens. Dass noch immer alles gut gegangen sei, kann man nach dem skandalösen Einsturz des Stadtarchivs schon gar nicht mehr behaupten. Und, ja, natürlich muss sich der Genpool einer Stadt immer wieder neu mixen, sonst degeneriert sie. Wie Köln vom 16. bis 18. Jahrhundert schon einmal: Juden waren verjagt, Protestanten hatten keine Rechte. Die Zünfte bestimmten alles, vom Arbeitsrecht über den Stadtrat bis zur nicht funktionierenden Müllabfuhr. Um aber Zunftmitglied zu werden, musste man Bürger der Stadt und katholisch sein. Durch seine günstige Lage, das Stapelprivileg und den Pilgertourismus hielt sich Köln noch über Wasser, aber man schmorte im eigenen Saft. Keine Innovation, nirgends. 300 Jahre lang verkamen die Häuser, Plätze, Straßen und Sitten. Besucher beklagten die Hässlichkeit, den Gestank und die Bettelei. Es bedurfte der französischen Besatzung, um die Stadt wachzurütteln, und der Preußen, um Industrie zu installieren und den seit 1520 liegengebliebenen Dom fertig zu bauen. Wir sollten nicht schon wieder in eine 300-jährige selbstzufriedene Dekadenz rutschen.

 

Zum Einsturz des Stadtarchivs installierten Sie unter dem Titel »24 Sätze zu 8 Minuten« ihre viel beachteten Texttafeln an den Bauzaun vor der Ruine. Wie kam es dazu?

 

Die Künstlerin Dorothee Joachim wusste, dass ich mich für Gedenkstätten und Erinnerungsarbeit interessiere und fragte mich, ob ich nicht in der Initiative ArchivKomplex mitarbeiten wolle. Meine erste Reaktion waren diese 24 Tafeln, weil die Stadt auch drei Jahre nach der Katastrophe dort keinerlei Information über den Ort und das Geschehen bot. Rein strukturell betrachtet habe ich den Eindruck, dass sich die offizielle Stadtpolitik zum Einsturz des Stadtarchivs verhält, wie die 50er Jahre zum Nationalsozialismus: Die eigene Schande wird nicht bearbeitet, sondern unter den Teppich gekehrt. Unter dem unmittelbaren Eindruck der selbstverschuldeten Kata­strophe wurde grundlegende Aufklärung und großzügige Kompensation versprochen, aber schon nach vier Jahren begannen die Ausflüchte, Mäkeleien und Einsparungen. Die strukturellen Fehlentwicklungen, die zum Einsturz führten, diese Nonchalance, mit der Verantwortung bis zur Unkenntlichkeit in Sub-Subunternehmen versickerte, muss aufgedeckt und beendet werden. Die geschädigten Nachlassgeber und alle Archivnutzer haben ein Recht auf ein funktionierendes Archiv in möglichst absehbarer Zeit.

 

Im Herbst 2012 schienen der Stadt die Tafeln dann zu prominent …

 

Das ist Ihre sehr freundliche Interpretation, vielen Dank! Die Stadt behauptete eine Verkehrsgefährdung entlang der Severinstraße, wo die »24 Sätze« zunächst hingen und lesende Menschentrauben verursacht haben sollen. Sie forderte ihre Abhängung, und ArchivKomplex wollte und konnte sich die Verantwortung für einen wie auch immer ausgelösten Unfall an der Stelle nicht in die Schuhe schieben lassen. Wir haben die Tafeln dann am 1. Februar 2013 mit großer Medienbegleitung gleich ums Ecke, am Anfang der Straße Georgsplatz neu installiert.

 

Ebenfalls als öffentlich aushängende Texttafel realisierten Sie in diesem Jahr Ihren Beitrag zum Caritas-Projekt »Erbarmen als soziale Form«. In blau auf weißer Emaille umreißt »Chinesische Teekannensprüche« das soziale Verhältnis von Geber und Nehmer.

 

Um bei der Wahrheit zu bleiben, ich habe die vier Sätze nicht der ehrwürdigen chinesischen Tradition entlehnt, sondern selbst formuliert. Aufmerksame Beobachter in der Kölner Caritas mussten in den letzten Jahren feststellen, dass die karitativen, immer häufiger auch ehrenamtlichen Bemühungen um die Verbesserung der sozialen Verhältnisse in Deutschland deutlich zunehmen, aber weitgehend ins Leere laufen. Die Armut nimmt trotz Wirtschaftsaufschwung zu. Das kann sozial engagierte Menschen nicht ruhen lassen, und so luden sie über das Diözesanmuseum 14 Künstler ein, überraschende und verquere Ideen zu der Problematik zu entwickeln.

 

Tatsächlich bezieht sich der Begriff »Chinesische Teekannensprüche« auf Peter Handkes Bewertung des Brechtschen Spätwerks. Ist der Titel nun eine Reminiszenz an Handke oder an Brecht?

 

An beide. Im aufklärerischen Impetus folge ich Brecht, finde aber Handkes Polemik so unverschämt treffend, dass ich sie 35 Jahre behalten habe. Mit dem Titel verfremde ich die etwas holzschnittartigen Sätze ironisch, nehme ihnen die Schwere, ohne die Produktivkraft ihrer Utopie zu schmälern … hoffe ich.

 

Was könnte die Arbeit bewirken?

 

Keine Ahnung. Ein Stolpern über vermeintliche Selbstverständlichkeiten, idealerweise. Das hängt sicherlich auch von dem Zusammenhang ab, in dem die Arbeit wahrgenommen wird. An der Georgstraße 5 hängt sie in ruhigem Ambiente allein auf einer langen Ziegelwand, bei IN VIA in der Stolzestraße im Hof gegenüber einem Restaurant, an der Venloer 277 mitten im Einkaufstrubel … Der Projektkurator Johannes Stahl hat mir von zwei interessanten Reaktionen erzählt: Ein gebildeter Liberaler nannte die Sprüche puren Kommunismus, und ein Linker klassischen Liberalismus. Beide fühlten sich offenbar angestoßen. Und ich muss sagen, in dem Feld fühle ich mich wohl.

 

Im zweiten Band Ihres Projekts »Fassade.Köln« nennen Sie die Baumärkte mit ihrem Angebot als die einflussreichsten Art-Direktoren der Stadt. Hat Kunst im öffentlichen Raum eine Chance, Anliegen zu transportieren?

 

Gegen die mehr und mehr stadtbildbestimmende Macht der Baumärkte mit ihrem Kampf um das billigste Angebot können individuelle Kunstprojekte natürlich nicht konkurrieren. Aber die Arbeiten von CityLeaks empfinde ich beispielsweise als ungemeine Bereicherung des Stadtbildes, in der Regel weit jenseits eines Eiapopeia. Und das allgemeine Bewusstsein ist auch kein Stein, der nur immer weiter sinkt. Im Begriff Mainstream steckt immerhin die Vorstellung einer Vorwärtsbewegung, und im Medienzeitalter kommt es gelegentlich zu erstaunlichen Multiplikationen.

 

Ihr aktuelles Buch »Köln vor dem Krieg: Leben Kultur Stadt 1880–1940« zeigt in alten Photographien Kölns Wandel zu einer Stadt der Moderne. Was ist von diesem Köln geblieben?

 

Wenig. Erst kam der Krieg und dann der gewandelte Geschmack, der viel erhaltene Substanz vernichtete und zu selten mehr als eine Verballhornung der klassischen Moderne zu bieten hatte.

 

Was unterscheidet Architekturfotografie von jenen Bildern, die das Portrait einer Stadt zeichnen?

 

Architekturfotos zeigen in der Regel affirmative Ansichten von meist neuen Bauten, sehr im Sinne eines attraktiven Bildes, weniger um die Gegebenheiten der Architektur bemüht. Dagegen gewähren Stadtportraits einen weiteren Blick, funktionieren erzählerischer, erfassen die Alterungen und die Verunstaltungen der Bauten mit, zeigen städtebauliche Gefüge, wahren einen anderen, auch inneren Abstand.

 

Die Bilder des aktuellen Kölns in den eben erwähnten Bänden zu »Fassade.Köln« zeigen ein ungeschminktes und keineswegs schmeichelhaftes Antlitz der Stadt. Was hat sich in den sieben Jahren seit dem Projektende getan?

 

Hier wurde eine Fassade neu gestrichen, dort eine Brandwand mit der fotografisch anmutenden Ansicht der Vorderfront verhängt. Also nichts Substanzielles. Jetzt wird östlich des Domchors eine neue Lösung probiert. Mal schauen, wie das wird. Aber der Durchgang zwischen Dombauhütte und Römisch-Germanischem Museum ist auch nach Jahren teils noch mit Gummimatten ausgelegt und abgesperrt, weil sich Dom und Stadt nicht über die Zuständigkeit einigen können. Eine Dauerzumutung statt eines würdigen Domumgangs.

 

Mich fasziniert, wie in Ihren Arbeiten, die sich auf Köln beziehen, ein nahezu archetypisches Paradox erscheint: Man kommt in der Kritik an der Stadt kaum zur Ruhe, aber man bleibt dennoch.

 

Tja, so ist das mit alten Sesseln. Sie wackeln, der Lack ist ab und die Polsterung müsste erneuert werden, man mag sie aber dennoch nicht aufgeben.

 

Was sind Ihre nächsten Pläne?

 

Nach dem Überraschungserfolg unseres Buches »Köln vor dem Krieg« arbeiten Wolfgang Vollmer und ich verschärft an dem Nachfolgeband, der zur Buchmesse 2014 erscheinen soll. Wie auch mit den genannten anderen Projekten, bemühen wir uns, das Verhältnis der Kölner zu ihrer Stadt zu entbratkartoffelisieren. Kölner sollten nicht so ein selbstbesoffenes Heimatgefühl pflegen, sondern ein durchaus stolzes, aber vor allem kritisches, aufgeklärtes, kenntnisreiches und heutigen Stadtproblemen angemessenes Selbstverständnis entwickeln. Nichts wird von alleine gut!

 

Info:

»Köln vor dem Krieg. Leben – Kultur – Stadt (1880–1940)«, Hg. Reinhard Matz mit Wolfgang Vollmer, 384 Seiten mit 425 Abbildungen, mit Texten u.a. von Leonard Ennen, Patrick Leigh Fermor, Ricarda Huch, Jules Huret, Emil Kaiser, Egon Erwin Kisch, Irmgard Keun, Joachim Ringelnatz, Hermann Ritter und Joseph Roth, Greven Verlag, Köln 2012, 49,90 €

 

matzfotografie.de