Möbel, Tiere, Sensatio­nen

Alte neue Zeichnungen der Rückver­zauberungsmeisterin Ruth Marten

 

Die 1949 in New York geborene Ruth Marten hat mindestens schon zwei Karrieren hinter sich. Eine als szeneberühmte Tätowiererin in den 70er Jahren und in den folgenden Dekaden eine als Illustratorin. Gleichzeitig schuf sie detailfreudige Zeichnungen, Malereien, die sich obsessiv dem Thema Haar widmeten. Haare, Locken, Pelz und Fell in aller Pracht und in großen Mengen finden sich auch in ihren seit einigen Jahren entstehenden speziellen Papierarbeiten. 

 

Die Van der Grinten Galerie zeigt als Deutschlandpremiere eine repräsentative Auswahl dieser handlichen Blätter. In ihnen erfindet Ruth Marten die Vergangenheit neu. Oder vielmehr: Sie entdeckt dort bislang Unbekanntes, Ungesehenes! Dazu macht sie sich mit feiner Feder über Bildmaterial vor allem des 18. Jahrhunderts her: Ihre Zeichengründe sind alte Gebrauchsgrafiken, Trödelmarkfunde, die dem Publikum damals zeigten wie die Wirklichkeit beschaffen ist (Tiere, fremde Völker) oder wie sie vorteilhafterweise aussehen könnte (Mode, Möbel). Marten versieht diese Kupfer- und Stahlstiche mit aufklärenden Anreicherungen, die nicht weniger als die ungeschminkte Wahrheit – so das kühn-ironische Versprechen des Ausstellungstitels »The Unvarnished Truth« – an den Tag bringen wollen. Mit Tusche und Schere bearbeitet Marten die alten Blätter, koloriert sie kunstvoll, nistet sich in diese Fremdbilder ein, unterwirft sich listig den stilistischen Vorgaben der Drucke, imitiert Linienführung und Formensprache perfekt, ergänzt, überzeichnet und kombiniert, bis das Alte im Neuen aufgeht und doch ganz und gar nicht neu erscheint, aber über-raschend, verblüffend ist.

 

Die Kunst Ruth Martens ist eine der Entgrenzung. Nicht allein Jahrhundertabstände scheinen hinfällig. Auch die Grenzen des Möglichen, Schicklichen, Glaubhaften werden erfreulich durchlässig. Die Fellzeichnung eines Tieres geht bruchlos über in einen fleckig gestirnten Nachthimmel, Paradiesvögel sind noch üppiger ge--schmückt als bislang bekannt, aus einem voluminösen Lockenknäuel ragen erst nur allerlei zierliche Nasen hervor, dann aber zeigt sich auch ein gut getarntes Portrait. Unter einem gelüpften Kleid verbergen sich mehr als nur ein paar Beine, und die von Marten geöffneten Schubladen antiker Möbel bergen Verheimlichtes, Unheimliches. Wie überhaupt Verstecke und Versteckspiele ein wesentliches Charakteristikum dieser abgründigen, aus der Zeit gefallenen Einladungen an die Schaulust sind.