»Oper ist extrem«

Schriftstellerin Helene Hegemann inszeniert im Palladium Oper als große Pop-Show

»Musik« ist eine hübsche Titel-Idee für ein Schauspiel und eine genial einfache für eine Oper: »Musik« hieß das Sittengemälde, dass der Wiener Skandalspezialist Franz Wedekind 1907 über die Liebe einer Gesangschülerin zu ihrem verheirateten Lehrer entwarf; »Musik« heißt auch die Oper, die Helene Hegemann geschrieben hat — und die sie im Dezember, als Gewinnerin der jüngsten Ausschreibung des »Fonds Experimentelles Musiktheater«, im Palladium aufführt. Keine Wedekind-Adaption, sondern nach Hegemanns Anspruch: eine Überschreibung. Die Musik stammt von Michael Langemann, das Konzept von der Dramaturgin Janine Oritz.

 

Mit ihrem Romandebüt »Axolotl Roadkill«, den sie vor drei Jahren mit gerade mal 18 Jahren ver-öffentlichte, erlebte Hegemann einen selbst für den nervösen Literaturbetrieb außergewöhnlichen Hype. Dieses Jahr erschien ihr neues Werk »Jage zwei Tiger«, sie hat bereits als Filmemacherin gearbeitet und fürs Theater inszeniert. »Musik« ist ihr Operndebüt. 

 

 

Frau Hegemann, wenn ich an moderne Oper denke, fällt mir eine Arbeit von Samuel Beckett und Morton Feldman ein, in der, glaube ich, 34 Worte vertont werden und es auch musikalisch buch-stäblich um Nichts geht. Oder John Cage, der in seinen »Europeras« Opernpartituren zerschnippelt und neu zusammengewürfelt hat. Das sind Arbeiten, die radikal die Form der Oper in Frage stellen.

 

Also Konzeptkunst.

 


Die Annahme ist: die Oper als große Erzählung ist an ihr Ende gekommen und wir können nur noch die Reste zusammenfegen.

 

Okay, aber das interessiert mich nicht. Mir geht es gleichermaßen um die Tradition sowie um das, was an Anarchischem noch in ihr steckt. Ich möchte Anarchie und Tradition miteinander versöhnen. Es geht nicht darum, ein Konzept als Konzept auszustellen und das dann abzufeiern. Sondern das, was wir an Brüchen und neuen Elementen wagen, soll mit größtmöglicher Plausibilität aufgeführt werden. Für Zuschauer soll dieses Aufeinandertreffen extremer Unterschied-lichkeiten in diesem Moment das Selbstverständlichste der Welt sein, erst dann können bestimmte Frage-stellungen neu verhandelt werden. Ein fast zu hoher Anspruch, aber eine gute Orientierung. Dabei sprengt die Einbindung von Pop-Elementen immer auch das typische Bild von Oper, schon klar. Aber das möchte ich nicht als Sensation herausstreichen. Auch die Kritik des Klischees wird schnell zum Klischee.

 

Was fasziniert Sie an der Kunstform Oper?

 

Oper ist extrem. Die Emotionalität, die frei gesetzt wird, ist extrem. Ich sitze in einer absolut konventionellen Inszenierung von »La Traviata«, vor mir sitzen zehn knallharte Managertypen, die so wirken, als hätten sie in ihrem Leben noch nie eine Emotion zuge-lassen und heulen alle miteinander wie Kinder. Weil es sie so berührt. Etwas größeres gibt es nicht. Ich habe solche Momente nicht nur in der Oper, sondern auch letztes Jahr auf der Tour von Madonna durchlebt. Konzerte als perfekte Inszenie-rung — diese Beobachtung war der Auslöser. Diesen Ansatz, diese Energie, die muss man mit »wirklicher« Oper zusammenbringen.

 


Von Madonna geht es für Sie historisch zurück zu Franz Wedekinds Sittengemälde »Musik«, einem Skandalstück von 1908.

 

Die Idee, sich an Wedekind abzuarbeiten, hatte meine Dramaturgin Janine Ortiz. Ich mochte den Plot extrem gerne, aber das Stück »Musik« als solches kam mir ziemlich verlabert vor, kann ich nicht anders sagen. Ich habe mich da regelrecht durchquälen müssen, aber die Struktur ist absolut Opern-kompatibel: die Personenkonstellation, die Fabel. Die emotionale Wucht, die bleibt im Original doch sehr implizit, von Emotionen wird zwar erzählt, aber wir erfahren sie nicht. In unserer Oper werden die Gefühlsausbrüche und die Entscheidungen der Figuren, denen sie folgen, explizit gemacht.

 


Was ist für Sie der Glutkern von »Musik«?

 

Die Story ist großartig: Gesangsschülerin verliebt sich in ihren Lehrer, zieht bei ihm ein, wird zweimal schwanger, macht also zweimal den gleichen Fehler, landet aus Liebe zu ihm und zur Musik im Knast und begibt sich der Intensität wegen in eine, meiner Meinung nach, bewusst gewählten Abwärtsspirale. Das wird aber auf der Handlungsebene gar nicht eingeholt — es wird in Dialogen nacherzählt. Was einfach langweilig ist. Und hinzukommt, dass Wedekind nicht viel mit seinen Frauenfiguren anzufangen weiß — der Held ist der Mann, der kommt mit seiner Geliebten und seiner Ehefrau zurecht und schafft es, ein Agreement zu erzielen. Alle starken Momente, die die Frauen in dem Stück haben, ihr Eigensinn und ihre eigenen Handlungen sowie ihr Verhältnis zueinander, bleiben bei Wedekind unterbelichtet. Deshalb ist unsere Oper keine Wedekind-Interpretation, sondern eine Überschreibung, wir durchdenken die Story komplett neu. Mit den Mitteln unserer Zeit: Wir fangen mit einer Art Casting an.

 


Wohin führt das Durchdenken?

 


Es ist ja kein Schicksal, wenn die Geliebte sich noch einmal auf den Lehrer einlässt und wieder schwan-ger wird. Warum verliebt sie sich ein zweites Mal? Das ist keine Naivität. Wenn er sie zu sich nach Hause nimmt und sie seiner Ehefrau vorsetzt, dann ist die doch nicht passiv und muss das halt schlucken. Sie entwickelt eine eigene — durchaus amourös besetzte — Beziehung zur Geliebten. Wenn man eine Dreiecksbeziehung darstellt, dann muss man konsequent auch alle drei Seiten zur Geltung bringen. Das geht schon in Richtung gefährliche Liebschaften.

 


Doch noch eine Frage zu Form: Schreiben Sie zu Noten?

 

 

Nein, das war ein Pingpong-Verfahren: Ich habe Texte abgeliefert ohne detaillierte musikalische Vorstellungen im Hinterkopf und höchstens ab und zu Youtube-Videos von David Bowie mitgeschickt, der Stimmung wegen, ha. Michael Langemann, der Komponist, hat dazu ein Konzept entwickelt, gemeinsam haben wir dann gefiltert: Was muss raus, was wird gesungen, was ist Sprechtext? Ein Teil der Musik ist Untermalung des Sprechtextes, das muss man sich wie Filmmusik vorstellen. Andererseits haben wir stundenlang miteinander gerungen, welche Worte man durch besser zu singende ersetzen kann. »Schrieb« kann man schlecht singen, aber finde mal den adäquaten Ersatz, das treibt einen zur Verzweiflung!

 

 

Sie haben sehr unterschiedliche künstlerische Formen bedient: Film, Roman, Theater, Blog. Gehen Sie jede Arbeit neu an? Oder stehen sie in einem engeren Zusammenhang?

 

 

In fast allem, was ich mache, gibt es naheliegenderweise eine extrem präsente Figur, die zwischen 17 und 21 und weiblich ist. Weil das die gesellschaftlich-biographische Position ist, über die ich am besten berichten kann. Da geht es nicht um meine Befindlichkeit oder meine Geschichte, sondern schlicht um das, was mir am nächsten ist. Ich könnte keine Geschichte aus dem Milieu der Kaufhausdetektive schreiben.

 

 

Ich möchte das noch mal genauer fassen: In Ihrem jüngsten Roman »Jage zwei Tiger« schildern Sie Entfremdungserfahrungen, die sich in extremer Disharmonie zwischen den Generationen ausdrücken. Die Grundkonstellation von »Musik« — dieser Generationenkonflikt, älterer Mann liebt seine jüngere Schülerin und stürzt sie ins Unglück — scheint mir doch in enger Nachbarschaft zu Ihrem Roman angesiedelt zu sein.

 

 

Es geht nicht um einen Generationenkonflikt. Die Liebe in »Musik« ist für die Liebenden selbst absolut plausibel. Die nehmen sich gegenseitig ernst — da existiert gerade keine Grenze zwischen den Generationen. Die Grenze liegt in den Subjekten selbst. Das ist auch in »Jage zwei Tiger« so — die Grenze zwischen den Generationen, zwischen Erwachsenen und Teenagern wird aufgehoben, nicht verstärkt.

 

 

Aber der Roman ist doch von einer kognitiven Dissonanz durchzogen: Allzu häufig bleiben die Eltern gegenüber ihren Kindern sprachlos, weil sie selber darin verstrickt sind, die Zumutungen ihrer Welt auszuhalten, was die Kinder als asozial ihnen gegenüber erleben.

 

 

Im Roman kommt es immer wieder zu Momenten, wo diese Lücke übersprungen wird und die Sprachlosigkeit schlagartig vorbei ist. Das Buch thematisiert eine Verzweiflung mit der Welt — oder über die Welt –, die nicht aufhört, nur weil man zwanzig Jahre älter ist. Wenn man sich eingesteht, dass man im Alter eigentlich nicht abgeklärter, ruhiger, distanzierter wird, sondern dass die Verzweiflung bleibt, wird man erst mal unsicherer und muss darüber reden — und dann gelangt man zu einer Aufrichtigkeit. In »Jage zwei Tiger« ist jeder anders verzweifelt, und jede Form der Verzweiflung ist gleichwertig. Die Protagonisten halten sich aber die Verzweiflung nicht gegenseitig vom Leib, sondern versuchen voreinander eine Ebene zu schaffen, gemeinsam mit ihr umzugehen.

 

 

Haben Sie an »Musik« und »Jage zwei Tiger« parallel gearbeitet?

 

 

In der Vorbereitungsphase zu Projekten arbeite ich meistens parallel, in der konkreten Arbeit dann nicht mehr. Aber es ist für mich immer gut, mehrere Projekte zu starten — komme ich mit einem nicht voran, mache ich mit dem nächsten weiter und wieder zurück, typischer Fall von Prokrastination. In der Arbeitsweise gibt es natürlich eine Parallele: Wenn ich mit meinem Hund in den Schreibpausen rausgehe, dann höre ich Musik, aufgedreht bis zum Anschlag, immer dieselben der Situation entsprechenden Songs, die verdichten sich zu einer bestimmten Stimmung, die ich brauche, um weiter zu schreiben. Mein Bezug zur Musik ist essentiell, aber nicht rhythmisch, sondern atmosphärisch und inhaltlich. Von der Musik übernehme ich den Gestus, den ich dann in Sprache übersetze.