Peripherie klingt gut

was steckt eigentlich hinter dem begriff weltmusik, mit dem viele vor allem hierzulande häufig nur hippies und folklore assoziieren? daniel bax bringt licht ins dunkel und berichtet über die globalisierung des Hörens.

Der Begriff hat viele Väter. Reichlich Stoff für Legenden und Konspirationstheorien bietet jedoch noch immer jener Sommertag vor nunmehr 14 Jahren, an dem sich in einem Pub in London eine Handvoll professioneller Musikenthusiasten _ Radiojournalisten, Musiker, Festivalveranstalter und Kleinlabelchefs _ zum Gedankenaustausch traf, um über eine zentrale Frage zu beratschlagen: Wie bloß sollte man jene Musik bezeichnen, welcher Oberbegriff ließe sich finden für all die obskuren Stile, für die man sich in jüngster Zeit so begeisterte _ für geschmeidige Soukous-Hits aus Zentralafrika, für den markanten Gesang bulgarischer Frauenchöre oder den verspielten Dangdut-Pop aus Indonesien?
Ein Etikett war notwendig geworden, um dieser Musik einen Platz in den Regalen der Plattenläden zu reservieren, und auch die Aufmerksamkeit eines breiteren Publikums auf diese Phänomene aus der Peripherie zu lenken. So kam, am 29. Juni 1987, das Wort in die Welt. Im Zweifelsfall: File under World Music. Dankbar wurde die Krücke von Medien und Musikindustrie angenommen. Denn es war jene Zeit, in der Paul Simon sein »Graceland« in Südafrika suchte und Peter Gabriel einen Sänger aus dem Senegal namens Youssou N’Dour im Vorprogramm seiner Welttournee erstmals einem erstaunten europäischen Publikum vorstellte. Und bald schon schoss eine Sängerin aus Israel, mit dem Popremix eines alten jementischen Volkslieds an die Spitze der Charts _ gefolgt von einem Griot-Sänger aus Mali, dessen technoid aufgepumptes »Yeké Yeke« zu einer der ersten Ravehymnen avancierte.
Auch wenn dieser erste Hype um die Weltmusik zunächst wie ein Strohfeuer wieder zu verglühen schien _ der Erfolg gab den Erfindern des Begriffs auch langfristig recht. Ohne das Etikett hätte es manch barfüßige Barsängerin von den Kapverden wohl nie auf die Konzertbühnen von Tokio, Toronto oder Tübingen geschafft. CDs mit Qawwali-Musik, die man sich vor 20 Jahren noch mühsam von Hippie-freunden auf vergilbten Kassetten in fragwürdiger Qualität auf dem Landweg aus Pakistan hätte mitbringen lassen müssen, findet man heute in jedem gut sortierten Plattenladen.
Doch noch immer wissen viele nicht so recht, was sie sich unter dem Allerweltsbegriff vorzustellen haben. Das liegt auch an dessen Beliebigkeit _ schließlich lässt sich unter Weltmusik im Prinzip alles subsummieren, was fremd und exotisch klingt, und nicht in die bekannten Sparten fällt. Das vereint letztlich völlig Unvereinbares: traditionelle Volksmusik aus der Sahelzone, hybridmoderne DJ-Projekte aus Brasilien oder auch im klimatisierten Studio gezimmerte, sterile Ethnofusionen. Stöbert man aber auf der anderen Seite des Globus, in Tokio oder Hongkong, einmal in einem Plattenladen, dann kann es schon mal passieren, dass man dort im Deutschlandfach der Weltmusikabteilung plötzlich auf eine Rammstein-CD stößt, auf ein Album von BAP oder der Kastlruther Spatzen. Es ist eben alles eine Frage der Perspektive.
Die dominierende Perspektive der Weltmusik ist aber eine westliche, oder, anders gesagt: eine europäisch-amerikanische. Denn in ihrer Heimat sind viele Weltmusik-größen wie Youssou N’Dour, Khaled oder der Brasilianer Carlinhos Brown schlicht das, was BAP oder Rammstein hierzulande sind: ganz gewöhnliche Popstars. Oder aber sie sind, wie die Fado-Sängerin Misia oder der Gitarrist Ali Farka Touré aus Mali, populäre Interpreten tradierter Musikgattungen, die aber anderswo meist einen weit höheren Stellenwert besitzen als das, was in Deutschland unter Volksmusik firmiert.
Doch damit man auch außerhalb ihres lokalen Wirkungsbereichs von ihnen Notiz nimmt, brauchen solche Künstler einen Mittler: Plattenfirmen in den Metropolen des Westens. Meist sind das kleine, rührige Independentlabels, die nicht mehr als eine Handvoll Mitarbeiter zählen. Einzelkämpfer, die sich als Entdecker und Förderer betätigen. Das gilt für den britischen Produzenten Nick Gold, der mit seinem Label »World Circuit« fast im Alleingang die Musik aus Mali und Kuba auf die Weltmusiklandkarte zu setzen vermochte. Im Katalog seines Kollegen vom »Stern’s«-Vertrieb in London, finden sich viele seltene Schätze afrikanischer Musik. Popintellektuelle wie David Byrne und Peter Gabriel, leisten sich mit ambitionierten Weltmusikverlagen ein kostspieliges Hobby und betätigen sich als Quasi-Mäzene. Und auch deutsche Unternehmen wie das »Piranha«-Label in Berlin, das »Network« in Frankfurt oder »Tropical Music« in Marburg haben dazu beigetragen, dass die Globalisierung der Hörgewohnheiten auch vor den deutschen Grenzen nicht Halt gemacht hat.
Einzig in Frankreich hat sich die Weltmusik, dort musiques du monde genannt, mehr als nur eine Nische erobern können. Musiker aus Afrika, der Karibik und Algerien sind hier keine exotischen Zaungäste mehr, sondern erstzunehmende Größen. Mit sicherem Gespür für kommende Trends, Marketing-geschick und Geld haben es die großen französischen Plattenfirmen vermocht, regionale Stars wie Khaled oder Angelique Kidjo zu Global Players aufzubauen. Und so, wie die equipe tricolore bei der letzten Fußball-WM mit Hilfe ihrer eingebürgerten Spieler den Weltmeistertitel gewann, so erspielte sich Frankreich mit Hilfe seiner eingekauften Stars die Marktführerschaft in Sachen Weltmusik. Es ist deswegen kein Zufall, dass viele der heute namhaftesten Weltmusikstars ihren Weg über Paris gegangen sind: Salif Keita und Cesaria Evora, Cheb Mami und Youssou N’Dour, auch Manu Chao und Femi Kuti verdanken ihren Erfolg den Standortvorteilen, die Paris zu bieten hat. Aber auch der bosnische Filmmusikkomponist Goran Bregovic und der türkische Sänger Tarkan nutzten die Stadt an der Seine als Sprungbrett, um weltweit Karriere zu machen.
Doch außerhalb der Konzernzentralen von Paris gilt im Geschäft mit der Weltmusik nach wie vor, was der Berliner Musikjournalist Peter Pannke schon vor sechs Jahren einmal fest gestellt hat: »Das Risiko wird von Enthusiasten auf sich genommen, die es sich eigentlich nicht leisten können. Das einzige, was die fünf großen Majorfirmen tun, ist, sich auf der sicheren Seite zu wiegen und noch eine Didgeridoo-CD zu produzieren, wenn ihnen klar wird, das alle anderen es bereits im Jahr davor gemacht haben«.
Pannkes Analyse erfuhr vor zwei Jahren ihre Bestätigung. Kaum hatte ein kleines Independentlabel aus London kubanische Klassiker restauriert, und mit diesem Liebhaberprojekt einen Überraschungscoup gelandet _ befördert von Wim Wenders Dokumentation, setzte sich der »Buena Vista Social Club« sogar für mehrere Wochen an die Spitze der deutschen Albumcharts _ da machten sich gleich die Agenten der multinationalen Plattenkonzerne auf, die Archive in Havanna zu plündern und den Markt mit Kuba-Compilations zu überschwemmen. Die Musikkonzerne verhalten sich im Umgang mit Weltmusik nicht anders als im Umgang mit anderen Genres: Sie springen auf den Trend, wenn der schon längst in Fahrt ist, und reiten ihn zu Tode.
Musiker von der Popperipherie, die auf der Suche nach Anerkennung im Westen sind, müssen Kompromisse in Kauf nehmen und sich bis zu einem gewissen Grad an den Geschmack ihres potentiellen Publikums anpassen. Nur wenigen ist eine Karriere zu eigenen Bedingungen vergönnt. Senegals Superstar Youssou N’Dour ist ein Beispiel dafür. Nach einem anfänglichen Misserfolg bei einem großen Musikkonzern hat er seine letzten Platten allesamt auf eigene Faust produziert und ist damit sehr gut gefahren. Von den Erlösen seiner Karriere hat er sich im Senegal ein festes Standbein geschaffen: Er besitzt das bestausgerüstete Studio Westafrikas, und mit seinem »Jololi-Label« protegiert er Talente wie den Sänger Cheikh Lo, der in die Fußstapfen seines Gönners tritt. Jedes Jahr veröffentlicht Youssou N’Dour im Senegal eine neue Kassette. Im Westen musste man allerdings fünf Jahre warten, bis er sich nach seinem Welterfolg »Womatt« wieder mit einem neuen Album speziell für den internationalen Markt zurück meldete. Den ungeschliffenen Hardcore-Mbalax, den Youssou N’Dour auf seinen Kassetten oder bei Auftritten in seinem eigenen Nachtclub in Dakar zum Besten gibt, enthält er seinen westlichen Hörern vor. Zu komplex und zu fremd sei der, glaubt er. Lieber glättet er seine Musik zum Hochglanzpop, um Überforderungen zu vermeiden.
Meist ist es aber gerade eine Alternative zum Pop, die im Westen gefragt ist. Denn hier herrscht vor allem ein großes Bedürfnis nach eher traditionellen, möglichst »authentischen« Klängen. Das erklärt etwa die Popularität der Musik aus Mali _ der erdige Blues eines Ali Farka Touré oder die warmen pentatonischen Melodien einer Oumou Sangaré sind Balsam für die Seelen gestresster Großstadtbewohner. Die Bedürfnisse vor allem dieser Mittelschichtklientel bestimmen, welche Musik im Westen überhaupt veröffentlicht wird. Denn trotz Globalisierung und Internet, weltweiter Vertriebskanäle und kurzer Informationswege: Die nichtanglophonen Musiken der Welt gelangen noch immer nur über Umwege auf den europäischen Markt, nicht selten mit erheblicher zeitlicher Verzögerung und fast unabdingbar in neuer Verpackung. Genau deswegen ist die Kategorie »Weltmusik« immer noch kein Einfallstor, sondern bestenfalls ein Nadelöhr für Musikstile aus aller Welt. Vor allem Musikern aus Afrika und Lateinamerika kam der Terminus zugute, während Asien etwa im Großen und Ganzen ein weißer Fleck auf der Landkarte geblieben ist. Zu fremd darf »Weltmusik« eben nicht klingen, und auch nicht zu vulgär. Urban moderne Stile wie südafrikanischer Kwaito-House, türkischer Pop oder chinesische Karaokeschlager bleiben deshalb außen vor.
Es ist sicher kein Zufall, dass gerade die aktuelle Musik aus industrialisierten Schwellenländern wie Mexiko, Südafrika, Indien, China oder Indonesien nur selten im Weltmusikverzeichnis auftaucht _ ihr kommerzialisierter Klang widerspricht wohl zu sehr dem westlichen Bedürfnis, das die fremden Klanglandschaften gerne als unberührte Inseln der Seligen sehen möchte: als lustige Tropen.
Doch auch wenn sie oft touristische Bedürfnisse bedient: Weltmusik hat Bedeutung, und sie erzählt Geschichten, von Aneignung und Widerstand, von Migration und postkolonialer Renaissance des Lokalen. Letztlich ist sie, wie Christoph Borkowsky, Chef des Berliner »Piranha«-Labels es formuliert, der Soundtrack der Globalisierung.
In Deutschland tragen Radiosender wie Berlins Multikulti-Welle des SFB und das Funkhaus Europa des WDR in Köln zur Popularisierung bei. Ansonsten verbreitet sich Weltmusik zu einem großen Teil durch Mundpropaganda.
In anderen deutschen Medien findet Weltmusik kaum statt. Während sich in England Musikmagazine wie Q, WIRE und Straight No Chaser längst auch der Weltmusik widmen, scheint es in Deutschland noch auffällige Berührungsängste zu geben. Dass man hier beim Wort Weltmusik offenbar noch immer an Folklore denkt, sagt allerdings mehr über weit verbreitete Vorurteile aus als über die Musik selbst. Und die Unwilligkeit, sich damit zu beschäftigen, reicht weit: Selbst in den jüngsten Standardwerken deutscher Pop-theorie _ von Martin Büssers »Popmusik« über den »Mainstream der Minderheiten« bis zu »Sound Signatures« von Jochen Bonz _ kommt das Stichwort nicht vor. Aus ideologiekritischer Distanz ignoriert man die fremde Welt der Weltmusik.
Es scheint, als ob der gleiche Begriff, der zahlreichen zuvor marginalisierten Musikern den Weg in Plattenregale und Radiosendungen geebnet hat, gerade in der deutschen Musikpresse ein Akzeptanzproblem hat. Doch ein anderer ist nicht in Sicht _ außer, jemand beruft bald ein neues Treffen in jenem Pub in London ein.