Großer kleiner Bruder

TV im Kino: Zum 13. Mal präsentiert die Cologne Conference die besten fiktionalen und dokumentarischen Fernsehformate aus aller Welt

Vor genau 50 Jahren kam in den USA »The Robe« in die Kinos. Ein bombastischer Sandalenfilm, in dem sich ein zynischer römischer Tribun (Richard Burton) durch den Gewinn von Jesus’ Kreuzigungsgewand bei einem Würfelspiel zum frommen Märtyrer wandelt. Der Film wäre längst vergessen, hätte mit ihm nicht eine technische Neuerung in die Filmgeschichte Eingang gefunden, die großen Einfluss auf die Ästhetik des Kinos der nächsten Jahrzehnte haben sollte: das Cinemascope-Verfahren. Das neue Breitwandkino war ein Abwehrversuch des verunsicherten Hollywood gegen den Erfolg des kleinen, quirligen Bruders Fernsehen. Eine klare Grenze sollte gezogen werden zwischen dem Ereignis auf der Kinoleinwand und der täglichen Berieselung durch die Bildröhre im Wohnzimmer.
50 Jahre später kann dieser Versuch wohl als gescheitert betrachtet werden. Die Grenzen sind auf allen Ebenen – technisch, ökonomisch, künstlerisch – verwischt worden. Das Fernsehen hat in den letzten Jahren aufgerüstet. Im Wohnzimmer hängt der 16:9-Flachbildschirm an der Wand, aus den Boxen tönt Dolby-Surround-Sound, DVD hat grobkörnige analoge Videobilder ersetzt. Für das Home-Entertainment Center produziert Hollywood TV-Serien wie »Band of Brothers«, ein 125-Millionen-Dollar-Weltkriegsepos von Steven Spielberg und Tom Hanks.
Auf der anderen Seite finden auf Digital Video gedrehte Billig-Filme seit dem Erfolg der Dogma-Bewegung zunehmend ihren Weg in die Kinos. Und ökonomisch hängt nicht nur in Deutschland die Filmwirtschaft seit Jahren am Tropf der Produktions- und Fördergelder der Fernsehanstalten. Die besten deutschen Regisseure wie Christian Petzold, Dominik Graf und Andreas Dresen arbeiten für Fernsehen und Kino, und häufig entscheidet sich erst nach Drehschluss, ob eine TV-Produktion auch im Kino ausgewertet wird – wie zuletzt etwa Dresens »Herr Wichmann von der CDU«.

Wagemutige ausländische Produktionen

Dass die Cologne Conference im Rahmen des Medienforums seit einigen Jahren Fernsehproduktionen aus aller Welt auf der großen Leinwand präsentiert, ist also nur folgerichtig. Zumal gerade die besten Produktionen aus den USA nur noch schwer den Weg ins deutsche Fernsehen finden – nicht zuletzt weil sie häufig wagemutiger sind als die Kinoware Hollywoods. Von den us-amerikanischen Highlight der Cologne Conference des letzten Jahres, »24«, »Six Feet Under« und »Band of Brothers«, war bislang noch nichts im deutschen TV zu sehen. Die Rechte an »Band of Brothers« sind den deutschen Fernseheinkäufern zu teuer, »Six Feet Under«, eine Serie, in deren Mittelpunkt eine reichlich dysfunktionale Bestattungsunternehmer-Familie steht, ist ihnen zu morbid, sie wird nur auf Premiere laufen. »24« war zunächst für RTL, dann für Vox im Gespräch und soll nun im September beim Schmuddel-Sender RTL II laufen. Auch wenn Hollywood die Kinoleinwände dominiert, im TV bevorzugen die Deutschen Hausmannskost.
Das Programm der diesjährigen Cologne Conference zeigt erneut, dass herausragende und innovative Produktionen am hiesigen TV-Zuschauer vorbeigehen. Etwa die 13-teiligen NBC-Serie »Boomtown«. Pro Folge geht es um einen Kriminalfall aus L.A., der aus einer Vielzahl von Perspektiven rekonstruiert wird. Verbrechen, Politik und Privatleben vermischen sich in einer kaleidoskopischen Erzählung, die ein L.A. jenseits von Melrose Ave. und Sunset Strip zeigt, aber auf Hardboiled-Klischees verzichtet. Urbane Apokalyptiker wie Mike Davis dürften ihre Freude an der Serie haben.
»The Wire«, eine ebenfalls 13-teilige Produktion des ökonomisch und künstlerisch gleichermaßen erfolgreichen Pay-TV-Kanals HBO, verfolgt am Beispiel der Stadt Baltimore von allen Seiten – Cops, Mafia, Richter, Anwälte, Dealer, Kunden – den so genannten Krieg gegen die Drogen. »Du kannst diesen Scheiß noch nicht mal Krieg nennen«, lässt einer der Detectives seinen Frust ab. »Warum nicht?«, fragt sein Kollege. Die lakonische Antwort: »Kriege haben ein Ende.«

Der ganz normalen Wahnsinn des Bürolebens

Das Fernsehen ist schneller als das Kino: »The Wire« lief im Mai letzten Jahres an, reflektiert aber bereits die Folgen der Anschläge vom 11. September. Die Polizisten klagen mehrmals, dass aus ihrer Abteilung Leute abgezogen wurden für einen anderen Krieg ohne Aussicht auf ein Ende und einen Sieg: den »war against terror«.
Brillieren die Amerikaner mit Spannung und kunstvoll verschachtelten Parallelhandlungen, liegen die Stärken britischer Produktionen weiterhin im Realismus und Humor. »The Office« etwa gibt sich den Anschein einer Dokumentation: wackelige Handkamera, Interviews, verstohlene Blicke in die Kamera. Doch welcher Dokumentarfilmer würde sich schon für den ganz normalen Alltag in einer ganz normalen Firma interessieren? »The Office« zeigt genau das, den ganz normalen Wahnsinn des Bürolebens: Eifersüchteleien, Angst um den Arbeitsplatz und einen Chef, der gerne gütiger Herrscher wäre, aber nur ein kleines, profilneurotisches Arschloch ist. »Ich habe eine Atmosphäre geschaffen«, bauchpinselt er sich selbst in einem der vorgetäuschten Interviews, »in der ich in erster Linie ein Freund bin, erst in zweiter der Chef und in dritter wohl ein Entertainer«. Über die missglückten »practical jokes« des Chefs können seine Untergebenen nicht lachen, der Zuschauer allerdings um so mehr.
Aufgenommen wurde die unaufwändig hergestellte Serie auf Digital Video, im Breitwandformat.

Info:
Die Cologne Conference findet vom 20. bis 25.6. im Komed, Filmhaus und den Rheinterassen statt, alle Filme werden im Original gezeigt; Produktionen, die nicht in Deutscher oder Englischer Sprache gedreht wurden, haben englische Untertitel! Termine im Tageskalender, im beiliegenden Programmheft und unter www.cologne-conference.de.