Die Warnungen der paranoiden Verschwörungstheoretiker, die sich bisher nur andere para­noide Verschwörungstheoretiker freiwillig angehört hatten, wurden noch übertroffen | Foto: willma ... / photocase.com

Spinner, Spanner und Spione – Das Ende der Idylle

Seit Edward Snowden wissen wir: Die staatliche Überwachung ist nahezu total. Doch die Proteste halten sich in Grenzen. Auch, weil das Bewusstsein für Privatsphäre in der Bevölkerung schwindet

Frank Rieger ist Sprecher des Chaos Computer Clubs. Seit 14 Jahren spricht er auf dem jährlichen Hackerkongress des Clubs am Jahresende mit seinem Kollegen Ron über die »Security Nightmares«, also die Sicherheitsalbträume des vergangenen Jahres. Die beiden Experten versuchen vorauszusehen, welche Ereignisse in Sachen Datensicherheit uns im kommenden Jahr erwarten. Dieses Mal eröffneten sie ihren Talk beim »Chaos Communication Congress« in Hamburg mit der Frage »Wer von Euch ist nur wegen Snowden hier, also als Katastrophentourist?« Und als es darum ging, die Situation der IT-Sicherheit seit dem vergangenen Sommer zusammenzufassen, zeigten sie als Antwort das Foto einer weißen Fahne — als Zeichen der Kapitulation. Aber aufzugeben, kann keine ernsthafte Option sein. Und wenn es an den Skandalen, die Edward Snowden aufgedeckt hat, etwas Gutes gibt, dann vielleicht, dass sie einen Anlass geben, das Grundrecht auf Informationelle Selbstbestimmung wieder stärker einzufordern.

 

Die Generalversammlung der Vereinten Nationen hatte den Schutz der Privatsphäre bereits 1948 in die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte aufgenommen. In Artikel 12 heißt es: »Niemand darf willkürlichen Eingriffen in sein Privatleben, seine Familie, seine Wohnung und seinen Schriftverkehr oder Beeinträchtigungen seiner Ehre und seines Rufes ausgesetzt werden. Jeder hat Anspruch auf rechtlichen Schutz gegen solche Eingriffe oder Beeinträchtigungen.« Im selben Jahr schrieb George Orwell seinen Roman »1984«.

 

1983, gewissermaßen ein Jahr vor der von Orwell befürchteten Überwachungs-Dystopie, sollte nach den Bestimmungen des Volkszählungsgesetzes eine Total­erhebung der Einwohner der BRD durchgeführt werden. Die Volkszähler sollten von Tür zu Tür gehen und mit jedem Bürger einen Fragebogen ausfüllen. Wenn sie dabei einen »Illegalen«, also nicht gemeldeten Einwohner aufspürten, sollten die Volkszähler in München zum Beispiel 2,50 DM Kopfprämie für jeden nicht gemeldeten Deutschen verdienen; für einen nicht gemelde­ten Ausländer sollte es das Doppelte geben. Nicht nur aus diesem Grund, sondern auch wegen des umfangreichen Fragebogens regte sich 1983 breiter Widerstand. Schließlich legten die Gegner der Volkszählung erfolgreich Verfassungsbeschwerde ein. Und wenige Tage bevor das Orwell-Jahr 1984 begann, wird mit dem sogenannten Volks­zäh­lungs­urteil ein Meilenstein des Datenschutzes in der BRD gelegt. Das Recht auf »informationelle Selbstbestimmung«, so die Formulierung im Urteil, wird in der BRD seitdem als Grundrecht betrachtet. Ein unverzichtbarer Bestandteil der Persönlichkeitsrechte und der Menschenwürde.

 

Ausgerechnet dieses Recht auf informationelle Selbstbestimmung nannte der CSU-Politiker Hans-Peter Uhl in einem Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Zeitung im Oktober des vergangenen Jahres, quasi dem Jahr Snowden Zero, im Zusammenhang mit der Überwachungsaffäre »eine Idylle aus vergangenen Zeiten«.  

 

Um das Ausmaß der Überwachung der Bevölkerung darzustellen, hätte man bis vor einem Jahr offizielle Zahlen und Statistiken zu Überwachungsmaßnahmen durch den Staat zusammengetragen. Doch seit bekannt wurde, dass vor allem britische und US-amerikanische Geheimdienste spätestens seit 2007 die Telekommunikation und insbesondere das Internet weltweit und verdachtsunabhängig überwachen, spielen diese Zahlen keine Rolle mehr. Die Auswertung und teilweise Veröffentlichung einiger streng geheimer Dokumente des US-amerikanischen Geheimdienstes NSA (National Security Agency) durch die britische Tageszeitung The Guardian löste im Sommer eine Welle von Enthüllungen aus, die selbst die schlimmsten Befürchtungen noch in den Schatten stellten. Die brisanten Dokumente hatte der Guardian von einem ehemaligen technischen Mitarbeiter der NSA erhalten — Edward Snowden.

 

Bis heute kommen immer mehr Details eines bei­spiel­­­­losen globalen Überwachungsskandals ans Licht. Der in diesen Tagen wieder oft bemühte Roman »1984« scheint von der Wirklichkeit eingeholt worden zu sein. Die Warnungen der paranoiden Verschwörungstheore­tiker, die sich bisher nur andere paranoide Verschwörungs­­­theore­tiker freiwillig angehört hatten, wurden noch ­übertroffen. Wer hätte vorher an jene Operationen und Projekte geglaubt, an deren Namen wir uns nun schon fast gewöhnt haben? Mit »Prism« greift die NSA syste­matisch auf die Daten von Facebook, Skype, Google etc. zu, während der der britische Nachrichtendienst GCHQ den Internetverkehr mit »Tempora« abschöpft. Die NSA ­sammelt außerdem mit »Co-Traveller Analytics« die Standortinformationen aus dem Mobilfunk und wertet sie aus, und mit »Trac­­fin« werden Finanzdaten, z.B. Transaktionen der Kreditkartenunternehmen, von der NSA analysiert. Aber die Kontrolle bezieht sich nicht nur auf digitale Daten. So wird der gesamte Postverkehr des United States Postal Service im Rahmen des Programms »Mail ­Isolation Control and Tracking« fotografiert und in eine Datenbank eingespeist.

 

Heute, im Jahre eins nach Snowden, wissen wir, dass es aber nicht nur die Drei-Buchstaben-Dienste aus Übersee oder hinter dem Ärmelkanal sind, die uns überwachen, mitlesen, belauschen, uns analysieren. Viele andere, darunter die deutschen Nachrichtendienste, fischen mit im großen Datenteich, aus dem allein die NSA täglich 29.000 Terabyte abschöpft und überwacht.

 

So monströs das Ausmaß ist — es ist die Aufgabe eines Geheimdienstes, Informationen zu sammeln. Sie sollen es den Regierenden ermöglichen, sich ein Bild der Lage zu verschaffen und nötigenfalls rechtzeitig und besonnen handeln zu können. Innerhalb dieser Logik ist es notwendig, dass die eigenen Absichten und Kenntnisse verborgen bleiben. So liegt es also auch in der Natur der Sache, dass die Dienste mit ihren Erfolgen nicht an die Öffentlichkeit treten können. Das ist auch im internationalen »Krieg gegen den Terror« so. Zwar wurde geraunt, wie viele Anschläge durch die Überwachung verhindert worden seien. Nachprüfen lässt sich das aber nicht. Und vor wenigen Wochen kam eine von US-Präsident Barack Obama eingesetzte Expertengruppe zu dem Schluss: »Informationen, die dem Telefon-Metadaten-Programm [der NSA] zugeschrieben werden, waren nicht wesentlich für die Verhinderung von Terroranschlägen.«

 

Die massenhafte Schnüffelei und Vorratsdatenspeiche­rung im staatlichen Auftrag sind aber nur die eine Sache. Auch viele Bürger scheinen kaum noch ein Bewusst­seins für das Grundrecht auf Privatsphäre zu haben. Überwachung und Bespitzelung sind längst zu einer Art Volkssport geworden, zumal die Überwachungstechnik für Privatpersonen erschwinglich geworden ist. Der Katalog eines großen Online-Versandhauses bietet in der Kategorie »Überwachungstechnik« mehr als 6000 Einträge, darunter Krawatten, Brillen oder Kugelschreiber mit eingebauten Kameras, außerdem GSM-Abhörwanzen, Keylogger zur unauffälligen Aufzeichnung von Tastatur­eingaben und vieles mehr. Auch mit Kameras bestückte Drohnen gibt es dort »ready to fly« schon für knapp 100 Euro zu kaufen. Die spätestens seit der Lidl-Affäre 2008 immer wieder in den Medien auftauchenden Berichte von versteckten Überwachungsmaßnahmen am Arbeitsplatz, wie zum Beispiel im selben Jahr auch im Kölner Schauspielhaus, sind nur die Spitze des Eisbergs. Offenbar ist nicht nur den staatlichen Schnüfflern der Respekt vor dem Menschenrecht auf Privatsphäre abhanden gekommen.

 

Auf dem »Chaos Communication Congress« Ende Dezember gab es neben NSA und Snowden noch viele weitere Themen. Zum Beispiel die Gefahren und Fähigkeiten von »Google Glass«, einem Minicomputer in Brillenform, der zum Elektronik-Trend des Jahres 2014 werden könnte. Mit »Google Glass« kann der Brillenträger unauffällig die Umgebung aufnehmen und auf einen Google-Server übertragen. Und auf diesen hat, wie wir seit Snowdens Enthüllungen über das Prism-Projekt wissen, mindestens die NSA freien Zugriff. Privatpersonen und die staatlichen Nachrichtendienste würden so letztendlich Hand in Hand arbeiten.