Bettina Flitner (Jg. 1961) lebt und arbeitet in Köln und Berlin

»Das ist ein in sich geschlossenes Universum«

Bettina Flitner hat im Stuttgarter »Paradise« Freier fotografiert

Alle reden über Prostitution, und das heißt in der Regel: Alle reden über Prostituierte. Aber wie ticken eigentlich die Freier? Diese doch ganz nahe liegende Frage stand zu Beginn der Fotoreportage, die die Kölner Fotografin und Journalistin Bettina Flitner im Februar 2013 für zehn Tage ins Stuttgarter Paradise führte. Neben dem Kölner Pascha ist es das bundesdeutsche Vorzeigebordell, im Gegensatz zum Laufhaus Pascha aber inszeniert es Betreiber Jürgen Rodluff als Wellness-Oase. Rodluff gibt sich in der Öffentlichkeit betont liberal und offen und hatte somit nichts da­gegen, dass Bettina Flitner ihre Reportage im Paradise fotografieren wollte — mit dem Ergebnis war er dann aber nicht glücklich. Die Foto­strecke erschien 2013 zuerst im Stern.

 

Was war Ihr erster Eindruck, als Sie mit Ihrer Reportage begannen?

 

Ich saß in der Lobby dieses »Wellness-Bordells« und wartete auf den Presse­sprecher, um mir bei einer ersten Besichtigung das Haus zeigen zu lassen. Und da hatte ich schon gleich den ersten Schock: Die Frauen waren alle nackt, nur mit Highheels und einer Hand­tasche bekleidet.

In der Lobby stehen also nackte Frauen, und treffen dort auf Männer in dicken Winterjacken. Das ist schon mal ein vollkommen surreales Bild. Bereits in der Lobby fängt das Taxieren an, die Fleischbeschau. Der nächste Tag war dann mein erster Arbeitstag im Puff. Ich habe mich, als einzig ange­zogene, zwischen allen nackten Frauen an die Theke gestellt und die Kunden des Hauses angesprochen. Das war am Anfang ziemlich hart. »Hallo, ich mache für den Stern eine Fotoserie über Freier, hast du vielleicht Lust mitzumachen?« Wie man sich vorstellen kann, lief es sehr zäh an?... Es hat viele Tage gedauert, bis die ersten Männer bereit waren mitzumachen. Ich habe mich dann oft lange mit ihnen unterhalten, manchmal zwei, drei Stunden. Habe sie einfach erzählen lassen. Viele Männer, mit denen ich mich unterhalten habe, haben gesagt, dass es eigentlich traurig ist, was sie da machen. Das hat mich überrascht.

 

Traurig?

 

Ja. Manchmal gingen die Freier gar nicht mit den Frauen aufs Zimmer, sondern haben sich einfach nur in dieser Atmosphäre der möglichen Käuflichkeit aufgehalten. Und darum geht es doch — die Käuflichkeit der Frauen und nicht so sehr der reine Sex. In einem Bordell herrscht eine komplette Scheinwelt, in der alles möglich ist, und alles, was eine Beziehung oder einen normalen menschlichen Umgang ausmacht, ist kaputt. Das ist ein in sich geschlossenes Universum. Der Freier bietet fünfzig Euro an, dann fällt ihm ein, er will ja noch ins Gesicht abspritzen, also legt er noch mal einen Schein drauf, und vielleicht noch ein Extra. »Alles klar?« »Alles klar!« Das hat ja nichts mit einer Beziehung zu tun, in der sich Intimität und sexuelle Vorlieben entwickeln. Ich habe diese Atmosphäre im Bordell, diese Stimmung und den Umgang miteinander als völlig »falsch«, auf den Kopf gestellt empfunden.
Sie haben darauf geachtet, dass unter den Männern, die sich fotografieren ließen, alle Altersstufen vertreten sind. Spiegelt das auch die Realität wider? Ja, tatsächlich, bei den Männern im Bordell waren alle Altersstufen vertreten von 23 Jahren bis 73. Einer hat mir erzählt, er sei mit 17 Jahren das erste Mal im Bordell gewesen. Bei dem hatte ich den Eindruck, dass er zu keiner normalen Beziehung mehr fähig ist, der hat sich vollkommen daran gewöhnt, dass man sich körperliche Nähe kauft und dass man in diesem Moment völlig über die Frau bestimmen kann. Der will gar keinen Austausch mehr, der über diese Angebot-Nachfrage-Beziehung hinausgeht. Ich verstehe es sogar, wenn die Männer sagen, ich will einfach nur Sex, keine Anbahnungsgespräche, kein Beziehungsstress. Verstörend ist die Selbstverständlichkeit, mit der sie davon ausgehen, dass sie für ihren Wunsch einfach nur einen Geldschein hinlegen müssen.

 

Wenn Sie mit einem Freier zwei Stunden geredet haben, schüttet der einem wohl nicht einfach sein Herz aus, sondern will ein bestimmtes Bild von sich vermitteln, gerade in dieser künstlichen Atmosphäre des Paradise. Wie kann man in so einer Situation noch zwischen Schein und Wirklichkeit unterscheiden?

 

Was heißt in diesem Zusammenhang Wahrheit? Genau das wollte ich doch herausfinden, wie die Männer ihre Motivation, ihr Verhalten darstellen. Manche haben sehr ehrlich geredet, aber bei anderen kommen Worthülsen, die sich irgendwann wiederholen: Ich bin anders als die anderen Freier, die sind dreckig und stinken, ich verhalte mich immer korrekt, bin frisch geduscht und höflich zu den Frauen. Dann: Bei mir macht es den Frauen Spaß, ich merke, wenn die Frauen einen Orgasmus bekommen. Nun, die Aussteigerinnen, mit denen ich mich später unterhalten habe, haben mir allesamt erklärt, wie perfekt sie den Orgasmus mit jeder Faser ihrer Körpers simulieren können. Es kommt allerdings auch manchmal vor, dass sich die Männer in die Frauen richtig verlieben. Sie wollen sie aus dem Sumpf rausholen, das Samariter-Prinzip.

 

Sie mussten ein paar Tage ausharren, ehe sich die ersten Freier fotowillig zeigten. Sind Sie in der Zeit mehr mit den Frauen in Kontakt gekommen?

 

Das war schon allein sprachlich ein Problem. Der Anteil der Frauen, die Deutsch gesprochen haben, war verschwindend gering, ich habe fünf getroffen, von insgesamt hundert bis hundert­fünfzig Frauen. Viele konnten auch kein Englisch. Ganz zum Schluss bin ich mit einigen von ihnen in Kontakt gekommen, eine hat plötzlich und ganz unvermittelt zu mir an der Bar gesagt: »Ich hatte zehn heute, nur Schwänze, Schwänze, Schwänze. Ich kann nicht mehr!« Das war so ein Moment, in dem ich die Realität der Frauen in dieser Scheinwelt gestreift habe. Keine Frau sagt von sich aus — und dann auch noch gegenüber einer Journalistin —, dass das ein Scheißjob ist, der sie fertigmacht, keine erzählt von Kotzattacken und Duschzwang. Das verbietet die Selbstachtung. Und es untergräbt ja auch ihre Geschäftsgrundlage. Die Freier wollen die Illusion, dass es auch den Frauen Spaß macht.
In Illusionen wiegt sich auch die Berichterstattung, in der die Prostituier­ten häufig entweder als absolute Opfer oder aber als wagemutige Vorreiterinnen innovativer Dienstleistungen verklärt werden. Das Problem ist, in diesem Milieu wird viel gelogen. Das gehört zum Geschäft. Ich habe eine Frau kennengelernt, die sich mir gegenüber als Domina ausgegeben hat, ihre Wohnung war auch dementsprechend eingerichtet. Sie würde heute völlig selbstbestimmt arbeiten, hat sie mir versichert, sie ließe sich schon lange nicht mehr anfassen. Dann ergab es sich, dass ich um die Ecke ihrer Wohnung war und einfach mal geklingelt habe, um »Hallo« zu sagen, sie hat mir geöffnet und stand splitternackt vor mir. In dem Moment war mir klar, dass sie auch weiterhin als normale Prostituierte arbeitet. Sie wollte sich vor mir anders darstellen, ein ganz verständlicher Selbstschutz.

 

Und das war für Sie der Aha-Effekt?

 

Da gab es viele. Immer wenn ich abends das Bordell verlassen habe, standen vor der Tür so rasierte Köppe, bullige Typen. Ich dachte am Anfang ganz naiv, das ist bestimmt der Sicherheitsdienst. Am letzten Tag hat mir ein Mitarbeiter des Bordells gesteckt: Du weißt schon, dass die Frauen hier ausnahmslos alle ihre »Freunde« haben, die draußen auf sie warten?! Und auf meinen fragenden Blick hat er präzisiert: »Na, Zuhälter!« Das sind dann ihre Freunde, Verwandte, Brüder, Cousins. Die Frauen müssen sich abstrampeln, um überhaupt die Kosten für das Zimmer das sie anmieten, die Verpflegung, die Steuerabgaben hereinzubekommen. Dafür brauchen sie auch in so einem »Edelbordell« schon mal mindestens drei Freier. Am Abend übergeben sie das Geld an Zuhälter oder Familie. Das angeblich so leicht verdiente Geld fließt nur durch sie durch, und am Ende landen fast alle dieser Frauen in der bittersten Armut.

 

Von Bettina Flitner gibt es zahlreiche Buch­publikationen und Ausstellungen seit 1988. Im Internet ist sie zu erreichen unter bettinaflitner.de