Weniger Lärm

Willem Breuker, Komponist, Saxofonvirtuose und Free-Jazz-Dissident, bewahrt mit seinem Willem Breuker Kollektief die große Musiktradition des 20. Jahrhunderts: Eisler, Weill, Gershwin und Morricone. Ein Porträt von Max Annas

Am 10. Januar dieses Jahres kamen in Frankfurt mehr als 30 Musikerinnen und Musiker zusammen, um dem in November verstorbenen Bassisten Peter Kowald letzte Töne zu widmen. Auf der Bühne trafen sich in unterschiedlichen Konstellationen jene Leute, die im Europa der 60er Jahre den Jazz in eine andere musikalische und politische Ästhetik überführt hatten: Alexander von Schlippenbach, Peter Brötzmann, Keith Tippett, Han Bennink und andere.
Alle hatten über Jahre hinweg mit Kowald gespielt. Einer fehlte allerdings in Frankfurt: Willem Breuker. Der Saxofonist und Komponist aus Amsterdam teilt sich die Meriten zwar mit den anderen und hatte vor allem in den 60er Jahren oft mit Kowald gespielt. Aber er saß gerade an der Fertigstellung eines aufwändigen Kompositionswerks, der Vertonung von Murnaus Faust-Film aus dem Jahre 1926, die im Februar dann in Paris uraufgeführt wurde.
Dem nomadenhaften Leben von Peter Kowald, der immer unterwegs war und auf zahllosen Aufnahmen zu hören ist, steht Breukers musikalische Biografie entgegen. Was er auch immer getan hat, Amsterdam blieb seine Basis, sein Willem Breuker Kollektief besteht seit fast 30 Jahren, und sein zweites Label BVHAAST gibt es beinahe so lange wie die Band. (Das Label ICP – Instant Composers Pool – hatte er Anfang der 70er Jahre verlassen, weil es mit seinem Kollegen, dem Pianisten Misha Mengelberg, Differenzen gab. Breuker wollte Melodien und Geschriebenes, Mengelberg mehr Improvisation.) In den letzten Jahren waren die Alben Breukers und seines Labels hierzulande kaum präsent in den Läden. Jetzt, nach einem Vertriebswechsel, soll alles besser werden.
Wer ihre letzte CD einlegt, hört vertraute Klänge: Klavier, Schlagzeug und Bass geben ein paar Töne vor, nicht viel mehr als ein rhythmisches und tonales Fundament. Dann folgt eine Breitseite der beiden Posaunen, die die zwei Trompeten nur wenige Takte so stehen lassen, um ihrerseits den Versuch zu unternehmen, das andere Blech niederzuringen. Fast flüchtig wirken dagegen die Versuche der drei Saxofone, friedlich erzählend gegen die hell klingende Wand. Stop: Das Trio vom Anfang ist wieder unter sich, einige Takte, bevor die Saxofone endgültig so etwas wie eine melodische Anführerschaft übernehmen. »Hap Sap« eröffnet das Album »Misery«, das Kollektief covert das Kollektief, denn der Track ist ursprünglich von 1984. Solche Stücke hatte man aber auch schon früher hören können, Mitte der 70er Jahre. Der erste Eindruck also wirkt vertraut. Er täuscht aber, denn wenig ist so wie vor 20 oder 30 Jahren.
Willem Breuker, Jahrgang 1944, hat eine Jugend in einem proletarischen Viertel Amsterdams erlebt, blieb von Rock’n’Roll unbeeindruckt und komponierte seine ersten Tracks zu Beginn der 60er Jahre. Er war bei den frühen Experimenten und Aufnahmen der gesamtwesteuropäischen Jazzszene dabei: 1967 bei Schlippenbachs Globe Unity Orchestra, 1968 bei den grundlegenden Aufnahmen der Brötzmann-Combo »Machine Gun« und »Fuck de Boere«, die den Faktor Politik ins Spiel brachte, und dann 1969 bei »The 8th of
July« von Gunter Hampel. Eine Aufnahme, auf der sich mit Hampel und der Sängerin Jeanne Lee, Breuker und dem späteren Kollektief-Bassisten Arjen Gorter, dazu Anthony Braxton und Steve McCall von der Chicagoer Free-Jazz-Vereinigung AACM drei Fraktionen trafen, um auszuprobieren, ob die freie Kommunikation auch im Studio umgesetzt werden konnte. Herausgekommen ist dabei eine der spannendsten Platten dieser Zeit, auch eine der leisesten, die Zurückhaltung ist heute noch spürbar.
Lärm nennt Breuker den Sound dieser Zeit fast ernst und weist darauf hin, dass er damals viel mehr Töne gespielt habe als heute. Er verweist auf das Jahr 1974 als Wendepunkt. Das Ende von Free Jazz, der Beginn des Kollektiefs – die Geschichte des Musikers Willem Breuker fängt von Neuem an. Das Kollektief ist eine Combo von zehn MusikerInnen, eine Größe, die sich nur selten änderte. Die Beständigkeit der Besetzung ist erstaunlich. Viele sind schon seit mehr als 20 Jahren dabei, der Trompeter Boy Raaymakers und Arjen Gorter gar seit den ersten Tagen. Dem Namen misst Breuker keine große Bedeutung bei, irgendeiner musste schließlich gefunden werden, aber finanziell funktioniert das Kollektief tatsächlich als Kollektiv: Alle verdienen gleich viel.
Die Abkehr vom Free Jazz dokumentierte sich in Vielem, über die Jahre hinweg am deutlichsten in der Bearbeitung von Musik anderer Komponisten. Neben den Arbeiten Breukers stehen vor allem drei Namen im Zentrum: Weill, Eisler und Gershwin. Für Breuker sind das die Komponisten, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Grundlagen geschaffen haben, auf der die heutige Musik aufbaut. Kaum ein Album, auf dem nicht wenigstens einer der drei auftaucht. Ein ähnlich enges Verhältnis hat Breuker noch zum Filmkomponisten Ennio Morricone, dem er mit »Morribreuk« 1987 auch ein Stück widmete. Und den aus der Karibik stammenden Reginald Foresythe, der in den 30er Jahren Musik für ungewöhnliche Holzbläserensembles schrieb, adaptiert er auch regelmäßig. Allein schon, um ihn nicht dem Vergessen zu überlassen. Was man allen Bearbeitungen Breukers anhört, ist dessen fanatische Freude beim Hören von Musik. Und die Achtung vor der Arbeit anderer.
Zum Geist des Respekts, aus dem heraus diese Bearbeitungen entstehen, gehört die Ernsthaftigkeit, mit der das Kollektief sich und ihrem Publikum kleine Freuden am Rande macht. Typisch dafür ist das vor 20 Jahren oft gespielte »Ases Death« aus Griegs Suite »Peer Gynt«, zu dessen Ende die Musiker in kollektives Schluchzen ausbrachen. Schließlich war jemand gestorben. Der Humor, auch Teil von Breukers eigenen Stücken, ist aber nie ein simpler Gag. Da werden auf Platte wie im Konzert Da Capos abgebrochen oder vermeintlich logische Dinge angedeutet, aber nicht gespielt. Mitunter endet ein ernsthafter Solobeitrag in einer ganz anderen musikalischen Sprache, wird vielleicht zur Schnulze. Wer darüber noch lacht, wird nur überrascht sein, mit welcher Konzentration das Kollektief eine Ballade vorträgt, wie auf »Misery« Hoagy Carmichaels Klassiker »My Resistance is low« von 1951. Das singt der Chef dann selbst. Das alles prägt auch die Auftritte des Kollektiefs. Die Band verlässt bis heute gern mal geschlossen den Raum, mit Instrumenten und musizierend, versteht sich. Während eines Auftritts auf dem Kölner Roncalli-Platz wurde daraus Mitte der 80er Jahre ein echter Ausflug durch die Fußgängerzone – zur gehörigen Irritation der Tüten schleppenden Konsumbürger am Samstagnachmittag.
Breukers Werk und seine Bedeutung enden hier noch nicht. Er hat für zahlreiche Kinofilme den Score geschrieben, so für Jos Stelling (»Der Illusionist«) oder George Sluizer (»Drei Frauen«). Maßgeblich war Breuker in den Niederlanden daran beteiligt, die öffentliche Subvention für Jazzmusiker als selbstverständlich durchzusetzen. Im Rahmen dieser Bemühungen wurde auch die Amsterdamer Jazzbühne BIMHuis etabliert – ein Konzerthaus von MusikerInnen für MusikerInnen.
Sicherlich ist das Kollektief auch heute noch eine Jazzcombo, Breuker lehnt den Begriff auch nicht ab. Prinzipiell schreibt er Partituren, in denen seine Leute Raum finden sollen um zu improvisieren. Sein Ziel ist, dass man auf einem Album gar nicht hört, was geschrieben und was improvisiert ist. Wobei ihm natürlich entgegenkommt, dass er sein Ensemble in- und auswendig kennt. Der »Faust« allerdings ist komplett durchkomponiert. Und mit ein bisschen Glück im Herbst oder nächstes Frühjahr auch in Deutschland zu sehen und zu hören.
Über den Vertrieb Sunny Moon sind derzeit 57 BVHAAST-Alben zu haben, neben Jazz auch Klezmer und Neue Musik. Darunter vierzehn von Willem Breuker und seinem Kollektief. Die Aufnahmen mit Alexander von Schlippenbach, Peter Brötzmann und Gunther Hampel sind erschienen auf Unheard Music Series, FMP und Birth Records und z.B. über den Kölner Laden Parallel Schallplatten zu beziehen.