Gleißendes Licht in schwärzester Nacht

Im Mittelpunkt des diesjährigen Kölner Acht-Brücken-Festivals

steht der Komponist György Ligeti. Sein Werk versöhnt nüchterne Avantgarde und tiefe Sinnlichkeit

Ein hundertjähriger Greis liegt in einem Bett, er atmet flach, leicht bäumt er sich auf, seine Hand hebt sich langsam, auf etwas vor sich zeigend, etwas was ihn zutiefst zu beunruhigen scheint. Vor seinem Bett steht ein schwarzer Block, ein übermannshoher Monolith, der das Licht des weißstrahlenden Raums um ihn herum absorbiert und wie ein Gravitationsfeld alles in sich ­hineinsaugt.

 

Dem Kinofreund wird diese Szene bekannt vorkommen, es ist das Finale des metaphysischen Bildepos »2001 — Odyssee im Weltraum« von Stanley Kubrick aus dem Jahre 1968. Spektakuläre Bilder, die in Bann zu schlagen verstehen. Auf der Tonspur ist in diesem Moment nichts zu hören als Atmen. Aber zuvor haben die Zuschauer einen knapp zehnminütigen Bilderrausch von psychedelischer Computer-Op-Art mit einem buchstäblich ohrenbetäubenden Soundtrack erlebt: dem Stück »Atmosphères« von 1961 des ungarisch-österreichischen Komponisten György Ligeti. Man hat es hier gleichsam mit einem der ersten Musikvideos zu tun, die Sequenz funktioniert auch herausgelöst aus dem Film. Die wie ein exorbitanter Drogentrip inszenierte Reise des Astronauten durch Raum und Zeit illustriert die Musik Ligetis fast passgenau, auch wenn das Kubrick naturgemäß anders herum gesehen hätte. Die Geschichte, dass der Kinogroßmeister den noch wenig bekannten Komponisten nicht um Erlaubnis gefragt hat, dessen Musik im Film benutzen zu dürfen, und Ligeti nach einem Rechtsstreit nur lächerliche 3000 Dollar zugesprochen bekam, ist oft erzählt worden. Kubrick mag ein in zwischenmenschlichen Angelegenheiten problematischer Zeitgenosse gewesen sein, seine Einschätzung aber, dass Ligeti ihm dankbar sein sollte, da er ihn und seine Musik einem breiten Publikum bekannt gemacht habe, ist nicht ganz von der Hand zu weisen.

 

Ob der Film nicht auch als Vehikel für eine großartige Musik verstanden werden darf? Diese Frage kann man durchaus stellen. Ligetis Musik ist jedenfalls auch ohne diese populäre Schützenhilfe einem in der Avantgarde ungeübten Zuhörer zugänglich und unmittelbar sinnlich erfahrbar. Wie wenigen anderen Komponisten der Neuen Musik gelingt es Ligeti zwischen abstrakten, hochkomplexen Kompositionstechniken und einem geradezu körperlich spürbaren Ausdruck zu vermitteln.

 

György Ligeti wird 1923 in Siebenbürgen geboren, seine Vita ist zutiefst mit den Katastrophen des zwanzigsten Jahrhunderts verknüpft: Seine halbe Familie wird in den Konzentrationslagern der Nazis ermordet, Mitte der 50er Jahre flüchtet er vor stalinistischer Kulturpolitik in den Westen, mittellos, im Gepäck nur Bartóks Musik und den Wunsch, Schönbergs Zwölftontechnik kennenzulernen. Mit deren Fortentwicklungen, der seriellen und der elektronischen Musik, kommt er im Februar 1957 in Köln durch Karlheinz Stockhausen und Gottfried Michael Koenig in Berührung, ein einschneidendes Erlebnis für den jungen Komponisten. Die Möglichkeiten elektronischer Klangerzeugung weisen ihm den Weg — seine Ende der 50er Jahre entwickelte Kompositionstechnik der Mikropolyphonie fußt auf der Idee der Materialdurchformung bezüglich aller musikalischer Parameter wie Tonhöhe, -dauer, Lautstärke und Klangfarbe.

 

Was sich aber aus den dem Laien nur schwer nachvollziehbaren Techniken der strukturellen Komposition bei Ligeti entwickelt, ist eine Musik, die den Hörer gleichsam am Schlafittchen packt. Hört man seine Hauptwerke aus den 60ern, treibt der Sound einem zuverlässig den Puls hoch. In »Atmosphères« erzeugen die an- und abschwellenden Riesencluster eine flirrende Musik, die keiner linearen, motivisch-narrativen Entwicklung folgt, sondern ein sich stetig verändernder Mahlstrom dunkel leuchtender, kristalliner Klangbilder ist. Schließt man die Augen, sieht man gleichsam Polarlichter, vor und zurückweichende, gleißende Lichtvorhänge in schwärzester Nacht. Das ist großes Ohrenkino, das eines Kubricks nicht bedarf. Die atemstockende Wirksamkeit dieser mikropolyphonen Komposition zeigt, dass Ligeti bei aller Begeisterung für die Beherrschbarkeit des Klangmaterials der romantisierende Zauber nicht fremd ist — so nah kommen sich eine mathematisch nüchterne Avantgarde und Stimmungsmacher vom Schlage eines Richard Wagners oder Anton Bruckners selten. Dementsprechend ist auch die Rezeptionsgeschichte Ligetis skandalarm, bei der Premiere des Stücks soll das Publikum Zugabe gefordert haben. Das Orchester musste noch einmal zu der düsteren Abfahrt ansetzen.

 

Anders als seine Kollegen, die sich in jener Zeit in Scharmützeln untereinander, sowie mit Kritikern und Publikum erschöpfen und sich dabei häufig in ihrer Arbeit hermetisch und abweisend zeigen, schafft es Ligeti schon früh, sich einem großen Publikum verständlich zu machen. Und das ohne künstlerische Kompromisse zu machen. Nach nicht minder großartigen, ebenso publikumswirksamen wie -fordernden Klangfarbenkompositionen wie dem »Requiem« (1963-65), »Lux aeterna« (1966) und »Lontano« (1967) arbeitet sich Ligeti zu einer Musik vor, die sich immer weiter öffnet und gleichzeitig gängigen Kategorien widersetzt. Ligeti findet mit dem Ende der 60er Jahre zu sich selbst, sein (Um-)Weg liegt in der Fusionierung seiner Wurzeln mit der westlichen Avantgarde. Er arbeitet immer mehr mit kleinen Instrumentarien und Besetzungen, Kammermusikalisches erhält Vorrang vor Orchestralem.


Im Jahr 1976 schreibt er nach der Beendigung von Arbeiten für seine Oper »Le Grand Macabre« das Klavierstück »Monument — Selbstportrait — Bewegung«, das in Köln uraufgeführt wird. Ein Stück, in dem er sich in andere Zusammenhänge stellt: Anfang der 70er hatte er in Kalifornien Steve Reich und Terry Riley kennengelernt und seine Nähe zum amerikanischen Minimalismus entdeckt. Die vorurteilsfreie Auseinandersetzung mit zeitgenössischen Komponisten, das lebendige Netzwerk, das zwischen grundverschiedenen Systemen geknüpft wird, ist typisch für seinen kosmopolitischen Stil. Ligeti, der unmittelbar die menschenverachtende Ideologie der Nazis, die Kulturpolitik der Stalinisten und die Hegemonialdiskurse der Serialisten erfahren hat, kann nur jede Dogmatik ablehnen. Zu dieser Offenheit passt Ligetis Interesse an dem Outsiderkomponisten Conlon Nancarrow (musikalisch ebenfalls auf dem Acht-Brücken-Festival vertreten). Er spricht von »Liebe auf den ersten Blick« und wird ein großer Förderer des bis dahin in selbstgewählter Isolation lebenden Kauzes aus der mexikanischen Wüste.

 

Seine Auseinandersetzung mit südostasiatischer und afrikanischer Musik führt Liegeti schließlich zur Polyrhythmik. Das 1978 geschriebene Stück »Hungarian Rock« für Cembalo etwa gebärdet sich wie ein Improv-Jazzrock-Monster. Das Cembalo erinnert an die Gitarre Derek Baileys oder den Postrock von David Grubbs. Dank des Acht-Brücken-Festivals kann man sich darauf freuen, wie sich diese Kompositionen des 2006 in Wien verstorbenen Komponisten zu den Pop-Entwürfen von Kreidler, ­Monolake oder den Deathjazzern Bohren & Der Club of Gore verhalten wird.