Foto: Manfred Wegener

»Man muss sich wie beim Schulausflug fühlen!«

Ein Gespräch mit dem Stadtführer Boris Sieverts über die Angst vor Peinlichkeit, Überforderung als Konzept und natürlich den Kölner Dom

Seit 1997 veranstaltet Boris Sieverts mit seinem Büro für Städtereisen Führungen in der städtischen Peripherie, im Niemandsland der Moderne. Zwischen Industriebrachen, wilden Müllkippen und Autobahnzubringern entdeckt er Schönes und Abseitiges und teilt diese Eindrücke mit der Reisegruppe. Mit seinen akribisch choreografierten ­Touren zeichnet er Bilder, die Landschaft dient ihm als Material. Bevor er seine Führungen anbot, studierte der 1969 geborene Boris Sieverts an der Düsseldorfer Kunstakademie und arbeitete anschließend als Schäfer in Frankreich sowie in Architektur- und Stadtplanungsbüros in Köln. Im rechtsrheinischen Köln veranstaltete er auch seine ersten Führungen; seither hat er unter anderem im Ruhrgebiet, in Marseille, Paris und Leipzig gearbeitet. Über seine Tour durch die Warschauer Peripherie drehte die Regisseurin Christine Büchner den Dokumentarfilm »Warschau Frankenstein«, der kürzlich in Kino und Fernsehen zu sehen war.

 

Herr Sieverts, wer über Ihr »Büro für Städtereisen« eine Tour bucht, landet meist irgendwo am Stadtrand. Woher kommt Ihre Faszination für Randlagen? Man kann nur dort erfahren, wie eine Stadt wirklich ist. Das Zentrum ist lediglich die gute Stube, in der die Stadt zeigt, wie sie gerne wäre. Es ist wie in einem Haushalt des 19. Jahrhunderts: Wenn man eine Familie wirklich kennenlernen wollte, musste man erst mal in die Küche, die Waschküche oder das Schlafzimmer gehen. Am Ende wird dann auch die gute Stube interessant, weil natürlich  auch die Diskrepanz zwischen dem, wie eine Stadt wirklich ist, und dem, wie sie gerne wäre, ganz viel erzählt.

 

Wie wollen Städte denn sein? Gibt es da so große Unterschiede? O ja! Französische Städte zum Beispiel sind dadurch geprägt, dass der »französische Traum« seinen Ort nicht in der Stadt hat, sondern auf dem bürgerlichen Landsitz. Das macht französische Städte für mich nicht uninteressanter, im Gegenteil: Besonders an den Stadträndern treibt dieses unbewusste Programm Blüten, die die Stadtlandschaft zu einem sehr schillernden Gebilde machen. Der Kölner wohnt vergleichsweise entschieden und bewusst in der Stadt. Eine Million Einwohner sind ja nicht viel, dafür ist Köln schon sehr städtisch. Im Gegensatz etwa zu Düsseldorf, einer Stadt ähnlicher ­Größenordnung. Das Spannende an Düsseldorf ist seine Ruhrgebietsseite.

 

Sie haben an der dortigen Kunstakademie studiert, waren aber unglücklich?... Sehr unglücklich, und das hing durchaus mit der Stadt zusammen. Aber ich habe lange gebraucht, um das zu kapieren. Immer, wenn ich nach Köln kam, um Freunde zu besuchen, fragte ich mich: Suche ich erst eine Wohnung und hole dann meine ­Koffer, oder andersrum?

 

So schlimm? Allerdings. Ein Bekannter von mir hat es auf den Punkt gebracht: Köln war immer eine Stadt, in der es um Lebensentwürfe ging. Man denke nur an die Hausbesetzungen in den 70er und 80er Jahren oder heute noch die Sozialistische Selbsthilfe. In Düsseldorf geht es dagegen um Oberflächen, um die Frage, wie etwas aussehen oder sich anfühlen soll. Der Ratinger Hof oder die Toten Hosen zum Beispiel, die sind wie ein Punk-­Poster. Mich hat das wahnsinnig gemacht, ich hatte das Gefühl, ich kann nichts greifen. Erst später konnte ich das auch als Qualität verstehen, denn es kann ja total ­legitim sein, an Oberflächen zu feilen. Durch diese Sicht habe ich meinen Frieden mit Düsseldorf gemacht.

 

Mit der Oberfläche ist es in Köln so eine Sache. Vor ein paar Wochen hat sich der IHK-Präsident Paul Bauwens-Adenauer im Kölner Stadt-Anzeiger über das Stadtbild beschwert, seither empören sich mal wieder viele über die Hässlichkeit der Stadt. Dass Herr Bauwens-Adenauer als Präsident der IHK die Stadt gerne geleckter hätte, ist normal. Ein Skandal ist, dass der Stadt-Anzeiger dem Mann diesen Raum gibt. Die Diskussion steht genau dem entgegen, was ich zu vermitteln versuche. Wenn ich einen Gegenspieler benennen müsste, dann hieße er womöglich Bauwens-Adenauer.

 

Er sagt, die Kölner hätten keine Haltung zum Aussehen ihrer Stadt. Ja, er meint, der Kölner sei nicht lässig, sondern nachlässig. Was mich an der Haltung von Bauwens-Adenauer stört, ist, dass er die Stadt nicht aus ihren ei­genen Qualitäten heraus betrachtet, sondern von ­glo­balisierten Kriterien ausgeht. Alles muss auf den ­ersten Blick schön und gefällig sein. Ich war mal einge­laden bei der IHK, um meine Bilder von Köln zu zeigen. Man dachte dort, ich würde ins selbe Horn stoßen und die Hässlichkeit der Stadt anprangern. Ich sagte dann, Köln sei eine zerklüftete Stadt — und genauso, wie zerklüftete Landschaften reizvoll seien, könne man auch eine zerklüftete Stadt schön finden. Den Begriff der Zerklüftung hat Bauwens-Adenauer aufgenommen und danach noch mehrfach verwendet. Im anklagenden Sinne, aber ich finde, letztendlich macht er der Stadt damit immer ein Kompliment.

 

Finden Sie denn, dass Köln seine Eigenart als zer­klüftete Stadt mehr zur Geltung bringen sollte? Nicht grundsätzlich. Was ich erreichen will mit dem Aufzeigen von Eigenarten, ist ein genaueres Hinsehen und das Ergreifen der Chance, aus dem, was man dann findet, etwas zu entwickeln, statt etwas darüberzustülpen. Es gibt aber auch Eigenarten, bei denen ich sagen würde: typisch Köln, aber ich würde es trotzdem ändern. Zum Beispiel die alte Dom­treppe, die war ja typisch Köln in ihrer Verbautheit. Trotzdem finde ich die Domtreppe  besser, wie sie jetzt ist.

 

Eigenschaften, die man gemeinhin mit Köln in ­Ver­bindung bringt, lassen sich nur schwer in Archi­tektur übersetzen: Leutseligkeit, Lebensfreude. Ja, Köln de­finiert sich wenig über seine Gestalt. Was bestimmt auch mit dem Dom zusammenhängt, der eine so starke Gestalt ist. Allein schon, dass du ihn von ganz weitem wahrnimmst. Wenn ich von Berlin komme, durch die brandenburgische Einöde fahre, nach sechs Stunden Fahrt in Köln ankomme und dann von der ­Mülheimer Brücke den Dom sehe, denke ich manchmal: Reicht ja auch irgendwie. Was braucht eine Stadt mehr als so eine Super-Nadel in der Mitte? Es wäre interessant, was passieren würde, wenn man den Dom für zwanzig Jahre wegnehmen würde. Da kämen ganz andere Themen auf.

Die StadtRevue hat ja schon vor acht Jahren gefordert, dass der Dom weg muss. Ja, das fand ich gut! Der Katho­lizismus spiegelt sich strukturell in der Stadt: Es ist nicht so wichtig, was du im Leben machst, solange Du zur Heiligen Jungfrau betest. Der Kern der Sache zeigt sich nicht im Alltag, sondern in Ausnahmeerscheinungen.

 

Sie haben eine Anleitung zum Bereisen von Städten ­verfasst. Darin schreiben Sie unter anderem: »Riskieren Sie peinliche Momente«. Gibt es die häufig auf Ihren Führungen? Es sind oft sehr persönliche Sachen, die ich da sage. Orte zu erleben hat etwas mit Gefühlen zu tun. Die sind manchmal so widersprüchlich, komplex oder blöd, dass es peinlich ist, darüber zu sprechen. Aber da muss man durch. Und manchmal findet man dann irgendwann Formulierungen, die nicht ausweichen, aber trotzdem nicht peinlich sind. Dann hat man es im Zweifelsfalle geschafft, an den Orten die Qualitäten zu benennen, die diese Gefühle auslösen, und dann hat man etwas wirklich Verhandelbares. 

 

Kommt es nicht trotzdem vor, dass die Menschen auf Ihren Stadtführungen überhaupt nicht verstehen, was Sie meinen? Davor habe ich jedes Mal totale Angst. Kurz vorher denke ich immer: Gleich gehst du mit denen da lang, und die gucken dich an wie ein Auto! Und dann haben sie noch den ganzen Tag Zeit dafür geopfert und Geld bezahlt. Das setzt mich unter Druck. Letztendlich ist es diese Angst, die mich hart arbeiten lässt. Tatsächlich vorgekommen ist es aber erst einmal. Das war eine Tour im Ruhrgebiet für zwei Journalistinnen, da ist der Funke überhaupt nicht übergesprungen. Ich habe in ihren Gesichtern lesen können: Was machen wir hier? Ich war so unglücklich! Und dann mussten sie und ich noch den ganzen Tag zusammen durchhalten! Seit­dem mache ich keine Führungen mehr für so kleine Gruppen. Die Mindestgröße ist acht, sonst kommt dieses Reisegruppen-Gefühl nicht auf. Man muss sich wie in einer Pauschalreise-Gruppe fühlen. Oder wie beim Schul­ausflug.

 

Weil es um das Gruppenerlebnis geht? Wenn man in einer Reisegruppe unterwegs ist, nimmt man automatisch an, dass alles, was man sieht, sehenswert ist. Das trägt nicht den ganzen Tag, aber am Anfang habe ich immer das Gefühl, die haben schon einen solchen Spaß daran, in dieser Konstellation loszulaufen, dass ich die jetzt überall lang führen könnte.

 

Im Film »Warschau Frankenstein« sieht man, wie Sie sich mit einer Reisegruppe bei strömendem Regen ­heillos im Wald verlaufen. Manche Teilnehmer haben vor lauter Verzweiflung ihre Eltern angerufen und sich abholen lassen. Ist Ihnen das öfter passiert? Manchmal gehe ich kleine Details falsch. Aber so richtig verlaufen habe ich mich nur dieses eine Mal. Das war ­heftig, diese Überforderung war nicht geplant. Es regnete in Strömen und meine Notizen für den Weg durch den Wald waren so durchnässt, dass ich sie nicht mehr lesen konnte.

 

Aber die Teilnehmer ein bisschen zu überfordern, gehört schon zum Konzept? Ja. Es geht in jeder Hinsicht darum, Grenzen zu erweitern und zu überschreiten, also auch die persönlichen Grenzen. Manche Leute sind sofort drin in der Tour, anderen fällt es schwerer, reinzukommen. Aber spätestens, wenn sie die erste Mauer überklommen haben, obwohl sie vielleicht ungelenkig sind oder dick oder alt, sind sie drin. Vorher sagen sie: Nein, ich schaff das nicht, aber dann schaffen sie es doch! Die Überforderung kann ein icebreaker sein. Sie schafft eine neue Offenheit, weil die Leute für einen kleinen Moment aus sich herausgehen, in dem sie zum Beispiel irgendwo herunterspringen müssen.
An diese Aspekte haben Sie vermutlich nicht gedacht, als Sie Ihre erste Stadtführung geplant haben. Im Gegenteil, ich dachte: Scheiße, jetzt müssen die Leute da runterspringen, das ist ja unangenehm. Aber es geht halt nicht anders, wir müssen da lang! Auch jetzt ist es nicht so, dass ich extra den beschwerlicheren Weg suche, aber wenn ein kleines Hindernis kommt, zum richtigen Zeitpunkt, am besten am Anfang, dann bekommt das seinen festen Platz in der Dramaturgie.

 

Sie wollen Menschen dazu bringen, genauer hinzusehen. Empfehlungen leiten Sie daraus nicht unbedingt ab. Für einen Ort sind Sie aber doch zum Aktivisten geworden: den Kalkberg zwischen Buchforst und Kalk. Warum? Ich fände es verkehrt, jede zufällig entstandene städtebau­liche Konstellation, die man irgendwie reizvoll findet, festschrei­ben zu wollen. Aber manche dieser Konstella­tionen sind so gut oder markant oder extrem, dass sie aufgenommen werden müssen in den Kanon der erhaltenswerten Güter. So etwas ist der Kalkberg, und zwar wegen seiner Freiraum-Qualitäten, in jedem Sinne des Wortes. Wenn ich da oben bin, kriegt keiner mit, was ich tue, ich habe die Spontan-Vegetation, also diesen Wildwuchs, ich kann ein Feuer machen, ich trete mit einer fast schockierenden Plötzlichkeit aus der Kontrolle der bürgerlichen Stadt heraus und das alles vor einem unglaub­lichen Panorama! Das fühlt sich ein wenig an, wie wenn man ans Meer kommt.

 

Auf dem Kalkberg wird trotz Ihrer Proteste eine Station für Rettungshubschrauber gebaut. Warum engagieren Sie sich trotzdem weiter dagegen? Wir haben mit der Bürgerinitiative nicht nur das Ziel verfolgt, die Hubschrauberstation zu verhindern, sondern auch, den Ort ins Bewusstsein bringen und Freude an ihm zu haben. Der Berg bleibt ja zu zwei Dritteln unbesetzt und soll auch zugänglich bleiben. Es wäre schön, wenn das nicht die Stadt mit einer stinknormalen Parkplanung über­nehmen würde, sondern eben die Leute, die in all den Jahren zu Experten für diesen Berg geworden sind. Es gab schon in den 70er Jahren Bestrebungen, den Berg öffentlich zu machen. Im Laufe von 40 Jahren sind viele gute Ansätze zusammengekommen.

 

Zuletzt waren Sie viel im Ausland unterwegs, etwa in Warschau, aber auch in Marseille anlässlich der Ernennung zur Kulturhauptstadt. Ist Köln für Sie aus­gereizt? Es gibt den Spruch, dass mit jeder Antwort, die man ­findet, tausend neue Fragen auftauchen. So geht es mir mit Köln. Ich erfahre immer mehr, aber die Fragen werden trotzdem nicht weniger. Ich würde gerne mal eine Tour entlang des Strunder Bachs machen, von ­Buchheim bis Dellbrück. Da hat die Stadt eine unheim­lich tiefe Ausdehnung. Man kann sich zehn Kilometer bewegen, ohne mitzubekommen, ob man nun in die Stadt hinein- oder aus ihr herausfährt, es gibt kein Zentralitätsgefälle. Du fährst die ganze Zeit durch eine kleinstädtische Struktur, die für eine Kleinstadt aber viel zu ausgedehnt ist. Wenn du ein bisschen geübt bist, auch in Kleinstadtstraßen ­Bilder zu sehen, dann führt das zu einem Flirren, zu einem Delirium. Alles ist sehr alltäglich, aber in dieser extremen Tiefenausdehnung bekommt es irgendwann eine epische Dimension. Diesen Umschlagmoment, wo es plötzlich episch wirkt, würde ich gerne greifen können.

 

Klingt mal wieder nach einer längeren Tour.
Ja, die muss lang sein, keine Frage.