Ich bin dann mal weg

Nach dem Phantasma »Berlin« blickt die junge deutsche Literatur häufiger über den Metropolenrand hinaus – und findet nur dieselbe Provinzialität. Gisa Funck über Randlagen und stille Helden von Hermann bis Mensing

Man kennt solche Reisen und auch solche Ankunftsszenen: Eine junge Frau fährt mit dem Zug nach Würzburg, um dort eine Freundin zu besuchen, mit der sie in Berlin einmal zusammengewohnt hat. Ruth wartet schon auf dem Bahnsteig. »Ruth«, so heißt es in der gleichnamigen Erzählung von Judith Hermann, »trug meinen Koffer, beobachtete mich, war besorgt, dass ich zynisch werden könnte, abfällig, hochmütig gegenüber der Fußgängerzone, dem Tchibo, dem Kaufhaus, dem Marktplatzhotel, dem Ort, an dem sie jetzt lebte für zwei Jahre.« Ruth kennt ihre Freundin noch aus der Zeit um die Jahrtausendwende, als Berlin das Sehnsuchtsziel einer Jugend im Feiertaumel war. Sie weiß noch nicht, dass sich diese Sehnsucht inzwischen verflüchtigt hat – und in der alten Wohnung lediglich ein aufgeklebter »kleiner Zettel« mit der Aufschrift »tonight, tonight is gonna be the night, the night« an die wilden Nächte erinnert.
Ruth ist zu früh aus Berlin weggezogen, um das Ende der Party mitzuerleben, und darum fürchtet sie noch den Spott, den Berliner damals oft für Provinzler übrig hatten. Eine Furcht, die mittlerweile unbegründet ist: »Ich musste lachen«, berichtet Hermanns Ich-Erzählerin nämlich weiter, »ich war weit davon entfernt, zynisch zu werden, ich beneidete sie (Ruth) um diese zwei Jahre in der Kleinstadt, ohne dass ich ihr wirklich hätte sagen können, weshalb. Wir setzten uns in ein italienisches Eiscafé, bestellten Erdbeereis mit Schlagsahne und Kaffee und Wasser, ich zündete mir eine Zigarette an und hielt mein Gesicht in die Spätsommersonne. Ich dachte ›In einer Kleinstadt könnte ich sorgloser sein‹«.
Sorgloser? Das klingt schon einigermaßen verblüffend für die Heldin einer Autorin, die seit ihrem Debüt-Erfolg mit »Sommerhaus, später« als die Chronistin eines jungen Berlins gilt. In ihrem neuen Erzählband aber wirken alle ProtagonistInnen geradezu wie auf der Flucht vor der deutschen Hauptstadt. Rastlos reisen sie quer durch Amerika und durch Europa, nach Oslo, Paris, Venedig, San Francisco, oder an so unspektakuläre Plätze wie Tromsö, Karlsbad und ein Fischerdorf auf Korsika, um, wie in »Aqua Alta«, möglichst weit weg von Berlin zu sein – und den 30. Geburtstag »auf keinen Fall zu Hause oder sogar mit Freunden (zu) verbringen.« Provinz, dieser laut Wörterbuch »rückständige, vom gesellschaftlichen Leben in der Großstadt abseits liegende Bereich«, avanciert bei Hermann stellenweise zum Schutzraum für allzu bedrängte Metropolenbewohner.
Tatsächlich scheint nicht nur Hermann vom Berliner Trubel genug zu haben. Auch Schriftsteller wie Karen Duve, Annette Pehnt oder Gregor Sander suchen in ihren Büchern auffällig die Randlage und bevorzugen stille Helden, die weder ein Leben im Zentrum noch eine Karriere anstreben. Während Duve in »Dies ist kein Liebeslied« allerdings gerade die provinzielle Enge und Engstirnigkeit betont, die das Aufwachsen ihrer Heldin Anne im (fiktiven) Vorort Barnstedt maßgeblich erschweren, ist die Abgeschiedenheit bei Pehnt und Sander – ähnlich wie bei Hermann – selbstgewählt. Pehnts wunderbar eigenwilliger Protagonist Dorst weigert sich in »Ich muß los« standhaft und trotz eines Einserabiturs, sein Heimatstädtchen Freiburg zu verlassen. Sanders Ich-Erzähler hat es zwar immerhin »mit Berlin versucht«. Aber auch er kehrt in der hochgelobten Kurzgeschichte »Ich aber bin hier geboren« nach einem halben Jahr zurück in das Küstenkaff seiner Kindheit. »Die meisten gehen hier wegen der Liebe weg«, rechtfertigt er sich. »Sie hoffen, dass es leichter wird, wenn es größer wird. Ich aber bin hier geboren. Und so merkwürdig das vielleicht klingt, ich habe das alles hier vermisst. Nicht gerade den Beton, sondern eher ein Gefühl, ein Gefühl von Mond über den Deichen, verstehen Sie?«
Pünktlich zur Rezession, so scheint es, ist auch in der jungen, deutschen Literatur ein Ton der Ernüchterung eingekehrt. Nachdem sie, passend zu boomenden Börsenkursen, Ende der 90er Jahre gern vom Glitzerschein der Metropole erzählte, scheint der urbane Traum vom großen Aufbruch geplatzt zu sein. Das Feuilleton jedenfalls hat einen neuen Trend gesichtet. »Vergesst Berlin!«, titelte die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung kürzlich, »Die deutsche Literatur zieht zurück in die Provinz«. Doch was meint »Provinz«, wenn sich das Mantra von Berlin als dem place to be nicht nur als Seifenblase, sondern als regelrechter Etikettenschwindel entpuppt?
Es meint lediglich die Kehrseite derselben Medaille. Das jedenfalls behauptet Kolja Mensing in seiner Abhandlung »Wie komme ich hier raus«, wenn er schreibt: »Der große Erfolg Berlins war in Wirklichkeit nur ein weiterer Sieg der Provinz.« Denn schließlich seien die meisten Vetreter der »Generation Berlin« selbst nur Zugezogene gewesen, wären aus Dörfern und Kleinstädten angereist und hätten der Metropole damit nachhaltig ihren piefigen Stempel aufgedrückt. »Was städtisch aussehen sollte, war bereits typisch provinziell«, urteilt er und fragt sorgenvoll: »Aber wohin soll man gehen, wenn überall Provinz ist?«
Eine Frage, auf die man nicht so leicht eine Antwort findet – angesichts einer Gegenwart, in der dank Internet, Kabelfernsehen und besseren Verkehrsanbindungen die Trennlinien zwischen Zentrum und Peripherie immer mehr zu verschwimmen scheinen. Wo eine Fläche wie das Ruhrgebiet heute bereits als »Rhein-Ruhr-Stadt« bezeichnet wird und umgekehrt großstädtische Viertel wie Berlin-Kreuzberg oder Köln-Ehrenfeld durchaus dörflich wirken, gibt der Ausdruck »Provinz« als geografische Koordinate nicht mehr viel her. Er steht eher für eine Geisteshaltung denn für ein Gebiet, was wie die »Metropole« zuvor reichlich Projektionsfläche bietet – und erklärt, wie aus der angeblich so mondänen »Generation Berlin« so schlagartig die dröge »Generation Golf« werden konnte. Denn genauso wie Szenebücher zuvor den Zielort »Berlin« verklärten, tun »Generationsbücher« das derzeit mit dem Herkunftsort »Provinz«.
Es war wohl nicht zuletzt der akribisch geschilderte Mief einer 80er-Jahre-Jugend im bundesdeutschen Niemandsland, der Bücher wie Frank Goosens »Liegen lernen« und vor allem Florian Illies »Generation Golf« so beliebt gemacht hat. Ihre Leser konnten (und können) sich bei der Lektüre beruhigend einreden, dass sie anscheinend doch nicht die einzigen waren, deren Aufwachsen denkbar öde verlief. Oder wie Florian Illies es selbst einmal in einem WDR-Interview formulierte: »Ich habe dieses Buch in einer radikalen Sicht auf mich geschrieben, auf mein kleines, banales, lächerliches Leben in der oberhessischen Kleinstadt Schlitz mit viertausend Einwohnern, fünf Burgen, einem Freibad und einer Gesamtschule. Darüber habe ich geschrieben, und die Onkels und die Tanten und die Franziskas und die Holgers, die da vorkommen, die gibt es alle wirklich. Dass es nun so geworden ist, dass 500.000 Leser gesagt haben: ›Diese banale, langweilige Kindheit und Jugend ist auch meine gewesen, also, ich kann mich darin wiederfinden‹, das ist etwas, das ich nie erwarten konnte.«
Profane Provinzialität also als identitätsstiftender Kitt für eine ganze Generation: das ist wahrscheinlich keine literarische Heldentat, verkaufte sich aber unter dem Label »Berlin« bestens. Während die einen »Provinz« weiterhin als kleinsten gemeinsamen Nenner ausschlachten (Goosen legte im Frühjahr mit »Prokorny lacht« nach, Illies bringt »Generation Golf II« im August heraus), spürt man bei anderen eine neuerwachte, alte Sehnsucht nach Ereignissen und Plätzen fernab jeder massenkompatiblen Verortung. »Ich dachte daran, wie die beiden hierher gekommen sind«, räsoniert Sanders Erzähler zum Schluss über seine zwei besten Freunde im Dorf, ebenfalls gestrandete Großstädter. »Und wenn sie irgendwann nicht mehr da sein werden, dann wird von ihnen nichts bleiben außer ein paar Geschichten, die sich die Leute im Ort erzählen. Ich mochte die Leichtigkeit dieses Gedankens.«

Judith Hermann: Nichts als Gespenster. S. Fischer Verlag, Frankfurt a.M. 2003, 320 S., 17,90 Euro.
Karen Duve: Dies ist kein Liebeslied. Eichborn Verlag, Frankfurt a.M. 2002, 283 S., 19,90 Euro.
Gregor Sander: Ich aber bin hier geboren. Rowohlt-Verlag, Reinsbek 2002, 139 S., 14,90 Euro.
Annette Pehnt: Ich muß los. Piper-Taschenbuch-Verlag, München 2002, 125 S., 7,90 Euro.
Kolja Mensing: Wie komme ich hier raus? Kiepenheuer&Witsch, Köln 2002, 190 S., 8,90 Euro.
Florian Illies: Generation Golf. Argon, Frankfurt a.M. 2000, 197 S., 9 Euro.
Frank Goosen: Liegen lernen. Eichborn, Frankfurt a.M. 2001, 298 S., 8,95 Euro.
Derselbe: Prokorny lacht. Eichborn, Frankfurt a.M. 2003, 223 S., 19,90 Euro.
BILDBAND: Eva Bertram: Vor der Tür. Städtische Galerie Ravensburg/Schaden Verlag Köln 2003, 29.80 Euro.