Mit allen Wassern gewaschen

Samir Akika gehört zu den eigenwilligsten Choreografen in NRW. Sein Markenzeichen: ein stark vom Kino beeinflusstes Tanztheater. Gesa Pölert porträtiert den gebürtigen Algerier, derzeit »choreographer in residence« am Düsseldorfer Tanzhaus NRW

 

Sie steht auf dem Dreimeterbrett, er auf einem hohen Badehäuschen. Nachthimmel dazwischen und Wasser darunter. Zeit für letzte Worte: »We’re here to break our heart, to love the wrong people, and to die.« Dann springen sie. Ein großer Platsch ins Chlorwasser.
Leidenschaftliche Liebe fürs Kino, fürs Theater, fürs Herz. Samir Akika, seit vergangenem Dezember choreographer in residence am Düsseldorfer Tanzhaus NRW, weiß das Bedürfnis nach Inszenierung und großen Gefühlen so leicht wie ernst zu nehmen. Sein Schwimmbad-Tanztheaterstück »Didjelli«, diesen Sommer wieder in Düsseldorf zu sehen, ist eins der schönsten Beispiele dafür: unterhaltsam und sinnlich, wunderbar versponnen, tragikomisch.
Seit 1996, damals war er noch Student an der Folkwang-Hochschule in Essen, arbeitet Akika mit Stücken wie »Didjelli«, »Blvd. Lafayette« oder »Lilja« an der Erfindung eines trashig-poetischen Kino-Tanztheaters. Mittlerweile haben ihm seine skurrilen Produktionen diverse Preise und bis Ende 2004 auch den festen Platz am Tanzhaus NRW eingebracht. »Die Idee dabei war«, so dessen Programmleiter Stefan Schwarz, »eine kontinuierliche künstlerische Arbeit zu sichern. Und damit nicht nur etwas für Akika zu tun, sondern auch für Stadt und Region.« Akikas Stücke werden mittlerweile in ganz NRW und darüber hinaus aufgeführt. Im Herbst läuft auf arte eine Filmfassung von »Lilja«.
Für »Lilja« bekam der Choreograf 2001 mit seiner neu gegründeten Compagnie »Les
petits poissons« (Die kleinen Fische) auch den ersten Kurt-Jooss-Förderpreis. Der an Pina Bausch verliehene und von ihr an Akika weitergegebene Hansische Goethepreis ermöglicht ihm momentan ein Filmstudium an der Kölner Kunsthochschule für Medien. Zwischen seiner Liebe zum Kino und der zum Tanz will er sich lieber nicht entscheiden. Seine Stücke sind irgendwas dazwischen. Akika plündert Drehbücher und ihre Klischees, überträgt Tricks und Effekte vom Bildschirm auf die Bühne. Livekamera und vorproduzierte Kurzfilme greifen in die Handlung ein, Tänzer bewegen sich wie Figuren aus Cartoons. Es entstehen erstaunlich fabulierte Szenerien, chaotische, vielfarbige Collagen, ein eigenwilliges Bühnenuniversum. Zugänglich, und doch nirgendwo zu fassen – mehr Bild als Sinn.
Samir Akikas Zickzackkurse kommen nicht von ungefähr. So patchwork- und drehbuchartig wie seine Stücke sich geben, klingen auch seine Lebensgeschichten: Geboren in Algerien, aufgewachsen in Frankreich, Highschool-Diplom in Miami. Dann aus Mangel an besseren Ideen ein Physikstudium in Paris. »Das war gar nichts. 200 Studenten. 197 Männer und nur drei Frauen, traurig. Ich saß immer nur mit Sportzeitschriften in der hintersten Reihe und habe die freie Zeit mit Basketball und Kino verbracht, manchmal drei Filme am Tag«. Weil er genauso leidenschaftlich Basketball spielte wie er ins Kino ging, war sein nächstes Studienfach Sport. Kaum an der Sporthochschule, begeisterte er sich für den Tanz. »Wir hatten einen Kurs für zeitgenössischen Tanz, mit zwei wunderbaren Lehrerinnen. Da habe ich das erste Mal auf Video ein Stück von Pina Bausch gesehen, ›Frühlingsopfer‹.« Ploetzlich wusste Akika, was er wollte: Tänzer werden – bei Pina Bausch. »Ich habe alle Kurse besucht, die angeboten wurden, habe die Arbeit der Choreografen verfolgt, die mir gefielen. Aber dann habe ich gemerkt, dass ich als Tänzer zwar das Feeling hatte, aber keine Technik.«
Bei einem Gastspiel des Wuppertaler Tanztheaters gelang es Akika, die Bausch-Tänzerin Malou Airaudu kennen zu lernen. »Ich hatte mich schon im ›Frühlingsopfer‹-Video in sie verliebt«, erzählt er, »und dann all meinen Mut zusammen genommen und am Eingang auf sie gewartet.« Airaudu, heute seine »zweite Mutter«, verhalf ihm 1993 zu einem Studienplatz an der Folkwang-Hochschule in Essen. Vier Jahre Tanzklassen und erste Choreografien. Dann schien sich der Traum zu erfüllen, Akika tanzte in »Frühlingsopfer« mit der Wuppertaler Compagnie. Als Gast allerdings übernommen wurde er nicht. »Ich war überzeugt, für diese Compagnie geboren zu sein. Pina nicht, das ist eben so.«
Dafür war er nach dem Folkwang-Abschluss schnell mit eigenen Stücken erfolgreich. »Geronimo«, entstanden 1999, war die wilde Geschichte einer TV-Show und Akikas erste größere Choreografie – die gleich zur Tanzplattform nach Hamburg eingeladen wurde. »Lilja«, die nächste Produktion, markiert den Beginn der Zusammenarbeit mit dem Tanzhaus NRW und einen ersten viel versprechenden Vorstoß in Richtung seines kinematografisch geprägten Tanztheaters: ein Waschsalon-Märchen, wie aus englischen Filmen, über einen Ort unverhoffter Begegnungen und skurriler Geschichten. Es folgte das Schwimmbad-Stück »Didjelli«, das fabulierfreudige Performance-Szenario im Allwetterbad Flingern. »Didjelli« ist der Ort der Sehnsüchte: Abheben, Süden, Liebe auf Kinoleinwänden, Edward Hoppers nächtliche Bars. Alles zusammen, die Orte, ihre Träume – und die Klischees! –
holt Akika in die weiträumigen Schwimmbadanlagen, zwischen die neonfarbig erleuchteten Becken und dramatisches Scheinwerferlicht. Mittendrin bewegen sich seine Tänzerinnen, wie Nixen, angezogen vom Wasser, weich und biegsam, zur Musik einer Band am Beckenrand. Filmprojektionen und real gespielte Szenen wechseln einander ab, drei oder mehr unterschiedliche Geschichten fließen ineinander. Gleichzeitig pathetisch und humorvoll, gerne auf des Messers Schneide: hin zur Persiflage.
Samir Akikas Sinn für Komik ist eine seiner großen Stärken, auch in seinen jüngsten Stücken. »Boulevard Lafayette« von 2002 inszenierte er als choreografiertes und schräg gefilmtes Liebes- und Ganovenkino, in dem zwei Lesben eine Gangsterbande austricksen. Verdrehte Filmperspektiven kommentieren das Bühnengeschehen, die Geschichte zappt zwischen Doku-Soap, Gangsterfilm und Melodram. Auch »Sharks«, Akikas bislang letzte Arbeit, lebt von Kinovorbildern. Diesmal geht es um Wirtschaftshaie. Um Leistungsgesellschaft, Mobbing, emotionale und moralische Verkommenheit. Doch in der Gesellschaftskritik bleibt Akika etwas blass.
Seinem choreografischen Großraumbüro samt schikanierendem Chef fehlt die spannende Geschichte. Ein wie auch immer geschlungener roter Faden ist kaum auszumachen. Viele Einzelszenen treiben orientierungslos vor sich hin. Joker bleiben aber Akikas komödiantisches Talent und die gekonnten Umsetzungen von Charakteren und Plots in eigenwillige Körpersprachen. Außerdem die acht Darsteller – jeder für sich perfekt ausgewählt und ausgespielt. »Meine Tänzer sind zunächst einmal Freunde«, sagt er. »Man verbringt so viel Zeit zusammen, da ist das sehr wichtig. Wichtig ist auch, dass sie merken: Ich gebe alles. Und dass sie selbst sehr viel geben. Das Maximum.«

Info: www.samirakika.com
»Didjelli«, Regie: Samir Akika, Tanz: Meike Bolz, Isabelle David, Alexandra Morales, Natalia Torales, Samir Akika, Musik/ Komposition: Alexandru Catona, Video: Till Botterweck; Licht: Ansgar Kluge, Koproduktion Les Petits Poissons/ Tanzhaus NRW, 24. – 27.7., 21 Uhr, Allwetterbad Flingern, Flinger Broich 91, Düsseldorf (ab Düsseldorf Hbf. Buslinien 725 und 737, Haltestelle Siedlerweg), Karten: 0221/ 172700 oder www.tanzhaus-nrw.de