Paradise lost

Ist die Krise der Musikindustrie nur ein partikulares Phänomen? Der Allmacht der Kulturindustrie schadet sie offensichtlich nicht.

 

Auf der Rückseite von »Yanqui U.X.O«, des aktuellen Albums des kanadischen Anarcho-Kollektivs Godspeed You Black Emperor!, ist eine Zeichnung zu sehen. Vier der fünf Majorlabels sind dort aufgeführt: AOL Time Warner, BMG, Vivendi Universal und Sony. Penibel sind die Verquickungen und die Joint Ventures der Plattenindustrie mit der US-amerikanischen Militärindustrie eingetragen. Jeder Major ist entweder direkt oder über bloß eine Ecke mit der Produktion von Waffensystemen verlinkt.

Das Rädchen im Getriebe!?

Sehr wahrscheinlich, dass diese Aufschlüsselung der Geschäftsbeziehungen für die Band und ihre Fans eine moralische Funktion einnimmt: Wer eine Platte kauft, die auf Columbia erschienen ist (einem Sublabel von Sony), der unterstützt die amerikanische Militärmaschinerie. Wenn man aber davon ausgeht, dass man letztlich jedem Bewohner der Industrienationen seine aktive und passive Verstrickung in das Elend der Welt vorrechnen kann, bleibt von der Empörung der kanadischen Kommunarden tatsächlich nur Moral übrig. Aufschlussreich ist die Grafik in anderer, viel banalerer Hinsicht. Sie macht deutlich, dass die großen Plattenfirmen, deren wirtschaftlicher Niedergang in allen Medien und ihren Gattungen (Wirtschaftsteil, Feuilleton, Modernes Leben etc.) beschrieben und beklagt wird, nur ein Rädchen im Getriebe sind. Tritt man einen Schritt zurück, dann sind die Verfallserscheinungen der Musikindustrie ein Randphänomen.

... oder vielleicht doch mehr??

Ein Rädchen im Getriebe? Randphänomen? Das darf nicht sein! Jedem Bürger, der im letztem Jahr auch nur ein wenig Zeitung gelesen oder ferngeguckt hat, dürfte die Krise der Plattenindustrie nicht verborgen geblieben sein. Es wird mit spektakulären Waffen gekämpft, erst im April haben die Majors vier amerikanische Studierende auf 98 Milliarden Dollar Schadenersatz verklagt. Der Grund: Sie haben kleine Suchmaschinen entwickelt, mit deren Hilfe man mit der Universität verlinkte Rechner finden konnte, die Musikdateien zum Runterladen anbieten. Thomas Hesse von der Bertelsmann Music Group macht auf die vermeintliche Dringlichkeit der Anklage deutlich, wenn er kundgibt, dass »monatlich weltweit drei Milliarden illegale Kopien im Internet gezogen, aber nur 170 Millionen CDs verkauft« werden. Das alles hört sich gigantisch und dramatisch an. Aber diese Zahlen lassen sich hinterfragen. Etwa wenn man auf Studien hinweist, die belegen, dass Konsumenten, die sich Tracks aus dem Internet ziehen, durchaus gewillt sind, weiterhin die Alben ihrer Stars im Laden zu kaufen. Oder wenn in Frankreich, dem weltweit fünftgrößten Tonträgermarkt, Umsatzsteigerungen zu vermelden sind, obwohl auch Franzosen über die Angebote im Internet informiert sein dürften. Oder wenn Betriebswirte vorrechnen, dass sich durch eine geschicktere Preispolitik (die Einführung von Billig-CDs analog zum Taschenbuch) die Verkaufsrückgänge mindestens teilweise kompensieren ließen.

Let\\\'s face reality!

Aber der Punkt ist nicht, wie groß der Realitätsgehalt der Zahlen ist, sondern dass sie so breit diskutiert werden (und übrigens von den berichtenden Medien kaum in Zweifel gezogen werden).
Wer ist sich denn bewusst, dass er im Falle des Kaufes einer Plastikflasche der Glasindustrie Schaden zufügt? Die Krise der bundesdeutschen Glasindustrie ist ebenfalls dramatisch. Eine Berichterstattung findet
für die breite Masse nicht statt, obwohl sich uns die Entscheidung Plastikflasche oder Grünglas tagtäglich stellt. Der Grund: Krisen sind wir gewohnt, auch dass Gegenstände unserer Lebenswelt durch andere ersetzt werden. Aber eine Krise der Plattenindustrie – das kann und darf irgendwie nicht sein und muss an diabolischen Kräften (Studentennerds!) liegen.

Pop als Content

Pop, der Inhalt massenhaft verkaufter CDs, ist nämlich nicht profan, sondern steht für einen Lebensentwurf, für einen Traum, ist Medium der Selbstvergewisserung ganzer Generationen, kann dissidente Botschaften transportieren und die nächste Rebellion vorbereiten helfen. Pop sagt auf jeden Fall mehr über den Lauf der Welt aus als ein Leitartikel der FAZ. Logisch, dass aus dieser Perspektive der Artists & Repertoire-Manager einer Plattenfirma (der Programmmacher) nie nur ein kalkulierender Geschäftsmann ist, sondern auch Freak, der an »seine« Musik glaubt; logisch, dass der Popstar kein Geschäftsmann ist, sondern immer auch Botschafter, Künstler und tragischer Held.
Aber dieser Überhöhung liegt letztlich ein ökonomisches Erfolgsmodell zugrunde. Bricht dieses weg, schwindet auch die Überhöhung: Michael Jackson ist einfach deshalb uninteressant (bzw. nur noch interessant für den Abgesangsjournalismus), weil er seit Jahren immer weniger verkauft. Strauchelt nicht nur ein Star, sondern eine ganze Branche – und das schon seit drei Jahren! – dann ist die Fassungslosigkeit groß.

Popkomm ... und tschüss

Wie konnte das passieren? Haben sich nicht alle darauf geeinigt, vom Arbeitsamt bis zum akademischen Medienbeobachter, dass Pop ein harter Standortfaktor ist? Stand hierzulande nicht dafür die Popkomm? Eine Messe, auf der schließlich knallharte Geschäfte abgewickelt wurden. Die Konzerte und Partys waren nie mehr als der notwendig-schöne Schein.
Die Popkomm, so erzählen es einem Insider und Branchenkenner in Köln und Berlin, wechsele bald den Standort – sie soll ab 2004 in Berlin stattfinden. Es liegt ja auf der Hand, drei der fünf Majors, die Hauptkunden der Popkomm, haben ihren Deutschlandsitz in Berlin (Sony, Universal, Warner), MTV wird als größter Musiksender auch bald an die Spree ziehen. In Köln bleibt nur die EMI, während Zomba, die Indie-Musik-Dependance der BMG, gerade ihre Büros im Mediapark geschlossen hat. Köln ist die industrielle »Popsubstanz« schlicht verloren gegangen, die Stadt ist finanziell zu schwach, um die Messe, die darüber hinaus immer weniger Standfläche losschlagen kann, halten zu können (und zu wollen?). Politisch kann Köln erst recht nicht gegen Berlin anstinken.
Der Standortwechsel der Popkomm, der zur Zeit (Mitte Juli) noch dementiert wird – Insider gehen davon aus, dass er medienwirksam auf der Messe verkündet wird – verdankt sich einer Schwäche und einer Verzweifelung: der Schwäche der Medien- und Poplobby in NRW, ein Indiz für ihre mangelnde wirtschaftliche Potenz, und der verzweifelten Lage Berlins. Die marode Hauptstadt sieht ihre vielleicht letzte Chance im Ausbau des Dienstleistungssektors und hofft in den Spreebezirken, wo bereits Universal hingezogen ist, mittelfristig ein Medien- und Kreativzentrum aufbauen zu können, das 50.000 neue Arbeitsplätze garantiert. Die Musikabteilung von Sony hat übrigens seit ihrem Umzug von Frankfurt nach Berlin etwa die Hälfte ihrer Mitarbeiter entlassen. Gerüchteweise macht sich Sonys Europazentrale in London Gedanken, ob sie sich überhaupt noch eine Deutschlandzentrale leisten will.

Anmerkung: Mittlerweile ist der Wechsel der Popkomm von Köln nach Berlin amtlich. Drei Tage nach Redaktionsschluss der Printausgabe kam die definitive Nachricht.

Crisis? What Crisis?! (Aber nun, machen Sie mal die Augen auf!!)

Bei der Krise handelt es sich um einen Prozess der Neustrukturierung, der in seinem Ausmaß den Popstandort Köln weit hinter sich lässt. Erinnert sich noch jemand an das Schlagwort aus der Hochzeit der New Economy? Synergieeffekte. Benutzt heute kein Mensch mehr, trotzdem gibt es sie noch. »Deutschland sucht den Superstar« ist so einer. Er hat prächtig funktioniert – als Verschmelzung von Privatfernsehen und Musikindustrie, mit einem radikal neoliberalen, derb-prolligen Medienstar (Dieter Bohlen) vorneweg. Auch »Matrix Reloaded« ist ein Synergieeffekt. Der Film mag abgeschmackt sein und nichts von der Kühnheit seines Vorgängers besitzen. Seine Inszenierung im Stil der fortgeschrittenen Computerspielästhetik ist aber evident – und ökonomisch relevant. Auf die entsprechende Zielgruppe kommt es an. Dagegen ist die im Film zum Einsatz gelangende Musik banaler Goa-Tribal-Trance. Die Musik ist unwichtig, die Synergie aus Kino und Computerspiel geht dagegen auf.

Kreative Zerstörung

Das ist das Entscheidende: die Krise der Musikindustrie stellt sich spektakulär dar, aber sie ist keine Krise der Kulturindustrie jedenfalls keine umfassende. Spätestens mit dem Erfolg von »Star Wars« vor 25 Jahren wurde klar, dass prinzipiell kein Zweig der Kulturindustrie (Film, Musik, Fernsehen, Sport, Spielzeuge etc.) für sich existiert. Kein Star-Wars-Film ohne Star-Wars-Figürchen. Die Erfolgsmarke verdoppelt und verdreifacht sich in den jeweils unterschiedlichen Zweigen. Mittlerweile bringen diese Synergien die Marken hervor: »Deutschland sucht den Superstar« ist zu gleichen Teilen ein Produkt der Musikindustrie und des Privatfernsehens.
Gut möglich also, dass die Musikindustrie als solche einfach überholt ist. Zumindest wird sie auf lange Sicht nicht die alten Erfolgszahlen schreiben und wieder an die ihr zugesprochene kulturelle Bedeutung der letzten 40, 50 Jahre anknüpfen können.

Weitere Texte zur Krise der Musikindustrie und zum Zustand der Musikkritik stehen in der aktuellen StadtRevue.